Die jüngsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 markierten eine Verschärfung des türkischen Nationalismus und des politischen Islam in der Türkei. Gerade in den vergangenen zwei Jahrzehnten, unter der Regierung Recep Tayyip Erdoğans, haben sich nationalistische und autoritäre Grundgedanken, begleitet von neo-osmanischen Fantasien, tief in das soziale Gefüge und die politische Landschaft der Türkei eingeprägt.
Die Ursprünge des türkischen Nationalismus gehen auf das frühe 20. Jahrhundert zurück, kurz vor dem Ende des Osmanischen Reiches. Während dieser Zeit propagierte die jungtürkische Bewegung die Vorstellung eines extremen Nationalismus. Eine bedeutende Figur in dieser Entwicklung war Mustafa Kemal Atatürk, der spätere Gründungsvater der türkischen Republik. Unter seiner Führung wurde die Ideologie des kemalistischen Staatsnationalismus etabliert, der gegenwärtig unter Erdoğan und seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) eine starke Demontage erlebt.
Historische Entwicklungen
In seiner mehr als sechshundert Jahre anhaltenden Geschichte durchlief das Osmanische Reich bedeutende ideologische Veränderungen, die seine Transformation wie seinen Niedergang stark beeinflussten. Während die religiöse Einheit unter dem Dach des Islam hergestellt war, blieb der Turkismus als Grundpfeiler des türkischen Nationalismus lange im Schatten, fand jedoch nach der Jungtürkischen Revolution von 1908 seinen institutionell-politischen Rahmen. Die einst dominierende Ideologie des Osmanismus, die auf einer multiethnischen und -religiösen Identität basierte, verlor mit der Zeit an Bedeutung. Der Niedergang des Osmanischen Reiches läutete eine neue Ära ein und ebnete gleichsam den Weg für die Verbreitung des Turkismus und des türkischen Nationalismus. Dessen Kern bestand zunächst darin, einen zentralisierten türkischen Staat zu gründen, der auf türkische Normen, Werte, Traditionen, Kultur und Erziehung basierte und von Türken dominiert werden sollte.
Unter dem Einfluss turkistischer Ideologien gründeten Mitglieder der jungtürkischen Bewegung 1908 den Türkischen Verein (Türk Derneği) und 1911 den Verein der Türkischen Heimat (Türk Yurdu Derneği), der 1912 in Türkisches Heim (Türk Ocağı) umbenannt wurde.
Der Begriff „Turanismus“ wird dabei in zwei unterschiedlichen Bedeutungen genutzt: Einerseits wird er synonym zu „Panturkismus“
Die „turanistische Romantik“ im Osmanischen Reich wurde zunächst literarisch ausgedrückt, vor allem in Dramen und Gedichten. Doch innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich diese romantische Strömung zu einer führenden Ideologie, die von der jungtürkischen Bewegung übernommen wurde. Vor allem in der jungtürkischen Partei sowie im Komitee für Einheit und Fortschritt setzten sich ab 1908 vermehrt autoritäre, nationalistische und panturkistische Ideologien durch. Als neue herrschende Elite im Osmanischen Reich, die während der Balkankriege (1912/13) eine Niederlage erlitten hatte, suchte sie nach einer Ideologie, die den damaligen nationalen Interessen entsprach – und fand sie in der aggressiv-expansiven Ideologie des Turanismus.
In der Formulierung des Soziologen Eugen Lemberg kann der Turanismus als eine Ausprägung des Integralen Nationalismus betrachtet werden. Diesem geht in der Regel „eine Krise des nationalen Selbstbewusstseins voraus, eine außerordentliche Bedrohung von außen, eine wirkliche Gefahr für die nationale Existenz“.
Im Zuge dessen trat die regierende Partei für Einheit und Fortschritt mit dem Ziel in den Ersten Weltkrieg ein, die im Westen verlorengegangenen Gebiete durch eine Vereinigung aller Türken im „Land Turan“ im Osten zu kompensieren. Die nicht-türkischen Völker in diesem Raum stellten nach Auffassung der Machthaber allerdings ein Hindernis bei der Verwirklichung dieses Plans dar, weshalb sie schon während des Krieges mit der „Ausräumung“, „Ausrottung“ und Türkisierung anderer Völker begannen. So kam es während des Ersten Weltkrieges zum Völkermord an den Armeniern, der unter der Herrschaft der jungtürkischen Bewegung und des Komitees für Einheit und Fortschritt begangen wurde. Die Periode der Massaker und erzwungenen Todesmärsche gegen Armenierinnen und Armenier erstreckte sich hauptsächlich über die Jahre 1915 und 1916. Die geschätzte Opferzahl variiert je nach Quelle zwischen 300000 und über 1,5 Millionen Menschen.
Kulturnationalismus
Einen großen politischen und konzeptionellen Einfluss auf den türkischen Nationalismus übte der Soziologe Ziya Gökalp (1876–1924) aus.
Seine wissenschaftlichen Arbeiten wurden stark beeinflusst von nationalen Bewegungen auf dem Balkan, Studien über Türken und die türkische Sprache und seiner Neigung zu Literaten und Historikern, die Ideen der kulturellen und sprachlichen Verwandtschaft beziehungsweise der Einheit der Turkvölker vertraten. Gökalp koppelte diesen „kulturellen Turkismus“ an die Idee der Einheit der Turkvölker und reicherte dieses Konzept politisch-ideologisch an. Im Rahmen des türkischen Nationsverständnisses wandelte er die unpolitische kulturelle Einheit (Kulturvolk) in eine politische Form (Staatlichkeit) um.
Gökalp verstand die Nation als eine Gemeinschaft von Individuen, die in gleicher Weise erzogen wurden und deren Sprache, Religion, Moral und Ästhetik gemein sind. Weder „Rasse“, „Stamm“, „Geografie“, „Politik“ noch „individuelle Selbstentscheidung“ prägen den Inhalt jenes türkischen Nationalverständnisses. Von zentraler Bedeutung ist die Herausbildung einer Kultur, die einem Individuum von Kindheit an vermittelt wird.
Der Grund für Gökalps Anlehnung an das von Durkheim entwickelte Konzept der Kulturnation liegt in erster Linie an der Enttäuschung über die jahrelang vorherrschende Idee des Osmanismus.
Einen wichtigen Diskurs prägte Gökalp mit seinem 1918 erschienenen Buch „Türkisierung, Islamisierung, Modernisierung“ („Türkleşmek, İslamlaşmak, Muasırlaşmak“). Unter Berücksichtigung nationaler und religiöser Traditionen sowie westlicher Ideen entwickelte er darin eine Synthese zwischen turkistischen, osmanisch-islamischen und westlichen Bewegungen. Er wollte damit die Idee eines „zeitgenössischen islamischen Türkentums“
Kemalistischer Nationalismus
Nach dem Sieg der Türkischen Nationalbewegung im Befreiungskrieg wurde am 29. Oktober 1923 die souveräne Republik Türkei ausgerufen und Mustafa Kemal Atatürk zu ihrem ersten Staatspräsidenten gewählt. „Zu Anfang orientierte sich der kemalistische Staat nicht an irgendeinem ökonomischen, politischen oder ideologischen System. Der Kemalismus entwickelte sich erst mit der Verwirklichung der kemalistischen Reformen, etwa in der Mitte der Ära Atatürk, zu einer eigenen Ideologie."
Atatürks Ziel bestand darin, die Türkei zu einer modernen, säkularen und westlich orientierten Nation zu entwickeln, die auf einer starken nationalen Einheit und Identität basiert. Seinen ideologischen Bezugsrahmen hatte das damals neugegründete Staatswesen in den sogenannten sechs Grundprinzipien, auf denen die späteren Reformen Atatürks beruhten und unter denen sich die Türkei entwickeln sollte: Reformismus, Republikanismus, Etatismus, Laizismus, Populismus und Nationalismus. Populismus bezieht sich, anders als die gegenwärtige Begriffsverwendung, hier auf das Prinzip der Einparteienherrschaft der von Atatürk gegründeten Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP). Dagegen förderte sein Staatsnationalismus sowohl die nationale Unabhängigkeit der Türkei als auch die Vereinigung der darin lebenden Turkvölker. Andererseits wurde damit auch die Existenz von ethnischen Minoritäten wie Kurden oder Armeniern im Lande missachtet.
Damit konnte sich der kemalistische Nationalismus als herrschende türkische Staatsauffassung etablieren. Das grundlegende Ziel Atatürks war die Errichtung eines homogenen Nationalstaates und eines gemeinsamen Nationalbewusstseins, geeint durch eine gefestigte kulturelle und nationale Identität.
Völkischer Nationalismus
Mit seinen radikal völkisch-nationalistischen Ansichten und als Vordenker der extremen Rechten in der Türkei gewann Hüseyin Nihâl Atsız (1905–1975) Anfang der 1930er Jahre ebenfalls Einfluss auf die politischen Bewegungen.
In seiner völkisch-nationalistischen Ideologie betonte Atsız nicht nur die türkische Kultur, sondern auch die türkische „Rasse“. Andere ethnische Gruppen sah er als minderwertig an. Diese Überzeugungen spiegelten sich in seinen Beiträgen und Gedichten wider, die er teilweise in von ihm selbst veröffentlichten Zeitschriften und Romanen publizierte.
Als überzeugter Verfechter der Überlegenheit der türkischen „Rasse“ befürwortete Atsız den Turkismus als Vorstellung einer Überlegenheit des Türkentums über alle anderen Völker. Für seine rassistische Position wurde er 1945 im sogenannten Rassismus- und Turanismusverfahren angeklagt und wich in seiner Verteidigungsrede nicht von seiner Auffassung ab:
„Ich sage es zum Schluss ganz offen: Turkismus ist Nationalismus. Rassismus und Turanismus gehören dazu. Entweder wird das Land sich auf diesen beiden Termini erheben oder untergehen. Rassismus und Turanismus widersprechen nicht der Verfassung. Da ich Rassist und Turanist bin, wird eine mögliche Verurteilung wegen Rassismus und Turanismus die größte Ehre meines Lebens darstellen."
Atsız war zwar parteipolitisch nicht aktiv, wirkte aber in verschiedenen nationalistischen Bewegungen und Vereinen mit. Er pflegte enge Beziehungen zu dem 1997 verstorbenen Führer der Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP), Alparslan Türkeş, mit dem er 1945 im Rahmen des Rassismus- und Turanismusverfahrens angeklagt wurde. Die Beziehungen brachen ab, als Türkeş das islamische Element in der MHP stärker betonte. Zuvor veröffentlichte er 1965 die „Neun-Strahlen-Doktrin“,
Gegenwärtige Formen und Verflechtungen
In der Türkei ist Nationalismus historisch verankert. Seit der Gründung der Republik bildet er als grundlegendes kemalistisches Prinzip eine tragende Säule der Staatspolitik. Daher wird der Nationalismus in der türkischen Öffentlichkeit und unter politischen Eliten bis heute überwiegend positiv gesehen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die gegenwärtigen Formen des Nationalismus in der Türkei in fünf Typen zusammenzufassen.
Kemalistischer Staatsnationalismus
Der kemalistische Nationalismus stützt sich auf den Personenkult um Mustafa Kemal Atatürk und konzipiert den Nationalismus-Begriff im Rahmen der Diskurse um Aufklärung und Laizismus. Daher war der Hauptgegenstand des Atatürk-Nationalismus bislang der Staat, der diesem Konzept verpflichtet ist.
Die gegenwärtigen Entwicklungen zeigen, dass die kemalistischen Grundpfeiler seit der Machtübernahme von Erdoğan und seiner AKP schrittweise demontiert werden. Auch lässt sich eine enge Verflechtung zwischen Staatsnationalismus und dem islamischen Nationalismus beobachten. Gerade das Bündnis mit der rechtsextremistischen MHP führt dazu, dass die AKP in ihrer Rhetorik nationalistischer und auch verstärkt mit dem Konstrukt der Türkisch-islamischen Synthese agiert.
Sozialdemokratischer Nationalismus
Der sozialdemokratische Nationalismus kann als eine Blüte des offiziellen kemalistischen Staatsnationalismus angesehen werden. Der wichtigste Träger dieses Nationalismus-Konzepts ist die Republikanische Volkspartei CHP. Im Gegensatz zu anderen westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien ist die CHP nicht aus der Geschichte der Arbeiterbewegung entstanden, sondern verkörperte seit der Republikgründung die Tradition einer Staatspartei. Bis in die 1990er Jahre bestand ihre soziale Basis aus Militärs, der Staatsbürokratie und der Intelligenz. Erst Anfang der 1970er Jahre erfolgte eine Hinwendung der CHP zu sozialdemokratischem Ideengut. Der türkischen Sozialdemokratie sind gegenwärtig Teile ihrer Anhänger- und Wählerschaft weggebrochen. Grund dafür war insbesondere die Koalition mit konservativ-nationalistischen Parteien Mitte der 1990er Jahre. Doch auch die Unterstützung für die Kriegspolitik in den kurdischen Gebieten und die gegenwärtig feindliche Politik gegenüber Geflüchteten waren dafür mitverantwortlich.
Mit dem 2010 gewählten Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu hat die CHP einen politischen Richtungswechsel eingeschlagen, der elektorale Durchbruch blieb jedoch aus. Im Vorfeld der Wahlen 2018 gründete die CHP zusammen mit der Guten Partei (İyi Parti, İYİ), der Demokratischen Partei (Demokrat Parti), der Partei für Glückseligkeit (Saadet Partisi), der Partei für Demokratie und Fortschritt (Demokrasi ve Atılım Partisi) und der Zukunftspartei (Gelecek Partisi) das Bündnis der Nation (Millet İttifakı). Dieses zeigte sich als Zweckbündnis, das sowohl konservativ-nationale als auch rechtspopulistische und islamistische Parteien miteinbezog. Eine Spaltung erlitt die CHP durch ihren ehemaligen parlamentarischen Fraktionsvorsitzenden Muharrem İnce, der aus der Partei austrat und im Mai 2021 die Gründung der Heimatpartei (Memleket Partisi) bekanntgab. Die Heimatpartei ist der kemalistisch-nationalistischen Linie zuzuordnen und tritt größtenteils mit einer populistischen Rhetorik auf. Unbedeutend im sozialdemokratischen Lager blieb die Demokratische Linkspartei (Demokratik Sol Parti), die zwar von 1997 bis 2002 an der Regierung beteiligt war, aber bei den Parlamentswahlen 2015 unter einem Prozent blieb. Marginal bei den Wahlen blieb auch die links-nationalistische und prorussische Vaterlandspartei (Vatan Partisi). Unter Doğu Perinçek versteht sie sich als eurasische Bewegung, die einen antieuropäischen und antiamerikanischen Kurs verfolgt. Sie besteht als ultrakemalistische Partei besonders aus Angehörigen des Militärs.
Bürgerlich-liberaler Nationalismus
Die bürgerlich-liberale Form des Nationalismus stützt sich auf die großstädtische Mittelklasse, Großunternehmer und die Besitzer von Medienmonopolen. Die Inszenierung und Idealisierung einer modernen, nach westlichem Vorbild entwickelten Lebensweise dominieren den liberalen Nationalismus. Dabei wird der Nationalstolz insbesondere aus der westlichen Lebensweise und der ökonomischen Leistung des Landes geschöpft.
Dieser kulturelle Essenzialismus, der auf der Verherrlichung dieser Lebensweise basiert, mündet in einer stark pro-westlichen Haltung. Die Protagonisten dieses sogenannten bürgerlich-liberalen Nationalismus sehen sich selbst als „Euro-Türken“, ihr Nationalstolz wird auf Verwestlichungsleistungen bezogen. Daher existiert im bürgerlich-liberalen Nationalismus nicht nur ein Klassismus gegenüber aus „unterentwickelten“ und „marginalisierten“ Teilen kommende Menschen, sondern beispielsweise auch ein verdeckter Rassismus gegenüber „unzivilisierten“ Kurden. Mit dem bürgerlich-liberalen Nationalismus hat sich die nationalistische Ideologie zu einem modernen städtischen Ideal entwickelt.
Islamischer Nationalismus
Der türkische Islam und seine unterschiedlichen Bewegungen sind im Kern nicht getrennt vom türkischen Nationalismus zu betrachten. Das Regionalmachtstreben des türkischen Nationalismus fasziniert auch den Islam und seine regionalen Bewegungen. Deren panislamische Losungen fußen auf dem Kernland Türkei, das als hegemoniales Zentrum der islamischen Welt angesehen wird. Die Glorifizierung der osmanischen Zeit, die gegenüber dem Republikanismus beziehungsweise Laizismus und dem geschichtlichen Verlauf des Turkismus hervorgehoben wird, spiegelt auch diese hegemoniale Utopie wider.
Die Mystifizierung der ökonomischen Entwicklung und die Befürwortung einer autarken Nationalökonomie sind Aspekte des Nationalismus der AKP, aber auch der islamistischen SP und der Neuen Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi). Bei den Parlamentswahlen 2018 und 2023 hat sich unter Vorhut der AKP die Volksallianz (Cumhur İttifakı) gebildet, die auch Ergebnis einer engen Koalition mit der rechtsextremen MHP und der nationalistisch-islamistischen Großen Einheitspartei (Büyük Birlik Partisi, BBP) ist.
Im islamischen Nationalismus zeigen sich nicht nur feindliche Positionen gegenüber Armeniern und Kurden, sondern auch antisemitische Haltungen und rassistische Einstellungen gegenüber nicht-muslimischen Minoritäten wie Aleviten, Aramäer, Christen oder Jesiden.
Radikal turkistischer und rechter Nationalismus
Der radikal turkistische und rechte Nationalismus hat in den vergangenen Jahren an Dynamik gewonnen. Dieser Typus stützt sich auf die historische rassistisch-panturkistische Ideologie und ist Sprössling des offiziellen Nationalismus in seiner radikal turkistischen und rechtsextremen Variante.
Diaspora-Nationalismus
Nachdem die AKP in den 2000er Jahren als Wahlsiegerin hervorgegangen war, begann sie unter Führung von Ahmet Davutoğlu, von 2014 bis 2016 AKP-Vorsitzender und Ministerpräsident der Türkei, mit der Umsetzung eines aktiven Konzepts der türkischen „Diaspora-Politik“, das sich vor allem auf Deutschland und Westeuropa konzentrierte. Dieses Konzept baute auf Soft-Power-Strategien auf und verfolgte eine neue außenpolitische Vorgehensweise. AKP und MHP nutzten dabei gezielt ihre parlamentarische Mehrheit, um das Wahlgesetz zu ändern, um sogenannten Auslandstürk*innen zum ersten Mal die Möglichkeit zu geben, über die türkische Politik mitzuentscheiden, ohne dafür in die Türkei reisen zu müssen.
Die Wahlergebnisse von 2018 und 2023 haben gezeigt, dass die Mehrheit der türkeistämmigen Wähler*innen in Deutschland für Erdoğan und das Wahlbündnis von AKP und MHP gestimmt haben. Dabei erhielten Erdoğan und seine Volksallianz insgesamt 64,6 Prozent der Stimmen.
Neben den AKP-nahen Strukturen, wie der Union Internationaler Demokraten und Moscheegemeinden wie DİTİB oder die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş, ist auch der Einfluss rechtsextremer türkischer Organisationen seit den 2000er Jahren stärker geworden. Mehr als 300 Vereine und Gemeinden sind bundesweit im Umfeld rechtsextremer und ultranationalistischer Dachverbände entstanden, die als Selbsthilfeorganisationen, Moscheegemeinden, Eltern- und Kulturvereine sowie Jugendorganisationen Einfluss auf das soziale Leben von Menschen mit Türkeibezug nehmen. In diesem Lager haben sich mit der Zeit rechtsextreme Dachverbände wie die Türk Federasyon, die Türkisch-Islamische Union Europa und die Europäisch-Türkische Union herausgebildet, die gegenwärtig in Deutschland etwa 18500 Mitglieder zählen.
Fasst man diese Entwicklungen zusammen, wird deutlich, dass innerhalb der Migrationsgesellschaft ein Diaspora-Nationalismus herangewachsen ist. Dieses Phänomen geht auf vielfältige auslösende Faktoren zurück und stellt somit eine Herausforderung für die politische Bildung und ihre Institutionen dar.
Zum 100. Jahrestag der Republikgründung ist es wichtig, die Komplexität des türkischen Nationalismus und seiner unterschiedlichen Formen zu begreifen und dabei einen kritischen Blick zu bewahren. Eng geknüpft an neo-osmanische und islamische Handlungsformen gewinnen nationalistische Ideen ein immer stärkeres Gewicht in der türkischen Gesellschaft. Bewertung und Umgang dieser Entwicklung erfordern weitere Analysen darüber, mit welchen Narrativen und Konstruktionen der türkische Nationalismus präsentiert wird und welchen Einfluss er auf die Gesellschaft, die Politik und die internationalen Beziehungen hat.