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Türkeiwahlen 2023 transnational | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial 100 Jahre Republik Türkei. Demokratie mit Höhen und Tiefen Türkeiwahlen 2023 transnational. Ein Blick auf die Türkei und Deutschland Dynamiken des türkischen Nationalismus Die Außenpolitik der „neuen Türkei“. Zwischen hegemonialem Anspruch und Anpassungsdruck Verfassungspolitik „türkischer Art“. Verfassungsänderungen als Mittel des Machtgewinns und Machterhalts in der Türkei Zur Geschichte der türkischen Frauenbewegung Schwieriger Geburtstag. Hundert Jahre nach ihrer Gründung ist die Türkei ein gespaltenes Land - Essay Karte der Türkei

Türkeiwahlen 2023 transnational Ein Blick auf die Türkei und Deutschland

Seçkin Söylemez

/ 18 Minuten zu lesen

Während Erdoğan und sein Parteienbündnis die Wahlen 2023 für sich gewonnen haben, zeigt sich eine Polarisierung der türkischen Wählerschaft. Die Auslandswahl in Deutschland unterliegt dabei einer besonderen Dynamik zwischen AKP-Treue und Desinteresse.

Spätestens als Recep Tayyip Erdoğan am Abend des 28. Mai den Balkon der AKP-Parteizentrale in Ankara betritt, steht fest, dass er für weitere fünf Jahre das Amt des Staatspräsidenten bekleiden wird. Seine anschließende Siegesrede vor einer jubelnden Menschenmenge unterscheidet sich jedoch stark von den Ansprachen der Vorjahre. Denn auch Erdoğan weiß in diesem Moment, dass seinem Wahlerfolg ein fader Beigeschmack anhaftet.

Während seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) bei den Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 mit 35,6 Prozent das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren hatte, musste sich Erdoğan selbst einer Stichwahl stellen, die er mit 52,2 Prozent der Stimmen nur knapp für sich entscheiden konnte. Nach nunmehr 21 Jahren in der Regierungsverantwortung bedeutete dieses Ergebnis – trotz des schlussendlichen Wahlsieges der AKP-geführten Volksallianz bei den Parlamentswahlen mit 49,5 Prozent –, dass Erdoğan und seine Partei nicht mehr ohne Weiteres in der Lage sind, absolute Mehrheiten zu erreichen. Während der designierte Staatschef nach dem Vortrag eines Gedichts des türkischen Poeten Nihat Asya mit den Worten „Oh Gott, lass mein Land, das vom Islam durchdrungen ist, nicht ohne Muslime“ unter Sprechchören die Bühne verließ, steuert die Türkei einer ungewissen Zukunft entgegen. Denn die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 2023 – mit einer Wahlbeteiligung von 87,1 Prozent im ersten und 84,2 Prozent im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl – zeugen nicht nur von empfindlichen Verlusten für die islamisch-konservative AKP, sondern auch von einer starken Polarisierung der türkischen Gesellschaft. So lässt sich rückblickend festhalten, dass es weit weniger situative politische Inhalte gewesen sind, die den Ausgang der Wahlen bestimmten, als vielmehr die Logik einer Konfrontation zweier weltanschaulicher Lager, die die Gesellschaft der Türkei weiterhin entzweit.

Doch auch außerhalb der Türkei polarisieren die Wahlen, denn seit einer Wahlrechtsreform 2012 besteht auch für Staatsbürger mit Wohnsitz im Ausland die Möglichkeit der Stimmabgabe. Laut der Hohen Wahlkommission (Yüksek Seçim Kurulu) beläuft sich die Zahl der exterritorial Stimmberechtigten auf 3,4 Millionen, was 5,3 Prozent der Gesamtwählerschaft entspricht. Die Bundesrepublik Deutschland stellt dabei mit knapp über 1,5 Millionen Wahlberechtigten den größten Auslandswahlkreis der Türkei dar. In der deutschen Debatte geht es in diesem Zusammenhang vor allem um die öffentliche Problematisierung des Wahlverhaltens der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen. Ausschlaggebend sind dabei die bisherigen Wahlergebnisse, die durchweg klare Mehrheiten für den amtierenden Präsidenten und seine Partei demonstrieren. Beispielsweise stimmten 2017 im Rahmen des Verfassungsreferendums 63,1 Prozent der Wähler in Deutschland für die Einführung des Präsidialsystems, während es in der Türkei nur 51,4 Prozent waren. So kritisiert nicht nur die türkische Opposition, dass die AKP ihre Kontrolle über institutionelle Strukturen wie das Amt für Auslandstürken und den Moscheeverband DİTİB dazu nutzt, die Wählerschaft in Deutschland gezielt für sich zu vereinnahmen. Auch seitens der deutschen Innenpolitik stellt sich die Frage, inwiefern das Wahlverhalten von Teilen der türkeistämmigen Community als Zeichen einer politischen Außendurchdringung seitens Ankaras oder wachsender Desintegration gedeutet werden kann. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus Deutschland, in denen sich mit 63,2 Prozent erneut eine überdurchschnittlich hohe Unterstützung für die AKP und mit 65,5 Prozent im ersten Wahlgang und 67,2 Prozent in der Stichwahl für Präsident Erdoğan zeigte, wird im Folgenden das Wahlverhalten in der Türkei und Deutschland rund um die jüngsten türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen analysiert.

Bündnisbildung und Wahlkampfnarrative

Bereits seit seiner Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul von 1994 bis 1998 zeichnet sich Erdoğan in seiner politischen Außenkommunikation immer wieder durch einen Hang zu historischen Querverweisen aus. Als der Präsident am 23. Januar 2023 die Vorziehung der für den 28. Juni angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf den 14. Mai ankündigte, kann auch dieser Schritt im Sinne einer historisch rekursiven Logik verstanden werden. So markiert der 14. Mai 1950 mit den ersten freien Wahlen in der Geschichte der türkischen Republik vor allem den Sieg der Demokratischen Partei (Demokrat Parti) unter Adnan Menderes und das Ende der bis dahin geltenden kemalistischen Ein-Parteien-Herrschaft. Mit dieser strategischen Setzung entstand zu Beginn des Wahlkampfs 2023, parallel zum Narrativ des hundertjährigen Jubiläums der Staatsgründung unter Mustafa Kemal Atatürk 1923, eine konservative Gegenerzählung um die Absetzung der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP).

Volksallianz

Aus Sicht der AKP ging es im Vorfeld der Wahlen vor allem darum, ein mögliches Abwandern der konservativen Stammwählerschaft zur Opposition zu verhindern. In diesem Sinne begann auch die Bündnissuche der Regierungspartei zunächst im islamisch-konservativen Parteienspektrum. Das seit Februar 2018 von der AKP geführte Wahlbündnis Volksallianz (Cumhur İttifakı), bestehend aus der ultranationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) und der Partei der Großen Einheit (Büyük Birlik Partisi), konnte zunächst die Neue Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi, YRP) für sich gewinnen. Die Bündnispolitik der AKP ging mit der Zusicherung eigener Listenplätze an die potenziellen Unterstützerparteien einher. Auch wenn die Sperrklausel bereits 2022 – auf Drängen der MHP – von 10 auf 7 Prozent herabgesetzt wurde, garantierte die AKP ihren Partnern so einen sicheren Einzug in die Nationalversammlung. Eine ähnliche Taktik verfolgte die AKP im März, als sie Mitgliedern der Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi, Hüda Par) Abgeordnetenplätze zusagte. Obwohl Hüda Par als politischer Ableger der verbotenen kurdischen Hizbullah gilt und die Kooperation zunächst Missmut in Teilen der MHP hervorgerufen hatte, konnten interne Streitigkeiten durch die Präsidentschaftskandidatur Erdoğans überdeckt werden. Folgerichtig war der Wahlkampf der Volksallianz in vielerlei Hinsicht auf die Person des amtierenden Staatspräsidenten zugeschnitten, welcher sich als Garant innen- und außenpolitischer Stabilität präsentierte. Im Bewusstsein darüber, dass eben jene Stabilität ins Wanken geraten war, konzentrierten sich die öffentlichen Auftritte Erdoğans hauptsächlich auf die Verunglimpfung der Opposition. Seinen Einfluss auf die Medienlandschaft nutzend, setzte der Präsident dabei zum Beispiel auf eine Gleichsetzung der HDP-Nachfolgepartei Grüne Linke Partei (Yeşil Sol Parti, YSP) mit der kurdisch-separatistischen PKK und auf die Darstellung der CHP als Marionette türkeifeindlicher Außenmächte.

Bündnis der Nation

Dem gegenüber stand das ebenfalls seit 2018 existierende Bündnis der Nation (Millet İttifakı), das neben der CHP auch die Demokratische Partei (Demokrat Parti), die MHP-Abspaltung Gute Partei (İyi Parti, İYİ) und die islamisch-konservative Partei der Glückseligkeit (Saadet Partisi) vereint. Im Februar 2022 bildete sich mit dem sogenannten Tisch der Sechs (Altılı Masa) eine Erweiterung des Bündnisses um die Partei für Demokratie und Fortschritt (Demokrasi ve Atılım Partisi) unter dem ehemaligen AKP-Minister Ali Babacan und die Zukunftspartei (Gelecek Partisi) unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten und AKP-Vorsitzenden Ahmet Davutoğlu. Die Zusammenarbeit mit ehemaligen AKP-Akteuren wurde im linken Flügel der CHP zwar offen kritisiert, konnte aber von der Parteiführung um Kemal Kılıçdaroğlu durchgesetzt werden. Dessen Präsidentschaftskandidatur hingegen führte Anfang März 2023 fast zum Zerfall des Bündnisses, nachdem sich die İYİ-Vorsitzende Meral Akşener gegen Kılıçdaroğlu ausgesprochen hatte. Die Krise konnte wenige Tage später nach Zugeständnissen hinsichtlich der Vergabe von Vizepräsidentenposten im Falle eines Wahlsiegs beigelegt werden. Obwohl die finale Zusammenstellung des Oppositionsbündnisses darauf abzielte, CHP-ferne Wählerschichten anzusprechen, zeichnete sich ihre Kampagnenführung zunächst durch einen klaren links-republikanischen Einschlag aus. Hierbei ging es in erster Linie um Themen wie Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit unter der AKP und die verheerenden Folgen der von ihr praktizierten Vetternwirtschaft für die heimische Ökonomie. Ein Novum stellte dabei Kılıçdaroğlus Social-Media-Strategie dar: In Kurzvideos sprach der Oppositionskandidat verschiedene Alltagsthemen an, darunter auch seinen eigenen alevitischen Hintergrund. Das Video generierte binnen kürzester Zeit Aufrufe in Millionenhöhe.

Bündnis für Arbeit und Freiheit

Unterstützt wurde die Kandidatur Kılıçdaroğlus vom Bündnis für Arbeit und Freiheit (Emek ve Özgürlük İttifakı). Ursprünglich von der Demokratischen Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) initiiert, übernahm aufgrund eines seit 2021 laufenden Verbotsverfahrens die YSP die Führung. Neben kleineren Mitgliedern wie der Partei der Arbeit (Emek Partisi), der Demokratischen Partei der Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi), der Partei der Arbeiterbewegung (Emekçi Hareket Partisi), der Bürgerlichen Freiheitspartei (Toplumsal Özgürlük Partisi) und der Föderation Sozialistischer Versammlungen (Sosyalist Meclisler Federasyonu) war die sozialistische Arbeiterpartei der Türkei (Türkiye İşçi Partisi, TİP) dabei das wohl wichtigste Standbein des Linksbündnisses in den westlichen Metropolregionen.

Ahnenbündnis

Im klaren Kontrast dazu stand das rechtsnationale Ahnenbündnis (Ata İttifakı) unter der Führung des Ex-MHP- und İYİ-Abgeordneten Ümit Özdağ. Neben seiner Partei des Sieges (Zafer Partisi) gehörten dem Bündnis die Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi), die Heimatpartei (Ülkem Partisi) und die Türkei-Bündnis-Partei (Türkiye İttifakı Partisi) an. Obwohl der Zusammenschluss über keine gefestigten Wählerstrukturen verfügte, konnte das Bündnis mit einer populistisch-flüchtlingsfeindlichen Kampagne großen Einfluss auf das spätere Wahlkampfgeschehen erlangen. So verpasste das Ahnenbündnis zwar den Einzug ins Parlament, sein Präsidentschaftskandidat Zafer Oğan wurde jedoch zum „Königsmacher“ in der anschließenden Stichwahl, indem er seiner Wählerschaft eine Wahlempfehlung für einen der verbliebenen Kandidaten aussprach – letztlich für Erdoğan.

Den vierten Präsidentschaftskandidaten stellte mit Muharrem İnce die von ihm gegründete Heimatpartei (Memleket Partisi). Als CHP-Präsidentschaftskandidat von 2018 startete er nach seinem Bruch mit Kılıçdaroğlu als Einzelkämpfer, zog seine Kandidatur jedoch drei Tage vor der Wahl zurück.

Inlandswahlen: Knapper Sieg in zwei Akten

Parlamentswahlen

Bereits mit den ersten Hochrechnungen vom 14. Mai 2023 zeichnete sich ab, dass sich die Volksallianz die Parlamentsmehrheit sichern würde. Insgesamt erreichte sie 49,5 Prozent der Stimmen, was einen leichten Rückgang im Vergleich zu ihrem Ergebnis von 2018 mit 53,7 Prozent bedeutete. Obwohl die AKP mit 35,6 Prozent erneut als stärkste Partei aus den Wahlen hervorging, gelang es ihr lediglich, 268 Abgeordnetensitze zu sichern, von denen neun an Hüdar Par und YRP gingen. Damit erzielte die AKP ihr schlechtestes Ergebnis seit ihrer Antrittswahl 2002, als es ihr noch wegen des Scheiterns aller anderen angetretenen Parteien an der damals gültigen Sperrklausel von 10 Prozent – mit Ausnahme der CHP – gelang, mit einem Ergebnis von 34,3 Prozent 363 Abgeordnete nach Ankara zu schicken und sich so beinahe eine Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung zu sichern. Die MHP verzeichnete bei der Mai-Wahl nur einen leichten Rückgang auf 10,1 Prozent, was den Verlust eines Parlamentssitzes zur Folge hatte. Die Auswertung der Ergebnisse zeigt, dass die AKP vor allem in westlichen Metropolregionen wie Antalya, Bursa, Izmir und Konya erhebliche Verluste hinnehmen musste. Gleiches gilt für konservativ-national geprägte Städte entlang der Schwarzmeerküste. Trotz eines leichten Rückgangs von knapp 4 Prozentpunkten für die Volksallianz blieb aber ein Großteil der Stammwählerschaft dem AKP-Bündnis treu.

Das Bündnis der Nation konnte mit 35 Prozent einen knappen Anstieg um etwa einen Prozentpunkt verzeichnen. Dieser Zuwachs war hauptsächlich der CHP zu verdanken, die erneut als stärkste Kraft in den Küstenregionen des Westens herausstach. Die İYİ kam unter minimalen Verlusten auf 9,7 Prozent der Stimmen. Die Parteien der ehemaligen AKP-Minister, die Partei für Demokratie und Fortschritt und die Zukunftspartei, schafften es somit aber nicht, AKP-Stammwähler abzuwerben. Laut dem Politologen Kerem Öktem liegt es nahe, dass die weltanschauliche Distanz der AKP-Wähler zur CHP die Unterstützung konservativer Parteien innerhalb des Wahlbündnisses verhindert hat. Bemerkenswert ist, dass die CHP, nach ihrem Sieg bei den Kommunalwahlen 2019 in Ankara und Istanbul, bei den Wahlen 2023 in beiden Städten der AKP unterlag. In Istanbul gelang es der AKP sogar, einen Vorsprung von 8 Prozentpunkten gegenüber der Partei des amtierenden Oberbürgermeisters aufzubauen.

Als dritte Allianz zog das linke Bündnis für Arbeit und Freiheit mit 10,6 Prozent ins Parlament ein. Die YSP erreichte dabei 8,8 Prozent, was einen Verlust von 2,9 Prozentpunkten gegenüber dem vorangegangenen HDP-Ergebnis bedeutet. Der Bündnispartner TİP konnte jedoch mit 1,7 Prozent einen Teil dieser Stimmen auffangen. Obwohl der wichtigste Wählerpool des Bündnisses weiterhin die mehrheitlich kurdisch bevölkerten ostanatolischen Provinzen bleiben, zeigte sich im Westen, dass im geringen Umfang Stimmen zur CHP abwanderten.

In Bezug auf die Parlamentswahlen lässt sich damit Ähnliches konstatieren wie vor vier Jahren: Die Volatilität der Wähler blieb auf einem kaum beachtenswerten Niveau, sodass von einem bündnisübergreifenden Wählerverhalten nicht die Rede sein kann. Die 2,4 Prozent des ultranationalistischen Ahnenbündnisses zeigen derweil, dass die Position Özdağs – zumindest im Kontext der Parlamentswahlen – keine Alternative zu den großen Parteienbündnissen darstellte. Laut einer Analyse des Meinungsforschungsunternehmens Konda zeichnen die Wahlergebnisse somit erneut ein polarisiertes Bild der Türkei. In Städten mit dem höchsten sozioökonomischen Entwicklungsstand ist demnach die Neigung zum Bündnis der Nation stärker, während mit dem Absinken dieses Niveaus Stimmen für die Volksallianz zunehmen. Die Wahlergebnisse zeigen, dass das bereits in den 1970er Jahren durch den Soziologen Şerif Mardin beschriebene Zentrum-Peripherie-Gefälle zwischen städtischen und ländlichen Bevölkerungsteilen in der Türkei weiterhin wirkmächtig bleibt.

Präsidentschaftswahlen

Dieses Gefälle spiegelt sich auch im Kontext der Präsidentschaftswahlen wider, bei denen der rechtsnationale Kandidat Oğan mit einem Ergebnis von 5,2 Prozent die zweite Wahlkampfphase einläutete. Obwohl Erdoğan in der Endauszählung einen Stimmenanteil von 49,5 Prozent erreichte, musste er in Städten wie Istanbul mit 46,7 Prozent und Ankara mit 46 Prozent sensible Verluste hinnehmen. Der Handlungslogik folgend, dass die Zustimmung für Oğan in den Großstädten auf die dortige Sichtbarkeit von Geflüchteten zurückzuführen sei und es in der Stichwahl vor allem um die Gunst nationalistisch gesinnter Wähler gehe, wurde die zweite Wahlkampfphase durch den Umgang der Kandidaten mit der Migrationsfrage dominiert. Dieses Gelegenheitsfenster nutzend, folgte in den Tagen vor der Stichwahl ein reger Verhandlungsaustausch, bei dem Özdağ und Oğan eine unterschiedliche Strategie fuhren: So sprach sich Oğan am 22. Mai für die Wiederwahl Erdoğans aus, während Özdağ auf einer Pressekonferenz Kılıçdaroğlu die Unterstützung zusicherte.

Letztendlich gewann Kılıçdaroğlu in der Stichwahl am 28. Mai lediglich 2,9 Prozentpunkte hinzu. Erdoğan konnte mit 52,2 Prozent aller Wahlstimmen somit zum dritten Mal in Folge die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden. Die Ergebnisse verdeutlichen nicht nur, dass sich der Rückgang der Wahlbeteiligung vom ersten zum zweiten Wahlgang von rund 87 Prozent auf 84,2 Prozent zuungunsten des Oppositionskandidaten auswirkte, sondern auch, dass dessen Rechtsruck im Vorfeld der Stichwahl kurdische Wählergruppen verunsichert zu haben schien, was sich in Stimmenverlusten in den südöstlichen Provinzen widerspiegelte. Erdoğan konnte wiederum bei seiner Stammwählerschaft deutliche Mehrheiten erzielen – zum Beispiel in der Schwarzmeerregion mit 65 Prozent. Höhere Ergebnisse erreichte der Präsident lediglich in Auslandswahlkreisen, wo sich beispielsweise in Deutschland zwei Drittel der Wähler für Erdoğan aussprachen.

Auslandswahlen: Zwischen Regierungstreue und Desinteresse

Wie auch in den Jahren zuvor erwies sich Deutschland beim jüngsten Wahlgang als eine Hochburg Erdoğans und der AKP. Dabei unterschied sich die Kampagnenführung der Regierungspartei grundlegend von ihren Aktivitäten der Vorjahre. Ein zentraler Einschnitt ist dabei die seit dem 30. Juni 2017 geltende Richtlinie des Auswärtigen Amtes, nach der Wahlkampfveranstaltungen mit Beteiligung ausländischer Amtsträger nicht nur einer Genehmigungspflicht unterliegen, sondern grundsätzlich weniger als drei Monate vor dem Abstimmungstermin verboten sind. Während vor dem Verfassungsreferendum von 2017 noch mindestens 13 türkische Minister Deutschlandbesuche zu „ausschließlich oder teilweise nicht offiziellen Zwecken“ unternahmen und Ankara 2018 auf eine Aufhebung des Wahlkampfverbotes drängte, verzichtete die AKP zuletzt auf einen personellen Auslandswahlkampf. Stattdessen stützt sie sich verstärkt auf ihren ab 2008 etablierten Diaspora-Diskurs.

Ähnlich wie in der Türkei folgt die Regierung dabei einem national-religiösen Identitätsverständnis und konstruiert die türkeistämmige Community in Deutschland als „Geschwister“ im Ausland, die trotz politischer Schikanen und rassistischer Angriffe standhaft an ihrer nationalen und religiösen Herkunftsidentität festhalten. Erdoğan selbst stilisiert sich dabei zum Hüter dieses Identitätsbildes und wichtigen Vertreter der Diaspora. In konservativen Kreisen der türkeistämmigen Community, vor allem bei jenen mit Wurzeln in den türkischen AKP-Hochburgen, fand diese – wenn auch nur verbale – Wertschätzungspolitik deutlichen Anklang und kann als Nährboden späterer Wahlerfolge angesehen werden. Für die Opposition ist Deutschland damit von Anfang an ein schwieriges Terrain gewesen. Als am 27. April die Stimmabgabe begann, zeigte sich, dass sie auch hinsichtlich der Wählermobilisierung weit hinter der Volksallianz lag. So organisierten zum Beispiel AKP-nahe Akteure – meist in Kooperation mit lokalen Moscheevereinen – kostenlose Shuttle-Services zu Wahllokalen.

Kurz nach dem Ende der Stimmabgabe am 9. Mai zeigte sich, dass die Wahlbeteiligung in Deutschland mit 48,7 Prozent zwar im Vergleich zu 2018 mit 44,6 Prozent zugenommen hatte, jedoch weiterhin unter der 50-Prozent-Marke geblieben war. Die AKP erhielt 50,5 Prozent der Stimmen. Dies bedeutet zwar eine Einbuße von 5 Prozentpunkten gegenüber 2018, die Volksallianz konnte dies jedoch durch das Ergebnis der YRP mit ihren 1,2 Prozent sowie das der MHP ausgleichen, die ihren Stimmenanteil von 8,4 auf 12,6 Prozent steigerte. Somit verblieben, wie auch in der Türkei, nahezu alle AKP-Verluste innerhalb des eigenen Bündnisses.

Den verhältnismäßig größten Stimmenrückgang erlebte die YSP, die von ihren 14,8 Prozent 2018 auf 8,7 Prozent abstürzte. Teilweise wanderten diese Stimmen zur CHP ab, welche ihren Stimmenanteil von 15,6 Prozent 2018 auf 19,2 Prozent steigern konnte. Die übrigen Parteien verblieben dabei durchweg unter 5 Prozent. Das Wählerpotenzial der Volksallianz von 65 Prozent spiegelte sich derweil deckungsgleich im Stimmanteil Erdoğans im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl. Somit votierten knapp 475000 Personen in Deutschland für eine dritte Amtszeit des Präsidenten. Kılıçdaroğlu erreichte derweil 32,5 Prozent, wobei sich Oğans Stimmenanteil knapp über einem Prozent bewegte.

Noch am Abend des Bekanntwerdens der Endergebnisse des ersten Wahlgangs verbreiteten sich in verschiedenen deutsch-türkischen Social-Media-Kanälen Aufrufe zur Mobilisierung für die Stichwahl zugunsten Erdoğans. Diese schnelle Reaktion ist ein Beweis dafür, dass die primär auf freiwilliger Mitarbeit basierenden Auslandsstrukturen der AKP eine hohe politische Handlungsbereitschaft zeigen. Am 20. Mai, als die Wahllokale in Deutschland für die Stichwahl öffneten, berichtete unter anderem der türkische Staatssender TRT von einem Rekordanstieg der Wahlbeteiligung. Bewahrheiten konnte sich diese Einschätzung nicht, denn mit dem Ende der Auslandsstimmabgabe am 24. Mai zeigte sich nur ein leichter Anstieg der Wahlbeteiligung auf 50 Prozent.

Im zweiten Wahlgang konnte Erdoğan seinen Stimmanteil in Deutschland auf 67,2 Prozent steigern, während sein Gegenkandidat Kılıçdaroğlu mit 32,8 Prozent nahezu stagnierte. Die im Vergleich zur Türkei überproportional hohen Ergebnisse für Erdoğan sind derweil Ausgangspunkt einer Re-Intensivierung der innenpolitischen Debatten um die türkischen Auslandswahlen in Deutschland.

Auslandswahlen und deutsche Integrationsdebatte

Ausgehend von einem „Unverständnis“ gegenüber dem Mehrheitswahlverhalten der türkeistämmigen Community beziehungsweise der Frage, wie Personen aus einem freiheitlich-demokratischen Kontext heraus für ein zunehmend autoritäres Regime votieren können, entfaltete sich spätestens ab dem 14. Mai ein umfassender Diskurs um die türkischen Auslandswahlen. Während die Kritik an den politischen Entwicklungen in der Türkei, wie zum Beispiel an der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und der regelrechten Demontage der Rechtsstaatlichkeit, durchaus berechtigt sind, fußen die aus den Wahlergebnissen gezogenen integrationspolitischen Schlussfolgerungen zumeist auf entkontextualisierten und pauschalisierenden Interpretationslogiken.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Konstruktion einer herkunftsorientierten Kollektivität unter den Türkeistämmigen in Deutschland im Widerspruch zur bisherigen Wahlbeteiligung steht. Diese lag in Deutschland stets unter der 50-Prozent-Marke, angefangen bei den Präsidentschaftswahlen von 2014 mit 8,2 Prozent über die Parlamentswahlen im Juni 2015 mit 34,4 Prozent und die anschließenden Neuwahlen im November mit 40,7 Prozent bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von 2018 mit 45,2 Prozent. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur die Hälfte der knapp drei Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit familiären Wurzeln in der Türkei auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzen und somit stimmberechtigt sind. Insofern repräsentieren die Wahlergebnisse lediglich die politische Neigung eines Viertels der gesamten türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland. Von diesen wiederum stimmten zuletzt gerade einmal 65 Prozent für Erdoğan beziehungsweise die aktuelle Regierungskonstellation.

Verkürzt erscheint in diesem Kontext auch die Deutung, dass besonders viele junge Menschen in Deutschland in besonderer Weise mit Erdoğan sympathisieren. Zumindest auf Basis der Auslandswahlergebnisse lässt sich eine solche Annahme nur schwer bestätigen. So zeigt eine Anfrage der CHP an die Hohe Wahlkommission vom April 2023, dass die Anzahl der in Deutschland geborenen Wähler mit 209394 nur einen geringen Anteil der hiesigen Gesamtwählerschaft ausmacht. Faktisch besitzen damit über 85 Prozent der 1,5 Millionen türkeistämmigen registrierten Wähler in Deutschland eine unmittelbare Migrationserfahrung, wodurch sie, je nach Kontext, der ersten oder zweiten Migrationsgeneration zugerechnet werden können.

Eine dritte Misskonzeption besteht in der weit verbreiteten Darstellung, dass eine Stimmabgabe für Erdoğan mit einer grundsätzlichen Ablehnung politischer Strukturen der deutschen Aufnahmegesellschaft einhergeht. Vielmehr zeigen die jüngsten Ergebnisse der Mehrthemenbefragung zur Integration und Partizipation türkeistämmiger Zugewanderter in Nordrhein-Westfalen des Essener Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung, dass die Interessensvertretungsfunktion deutscher Institutionen jener der türkischen Regierung in nichts nachsteht. Die Befunde aus Nordrhein-Westfalen sind dabei nicht nur interessant, weil hier etwa ein Drittel der türkeistämmigen Bevölkerung Deutschlands lebt, sondern auch, weil die AKP in dortigen Wahllokalen zuletzt Zustimmungswerte von durchschnittlich 70 Prozent verzeichnete. So zeigen die Umfragewerte von 2019, dass Migrantenorganisationen und Bürgermeister aus Sicht türkeistämmiger Menschen in Nordrhein-Westfalen mit je 42 Prozent an erster Stelle stehen, wenn es um die Wahrung ihrer Interessen geht. Deutsche Parteien und die türkische Regierung rangieren mit je 39 Prozent auf dem dritten Platz. Im Vergleich zu den Befragungsergebnissen von 2017 lässt sich sogar ein Rückgang von 14 Prozentpunkten für den Stellenwert der türkischen Regierung innerhalb der türkeistämmigen Community Nordrhein-Westfalens erkennen. Weitaus wichtiger erscheint jedoch, dass die Zuweisung der Interessenvertretungsfunktion an die türkische Regierung nicht zwangsläufig im Widerspruch zum Vertrauen in deutsche Institutionen stehen muss. So konstatiert die Politikwissenschaftlerin Martina Sauer, dass Personen, die sich durch die türkische Regierung vertreten sehen, auch überdurchschnittlich häufig die Bundesregierung oder deutsche Parteien als wichtige Instanzen der Vertretung ihrer Interessen angeben. Entgegen der Annahme einer wachsenden Distanzierung türkeistämmiger Menschen von der „deutschen“ Gesellschaft und deren Institutionen zeigt sich damit vielmehr, dass die Realitäten türkeistämmigen Lebens in Deutschland durch transnationale Logiken geprägt sind, welche keinen strikten Trennungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft folgen.

Fazit

Als Erdoğan und die AKP im Vorfeld des Verfassungsreferendums vom 12. September 2010 – damals noch unter dem Label ihrer progressiv-demokratischen Agenda – die Etablierung liberal-demokratischer Elemente in der Türkei beschworen, wurden sie in Teilen des politikwissenschaftlichen Diskurses noch als sogenannte Muslim Democrats gefeiert. Knapp zehn Jahre später nutzt Erdoğan zwar immer noch den Begriff der Demokratie, sein politischer Kurs hingegen entfernt sich dabei immer weiter von einem liberalen Verständnis der Volkssouveränität. Auch im Zuge der jüngsten Wahlen geht es allem voran um den Machterhalt. Kennzeichnend hierfür ist nicht zuletzt die Fluidität der Argumentation Erdoğans im Wahlkampf. Während zunächst islamische Narrative dominierten, schaltete er im weiteren Verlauf kurzerhand auf ultranationalistische Positionen um. Auch scheint es seine Stammwählerschaft nicht zu irritieren, dass der Präsident, der der Opposition vorwirft, mit kurdischen Separatisten zu kooperieren, selbst dem nicht minder separatistischen Ableger der kurdischen Hizbullah ins Parlament verhilft.

Der Rechtsruck der CHP hingegen bedeutete zwar einen leichten Stimmenzuwachs für den Oppositionsblock, aber auch einen immer deutlicher werdenden Bruch mit ihren sozialdemokratischen Prägungen der 1970er Jahre unter Bülent Ecevit. Damit verpasste Kılıçdaroğlu einmal mehr die Möglichkeit, einen überzeugenden Gegendiskurs links von AKP und MHP zu etablieren, sondern ließ sich auf das Spiel des Nationalismus ein. Der stille Sieger dieser Wahlen ist damit das rechtspolitische Lager, das sich insbesondere in der zweiten Wahlkampfphase als tonangebende Instanz etablieren konnte.

In Deutschland wiederholt sich derweil die Geschichte. Erneut sind mit dem Ausgang der Auslandswahlen Debatten über Desintegration aufgekommen. Trotz der nunmehr 60-jährigen Geschichte türkeistämmigen Lebens in Deutschland stellt die pauschale Zuschreibung einer Herkunftsorientierung gegenüber türkeistämmigen Menschen weiterhin einen vitalen Mechanismus der mehrheitsgesellschaftlichen „Fremd“-Konstruktion dieser „Gruppe“ dar. Was dabei oft übersehen wird, sind die kontextuellen Bedingungen der Türkei-Wahlen in der Bundesrepublik. Denn weit wichtiger als das letztendliche Ergebnis sind die Beweggründe der hiesigen Wähler. Dies umfasst nicht nur die Frage, warum knapp ein Viertel der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland für Erdoğan stimmt, sondern auch, warum ein Großteil der Menschen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch macht oder sich bewusst gegen eine Stimmabgabe zugunsten der Regierung entscheidet.

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. E-Mail Link: seckin.soeylemez@uni-due.de