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100 Jahre Republik Türkei | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial 100 Jahre Republik Türkei. Demokratie mit Höhen und Tiefen Türkeiwahlen 2023 transnational. Ein Blick auf die Türkei und Deutschland Dynamiken des türkischen Nationalismus Die Außenpolitik der „neuen Türkei“. Zwischen hegemonialem Anspruch und Anpassungsdruck Verfassungspolitik „türkischer Art“. Verfassungsänderungen als Mittel des Machtgewinns und Machterhalts in der Türkei Zur Geschichte der türkischen Frauenbewegung Schwieriger Geburtstag. Hundert Jahre nach ihrer Gründung ist die Türkei ein gespaltenes Land - Essay Karte der Türkei

100 Jahre Republik Türkei Demokratie mit Höhen und Tiefen

Çiğdem Akyol

/ 33 Minuten zu lesen

Atatürk gründete die Türkei als laizistische Republik und setzte die Modernisierung des Landes autoritär um. Auch Recep Tayyip Erdoğan, der 2023 erneut zum Staatspräsidenten gewählt wurde, ist für die einen ein autoritärer Herrscher, für die anderen ein Architekt der modernen Türkei.

Entstanden aus einem untergegangenen Imperium, geboren aus dem Krieg, gewachsen trotz aller Krisen – das ist die heutige Republik Türkei (Türkiye Cumhuriyeti). Wenn die Republik am 29. Oktober 2023 ihr hundertjähriges Bestehen feiert, kann auf eine Erfolgsgeschichte mit einer beeindruckenden Bilanz zurückgeschaut werden. Bei der Staatsgründung hatte das Land 14 Millionen Einwohner, aktuell sind es rund 85 Millionen Menschen. Die Türkei gehört zu den großen Volkswirtschaften der Welt und lag 2022 auf Rang 19 der führenden Industrienationen. Doch bis es so weit kommen konnte, erlebte die Republik zahlreiche politische und gesellschaftliche Krisen, deren Auswirkungen immer noch spürbar sind. Zwar ist das Land demokratischer und freiheitlicher geworden, der autoritäre Zentralismus ist jedoch geblieben. Auch das Kräfteverhältnis hat sich verschoben: Die alte Elite ist in Bedrängnis geraten, die früher Drangsalierten sind seit über zwanzig Jahren an der Macht.

Revolutionen, Reformen, Zwang

Begründer der modernen Türkei ist Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938). Jedes Jahr am 10. November um 9:05 Uhr – dem Zeitpunkt seines Todes – ertönen in der ganzen Türkei Sirenen, und die Menschen halten eine Minute lang inne, um an ihn zu gedenken: an den Kriegshelden, den Schöpfer des neuen Nationalstaates, den ersten Staatspräsidenten der Republik. Noch immer erinnern landesweit Statuen, Denkmäler und Porträts an den Sohn eines einfachen Finanzbeamten. Die Unterschrift Atatürks ist ein beliebtes Motiv für Tätowierungen oder Aufkleber. Auch wenn die Verehrung teilweise abgenommen hat und die Figur mittlerweile durchaus umstritten ist, bleibt Atatürk der „Vater der Türken“.

Als Führer der Nationalbewegung war Atatürk im sogenannten Türkischen Befreiungskrieg (Kurtuluş Savaşı) von 1919 bis 1923 gegen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs als Gewinner hervorgegangen. Es gelang ihm, den von der Nationalbewegung scharf kritisierten Vertrag von Sèvres zu revidieren, in dem 1920, nach dem Ende des Osmanischen Reiches, die Grenzen der Türkei unter hohen Gebietsabtretungen neu definiert wurden. Gestärkt durch den Triumph verhandelte eine türkische Delegation mit den Siegermächten in der Schweizer Universitätsstadt Lausanne über ein größeres Territorium. Der am 24. Juli 1923 geschlossene Vertrag von Lausanne legt die bis in die Gegenwart geltenden Grenzen des türkischen Staatsgebietes fest. Für viele konservative Türken gilt der Vertrag als Schmach, da dieser unter anderem auch die Souveränität griechischer Inseln nahe der türkischen Küste festschreibt.

Als die Republik am 29. Oktober 1923 ausgerufen wurde, feierten Atatürk und seine Anhänger den Vertrag als Erfolg. Es folgten umfängliche Modernisierungsmaßnahmen, die von einer urbanen Elite von oben herab diktiert wurden. Den Menschen wurde in Windeseile aus der neuen Hauptstadt Ankara eine neue nationale Identität übergestülpt – nicht mehr der Osten war entscheidend, der Westen war das Vorbild. Bereits am 1. November 1922 war das Sultanat aufgehoben worden, am 3. März 1924 wurde das Kalifat abgeschafft. Am selben Tag noch wurde das Präsidium für Religionsangelegenheiten, das Diyanet (Diyanet İşleri Başkanlığı), gegründet, eine staatliche Einrichtung zur Verwaltung religiöser Aktivitäten, die heute direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Ebenfalls 1924 verabschiedete das Parlament eine neue Verfassung, welche jene von 1876 ersetzte. Ab 1925 galt das sogenannte Hutgesetz, das Männern das Tragen eines Fez verbot, stattdessen mussten sie fortan Hüte westlichen Stils tragen. 1926 folgte ein neues Zivilgesetzbuch, 1928 wurde schließlich der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen. 1929 wurde durch die Schriftreform das arabische durch das lateinische Alphabet ersetzt, 1934 folgte dann die Verpflichtung zur Annahme von Familiennamen. Zu diesem Zeitpunkt erhielt der Staatspräsident den Namen „Atatürk“. Nachdem bereits 1930 das kommunale Wahlrecht für Frauen eingeführt worden war, wurde es 1934 zum allgemeinen Frauenwahlrecht erweitert. 1937 wurde der Laizismus in der Verfassung verankert.

Als Atatürk am 10. November 1938 mit 57 Jahren starb, hinterließ er ein Land, das weitreichende Veränderungsprozesse durchlaufen hatte und die Demokratie noch lernen musste. Die enorme Modernisierung wurde zwar teilweise gewaltsam umgesetzt, doch trotz aller Kritik kann man sie rückblickend durchaus als einen beeindruckenden Erfolg bewerten. Denn die Republik Türkei war zum Zeitpunkt ihrer Gründung ein zutiefst armes und unterentwickeltes Land. Die forcierten Reformen ermöglichten es der Türkei, sich zu einem dynamischen Land zu entwickeln – trotz aller Rückschläge. „Alles in allem würde ich die kulturelle Revolution als eine Erfolgsgeschichte bezeichnen. Die Türkei hätte ohne ihn [Atatürk] nicht all die kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen des Landes vollbracht“, sagt der Atatürk-Biograf Klaus Kreiser. „Ohne Atatürk würde es die heutige Türkei so nicht geben."

Geburtsfehler der Republik

Der Vertrag von Lausanne sollte Frieden bringen, doch für Millionen Menschen bedeutet er das Gegenteil. Denn in Lausanne wurde auch die Zwangsumsiedlung von mehr als eineinhalb Millionen Menschen besiegelt. Ein Großteil der griechisch-orthodoxen Bevölkerung musste Anatolien verlassen, und im Gegenzug mussten etliche Muslime Griechenland den Rücken kehren. Auch die Kurden waren die Verlierer von Lausanne, da durch den Vertrag die Hoffnung auf einen eigenen Staat zunichte gemacht wurde. War im Abkommen von Sèvres noch festgehalten, dass die Kurden in ihren Siedlungsgebieten im Osmanischen Reich Autonomie erhalten, war davon bei den Verhandlungen in der Schweiz keine Rede mehr. Die Alliierten legten eine Definition von Minderheiten zugrunde, die nur noch zwischen Muslimen und Nichtmuslimen unterschied. Seither ist die Geschichte der Kurden in der Republik von Diskriminierung und blutigen Auseinandersetzungen geprägt. Rund 15 Millionen Kurden leben derzeit in der Türkei. Sie bilden die größte ethnische Minderheit des Landes und mussten sich seit der Republikgründung einer Assimilationspolitik unterordnen. Alleine zwischen 1925 und 1938 kam es deswegen zu 21 Aufständen. Über Jahrzehnte wurde das „kurdische Problem“ von der Staatsführung weitgehend geleugnet, die Assimilationspolitik stattdessen fortgeführt. Eine politische Lösung versuchte in den 1980er Jahren der damalige Staats- und Ministerpräsident Turgut Özal zu erzielen, indem er beispielsweise 1988 den Gebrauch des Kurdischen bei Gefängnisbesuchen zuließ und 1991 mehr als Hunderttausend kurdische Flüchtlinge aus dem Irak über die Grenzen ins Land kommen ließ. Auch wenn der 1991 amtierende Ministerpräsident Süleyman Demirel den Südosten der Türkei als ein „Land der Kurden und Türken“ bezeichnete, konnte die Situation bis in die Gegenwart nicht befriedet werden. Der Konflikt ist immer wieder gewaltsam eskaliert. Seit 1984 kämpft die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) mit Waffengewalt erst für einen kurdischen Staat, dann für ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei. Mittlerweile werden zwar weniger Territorialansprüche gestellt, dafür wird meist politische Gleichberechtigung gefordert. Die Türkei, die Europäische Union und die USA haben die PKK als Terrororganisation eingestuft. Der Konflikt zwischen der Guerilla und der türkischen Regierung hat bislang mehr als 40000 Menschenleben gekostet.

Im März 2013 erklärte die PKK eine Waffenruhe. Als sich die von der PKK unterstützten syrischen Kurden im Syrienkrieg Autonomiegebiete sicherten, sah Ankara jedoch die Einheit der Türkei durch das mögliche Entstehen eines Kurdenstaates an seiner Grenze gefährdet und begann Ende Juli 2015 damit, Lager der PKK im Irak zu bombardieren. Seitdem ist der Konflikt wieder entbrannt. Hinzu kam, dass bei der Parlamentswahl im Juni 2015 die prokurdische Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) den Einzug ins Parlament schaffte. Mit diesem Triumph verhinderte sie eine absolute Mehrheit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) und zwang diese, einen Koalitionspartner zu suchen. Die Gespräche scheiterten, es kam zu Neuwahlen, aus denen die AKP als Siegerin hervorging. Ehemalige HDP-Spitzenfunktionäre wie Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen mittlerweile wegen Terrorismusvorwürfen in Haft – laut ihrer Partei jedoch aus politischen Gründen.

Instabile Koalitionen und putschende Militärs

Nach Atatürks Tod regierte von 1938 bis 1950 sein einstiger Weggefährte İsmet İnönü die Republik als „Nationaler Führer“ (Millî Şef). Das Einparteiensystem kam zu einem Ende, als 1950 Adnan Menderes von der Demokratischen Partei (Demokrat Parti, DP) als erster demokratisch gewählter Ministerpräsident an die Macht kam. 1960 wurde er nach drei Wahlsiegen vom Militär aus dem Amt geputscht und 1961 von der Junta hingerichtet. Auch in den Jahren 1971, 1980 und 1997 putschte beziehungsweise intervenierte das Militär erfolgreich und teilweise äußerst brutal. Die rasanten gesellschaftspolitischen Entwicklungen trugen zu ideologischen Radikalisierungen und damit zur politischen Instabilität bei, was wiederum die militärische Vormundschaft über zivildemokratische Angelegenheiten ermöglichte. Während die Militärs, die sich als Wächter von Atatürks Erbe betrachteten, die Politik überwachten, gab es vor allem in den 1970er Jahren Gewalt zwischen linken und rechten Gruppierungen auf den Straßen. Gleichzeitig gelang keine politischen Einigkeit.

Alleine zwischen 1972 und 1980 wurden 16 Politiker mit einer Regierungsbildung beauftragt. Zwar schaffte es Turgut Özal, die Wirtschaft erfolgreich zu liberalisieren, indem er das Land wie ein Wirtschaftsunternehmen „managte“, doch der Aufschwung und die damit einhergehende Ruhe waren immer nur von kurzer Dauer. Phasen instabiler Koalitionsregierungen gehörten zum Alltag. Insgesamt gelten die 1990er Jahre als „verlorenes Jahrzehnt“. Das Land befand sich wirtschaftlich in einer dauerhaften Krise. Eine 2001 vom Dachverband der Türkischen Industrie- und Handelskammern (Türkiye Odalar ve Borsalar Birliği) veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass türkische Politiker in den 1990er Jahren rund 195 Milliarden US-Dollar verschwendet hatten – etwa die Summe des damaligen jährlichen Bruttoinlandsprodukts. Hätte es diese Verluste nicht gegeben, wäre die türkische Wirtschaft mutmaßlich um 9,2 Prozent pro Jahr gewachsen.

Aufstieg des politischen Islam

Doch dann betrat ein Mann die Bühne, der nach Atatürk die prägendste politische Gestalt der Türkei wurde: Recep Tayyip Erdoğan. Geboren 1954 im Istanbuler Viertel Kasımpaşa, wuchs er in armen Verhältnissen auf. Sein Vater war Seemann, seine Mutter Hausfrau, Erdoğan musste als Kind Lebensmittel auf den Straßen verkaufen, um die Familie zu unterstützen. Schon früh engagierte er sich politisch. So trat er der 1972 gegründeten islamistischen Nationalen Heilspartei (Millî Selamet Partisi, MSP) von Necmettin Erbakan bei und wurde Vorsitzender des Istanbuler Jugendverbandes der Partei. Nachdem die MSP nach dem Militärputsch 1980 verboten worden war, wurde Erdoğan stellvertretender Vorsitzender der aus ihr hervorgegangenen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi). 1994 wurde er trotz geringer Erfolgsaussichten zum Bürgermeister von Istanbul gewählt. Wegen seiner effizienten und volksnahen Amtsführung wurde er rasch so populär, dass selbst bürgerliche Schichten mit ihm sympathisierten. Der damit einhergehende Aufstieg des politischen Islam veranlasste die Justiz, gegen Erdoğan vorzugehen. Vor allem eine Rede war es, die den Verlauf von Erdoğans Leben verändern sollte – und damit auch die Zukunft der Türkei. Bei einer Kundgebung in der südöstlichen Stadt Siirt 1997 trug Erdoğan ein Gedicht des nationalistischen Kultursoziologen Ziya Gökalp (1874–1924) vor: „Unsere Minarette sind Bajonette und die Kuppeln unserer Moscheen Helme, so wie die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Soldaten sind." Nachdem schon im selben Jahr sein Mentor Erbakan auf Druck der Armee als Ministerpräsident zurückgetreten war, kam nun Erdoğan an die Reihe. In einem politischen Verfahren wurde er wegen Anstiftung zu religiösem Hass angeklagt, er musste für vier Monate ins Gefängnis und erhielt Politikverbot. Doch die Herabsetzung machte Erdoğan noch populärer. Bei einem Protestmarsch in Istanbul versicherten ihm mehr als 5000 Demonstranten ihre Unterstützung. „Befiehl uns zu sterben, wir werden sterben. Befiehl uns zu schießen, wir werden schießen“, riefen sie. Erdoğan beklagte, „wir leben in einem repressiven und totalitären System, das die Meinungs- und Pressefreiheit ebenso unterdrückt wie fast alle anderen Menschenrechte“, und prangerte die Inhaftierung von Journalisten und das Verbot von Parteien in der Türkei an. Nach seiner Haft veröffentlichte er sogar eine Langspielplatte mit dem Titel „Dieses Lied endet hier nicht“ („Bu Şarkı Burada Bitmez“). Enthalten waren ausgewählte Gedichte und ein Song. Laut Medienberichten war es mit einer Million verkauften Exemplaren das meistverkaufte Album des Jahres 1999.

Rückblickend war Erdoğans Haftzeit ein prägendes Erlebnis, welches auch in der offiziellen Biografie auf seiner Webseite prominent erwähnt wird. Er verließ das Gefängnis mit verschärftem Groll gegen die Eliten, die seine Frömmigkeit offen verspotteten, sich über seine Herkunft aus der Arbeiterklasse lustig machten und versuchten, ihn aus dem politischen Establishment zu verbannen. Erdoğan erkannte während dieser Zeit auch, dass er mit einer islamisch-konservativen Partei stets das Eingreifen des Militärs würde fürchten müssen. Als es zum Zerwürfnis zwischen Erdoğan und Mitgliedern der Tugendpartei (Fazilet Partisi), der Nachfolgeorganisation der inzwischen verbotenen Wohlfahrtspartei kam, reichte eine Gruppe von Reformern unter Führung von Erdoğan im August 2001 beim Innenministerium die Gründungspapiere für die AKP ein. Als Parteisymbol wählten sie eine Glühbirne. Zwar dufte Erdoğan bei der Parlamentswahl im November 2002 wegen seiner Vorstrafe nicht kandidieren, doch war er das prägende Gesicht der AKP im Wahlkampf, die schließlich mit sensationellen 34,3 Prozent der Stimmen die Wahl gewann und die politische Instabilität im Land beendete. Zunächst bekleidete Erdoğans Parteifreund Abdullah Gül das Amt des Ministerpräsidenten, nach einer Verfassungsänderung übernahm dann Erdoğan im März 2003 den Posten. Er kündigte Reformen an, mit denen die bürgerlichen Rechte und Freiheiten, die Menschenrechte und der Rechtsstaat gestärkt werden sollten. Als Ziele seiner Wirtschaftspolitik nannte Erdoğan unter anderem stabiles Wachstum, Ausgabendisziplin, Schuldenabbau und die Senkung der Inflation. Der zuvor wegen religiösem Hass Verurteilte klang plötzlich wie ein Liberaler. Er respektierte die Rechte von Minderheiten und begann sogar Friedensgespräche mit der PKK. Er ließ Reformen umsetzen, die das Land so dringend brauchte, darunter die Abschaffung der Todesstrafe und die Zulassung kurdischer Medien. Erdoğans erste Amtsjahre werden von Beobachtern als eine Art Lehrzeit betrachtet, in der er sich darauf konzentrierte, das Vertrauen der Türken und der internationalen Gemeinschaft zu gewinnen.

So verwundert es rückblickend nicht, dass Erdoğan die Parlamentswahlen 2007 und 2011 gewinnen konnte und fortan immer selbstbewusster auftrat. Es gelang ihm, den Staatsapparat immer mehr zu seinen eigenen Gunsten umzuformen. Er trieb gigantische Infrastrukturprojekte voran, die Wirtschaft wuchs. In Verfassungsreferenden 2007 und 2010 wurden die Rechte von Frauen, Kindern und Menschen mit Behinderung ausgebaut, allerdings festigten die Veränderungen zugleich auch die Macht der AKP und leiteten eine Ära des religiösen Konservatismus ein. Es war auch Erdoğans Engagement, die Türkei in den Klub der europäischen Nationen zu heben, das ihm als Argument dafür diente, die verfassungsmäßigen Beschränkungen seiner Macht aufzuheben. Um den EU-Beitritt der Türkei voranzutreiben, wurden Befugnisse des Militärs beschnitten und es der zivilen Kontrolle unterworfen. Im zweiten Jahrzehnt seiner Herrschaft riss Erdoğan dann verstärkt die Kontrolle über die Medien sowie staatliche Institutionen an sich und wurde immer intoleranter gegenüber Kritikern, was international vor allem während der Gezi-Proteste im Spätsommer 2013 deutlich wurde. Die Demonstrationen, die in Istanbul begannen, bevor sie sich über das ganze Land ausbreiteten, wurden mit einem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte beantwortet. Dennoch wurde Erdoğan 2014 erstmals zum Präsidenten gewählt.

Gleichzeitig wurden Glaube und Religion zu einem weiteren Vehikel, um die eigene Macht zu festigen. Zwar wandelte die Republik seit ihrer Gründung schon immer auf einem schmalen Grat zwischen Religion und Politik. Doch seit der Machtübernahme der AKP hat sich der staatlich geförderte Einfluss der Religion auf das gesellschaftliche Leben deutlich erweitert. Erdoğan hat sich zunehmend vom Laizismus verabschiedet. Besonders sichtbar wird dies an der umstrittenen Debatte um das Kopftuch. Wurde das Tuch von den Kemalisten aus dem öffentlichen Dienst und dem Bildungswesen verbannt, lockerte die AKP das Kopftuchverbot ab 2008 schrittweise und erlaubte die Verschleierung zunächst wieder an den Universitäten und Schulen, dann im öffentlichen Dienst, im Parlament und schließlich auch bei der Polizei und in der Armee. Dass zum hundertsten Geburtstag der Republik eine First Lady mit Kopftuch die Feierlichkeiten begleiten würde, hätte sich Atatürk wohl kaum vorstellen können. Zudem wurde unter der Herrschaft Erdoğans das Diyanet zu einem mächtigen politischen Akteur ausgebaut. Das 1924 gegründete Präsidium für Religionsangelegenheiten sollte nach dem Ende der osmanischen Herrschaft ein Vakuum füllen. Die Geistlichen waren seitdem Bedienstete der Regierung, Religion wurde dem Staat untergeordnet, Institutionen des Islam wurden in die Bürokratie eingebunden. Das Diyanet ist „nur“ für sunnitische Muslime zuständig, der sunnitische Islam wurde damit zum Staatsglauben aufgewertet. Nicht-Sunniten, von denen die Aleviten die größte Gruppe darstellen, wurden nicht durch das Diyanet vertreten und damit faktisch diskriminiert. In der Ära Erdoğan wurden der Haushalt der Behörde, ihre Verwaltungskapazitäten und ihre Aufgaben massiv ausgedehnt. Regierungspolitik und religiöse Themen wurden immer enger miteinander verzahnt. Zum Beispiel kam Ali Erbaş, Chef der Diyanet, im September 2021 zur Eröffnung eines neuen Dienstgebäudes des Obersten Berufungsgerichts und sprach dort öffentlich ein Gebet.

Dass Erdoğan am 28. Mai 2021 auf dem symbolträchtigen Taksim-Platz in Istanbul eine Moschee einweihte – auf den Tag genau acht Jahre nach dem Beginn der Gezi-Proteste –, sorgte für vergleichsweise wenig Aufregung. Von dieser Moschee, in der rund 4000 Menschen Platz haben, hatte Erdoğan bereits in den 1990er Jahren zu seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul geträumt. Seither überragt das Gotteshaus das Denkmal der Republik, das Akteure des Unabhängigkeitskrieges mit Atatürk in der Mitte darstellt und das bislang die Hauptattraktion des Platzes war.

Im Juli 2016 geschah dann eine politische Katastrophe: Ein Putschversuch scheiterte – mit gravierenden Folgen bis in die Gegenwart. Nach offiziellen Angaben wurden in jener Nacht mehr als 250 Menschen getötet. Erdoğan machte den in den USA lebenden muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen verantwortlich und ließ Zehntausende festnehmen. Mehr als 2500 Menschen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Zehntausende in Justiz, Militär und Medien wurden entlassen. Es folgte ein zweijähriger Ausnahmezustand, in dem unter anderem kritische Medien geschlossen wurden. Erdoğan etablierte ein Präsidialsystem, das ihm noch größere Macht sichert, und verabschiedete sich mehr und mehr von Rechtsstaatlichkeit und einer wirksamen Gewaltenteilung.

Trotz der desaströsen Inflation, dem verheerenden Erdbeben mit über 50000 Toten im türkisch-syrischen Grenzgebiet im Februar 2023 und einem Katastrophenmanagement, für das Ankara heftig kritisiert wurde, gelang Erdoğan im Mai 2023 die Wiederwahl – obwohl Meinungsumfragen seinen Herausforderer, den Chef der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, teils klar vorne gesehen hatten. Was dabei im Westen oftmals übersehen wird, ist die Tatsache, dass Erdoğan eine starke Bindung zum größten gesellschaftspolitischen Block der Türkei aufgebaut hat: den religiösen Konservativen. Seine Anhänger sehen in ihm den Verfechter der frommen anatolischen Massen, einen starken Mann, der die Religion wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens gerückt hat, nachdem die türkische Bevölkerung jahrzehntelang von westlich orientierten kemalistischen Eliten regiert wurde – und es ist eine Tatsache, dass Erdoğan diesen gläubigen Menschen mehr Teilhabe ermöglicht hat. Zudem gewinnt er Zuspruch mit seiner Erzählung, dass er trotz der vielen Feinde im In- und Ausland die Türkei wieder groß gemacht habe. Das „Jahrhundert der Türkei“ war eines der zentralen Themen in Erdoğans letztem Wahlkampf. Er bezieht sich damit auf die anstehende Hundertjahrfeier der türkischen Republik, die auch für ihn von besonderer Bedeutung ist: Gegründet von einem Atheisten, der den Glauben kontrollieren wollte, lenkt nun er – ein konservativer Sunnit – das Land. Für die einen ist er ein machtgieriger, autoritärer Herrscher, für die anderen der Architekt einer modernen Türkei. Auf jeden Fall ist er nach seiner Wiederwahl nun weitere fünf Jahre im Amt. Damit wird er voraussichtlich ein Vierteljahrhundert ohne Unterbrechung an der Macht sein – länger als der Republikgründer Atatürk.

Außenpolitik zwischen Ost und West

Hatte Atatürk dem Land noch außenpolitische Neutralität verordnet, wurde dies mit dem Beginn des Mehrparteiensystems nicht mehr aufrechterhalten. Unter Adnan Menderes nahm Ankara 1950 am Koreakrieg teil. Die von Atatürk geforderte kulturelle Westorientierung wurde schließlich durch außenpolitische Bündnisse und Beitritte manifestiert: Seit 1945 ist das Land Mitglied der Vereinten Nationen, 1950 folgte die Mitgliedschaft im Europarat und 1952 der Nato-Beitritt. 1973 wurde die Türkei Gründungsmitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Der Wunsch, die Westorientierung durch einen EU-Beitritt voranzutreiben, besteht schon seit über vier Jahrzehnten. 1999 wurde das Land offizieller Beitrittskandidat der EU – bislang ergebnislos. Von Brüssel enttäuscht, hat sich Ankara außenpolitisch zunehmend vom Westen ab- und Asien und Russland zugewandt. Seit die Türkei unter einer massiven Wirtschaftskrise leidet, sind auch die wohlhabenden Staaten in der Nachbarregion als Geschäftspartner besonders interessant geworden.

„Geografie ist Schicksal“, lautet eine Redewendung, die ganz besonders auf die Türkei zutrifft. Das Land erstreckt sich von Asien nach Europa und grenzt an Griechenland, Bulgarien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Iran, Irak und an Syrien – eine Position, die Ankara für sich zu nutzen weiß. Denn trotz der eingefrorenen EU-Beitrittsgespräche ist die Türkei immer noch ein unverzichtbarer Akteur für die europäische Sicherheit und die europäischen Interessen. Das Land stellt die südöstliche Flanke der Nato dar und verfügt nach den USA über die zweitgrößte Armee innerhalb des Bündnisses. Insbesondere in der gegenwärtigen Situation des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, in der die Nato größtmögliche Geschlossenheit anstrebt, ist die Türkei ein wichtiger Bündnispartner. Auch deswegen kann Erdoğan in Bezug auf Russland eine Schaukelpolitik betreiben.

Zwar verurteilt Ankara Russlands Vorgehen in der Ukraine, beteiligt sich aber als einziges Nato-Mitglied nicht an den Sanktionen. Gleichzeitig pflegt Erdoğan enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, zumal die Türkei abhängig von russischen Rohstoffen ist. Die Türkei nimmt im russisch-ukrainischen Krieg zwar eine aktive, aber neutrale Position ein. Denn auch Kiew und Ankara sind wichtige Handelspartner und haben Abkommen und Vereinbarungen über Waffenverkäufe in Milliardenhöhe unterzeichnet. So setzt die Ukraine Kampfdrohnen ein, die von der Türkei noch vor Ausbruch des Krieges geliefert worden sind.

Zu seinen Nachbarstaaten pflegt Erdoğan ein ambivalentes Verhältnis. Die Beziehungen der Türkei zu Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten hatten sich nach den Aufständen des Arabischen Frühlings 2011 verschlechtert, denn Ankara hatte zuvor die dortigen oppositionellen Kräfte unterstützt. Nachdem 2018 der saudische Journalist Jamal Khashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul getötet worden war, waren die Beziehungen zu Riad zusätzlich belastet. Erdoğan beschuldigte „höchste Ebenen“ der saudischen Regierung, den Befehl dazu gegeben zu haben. Doch nachdem die Inflation nicht enden wollte, startete der Präsident 2021 eine diplomatische Offensive gegenüber den Nachbarstaaten, die zur Verbesserung der Beziehungen und zu Staatsbesuchen und Investitionsvereinbarungen für die türkische Wirtschaft führte. Im Juli 2023 unterzeichneten die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate Verträge im Umfang von mehr als 50 Milliarden US-Dollar. Es handelte sich dabei um Abkommen beziehungsweise Absichtserklärungen für Erdbebenhilfen, Exportfinanzierung, Energie, Verteidigung und andere Branchen. Auch mit Saudi-Arabien wurden eine Reihe von Absichtserklärungen in verschiedenen Bereichen unterzeichnet. Zudem hat Erdoğan Ambitionen, die Türkei als einflussreiche Großmacht auf der geopolitischen Weltbühne zu platzieren. So wurde auf Erdoğans Geheiß auch das militärische Engagement Ankaras im Ausland ausgebaut. Unter anderem in Libyen, Katar und Somalia ist das Land ein wichtiger politischer, wirtschaftlicher und militärischer Akteur.

Fazit

Auch wenn vieles an Erdoğans Außenpolitik wie ein chaotischer Zickzackkurs erscheinen mag, hat Ankara in seiner Regierungszeit konsequent drei grundlegende außenpolitische Ziele verfolgt: Macht, strategische Unabhängigkeit und Wohlstand. Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise und der politischen Spaltung zeigt sich jedoch, dass die Regierung zum hundertjährigen Bestehen der Republik nicht allen ihren Zielen gerecht geworden ist. Wohin sich die Türkei in Zukunft bewegen mag – etwa in ihrer demokratischen Verfasstheit, ihren außenpolitischen Zielen oder in der Kurdenfrage –, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass das Land bisher alle Krisen meistern konnte. Auf eine bleierne Zeit folgte immer wieder ein demokratischer Fortschritt. So ist die Türkei eine Erfolgsgeschichte, trotz allem.

Revolutionen, Reformen, Zwang

Begründer der modernen Türkei ist Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938). Jedes Jahr am 10. November um 9:05 Uhr – dem Zeitpunkt seines Todes – ertönen in der ganzen Türkei Sirenen, und die Menschen halten eine Minute lang inne, um an ihn zu gedenken: an den Kriegshelden, den Schöpfer des neuen Nationalstaates, den ersten Staatspräsidenten der Republik. Noch immer erinnern landesweit Statuen, Denkmäler und Porträts an den Sohn eines einfachen Finanzbeamten. Die Unterschrift Atatürks ist ein beliebtes Motiv für Tätowierungen oder Aufkleber. Auch wenn die Verehrung teilweise abgenommen hat und die Figur mittlerweile durchaus umstritten ist, bleibt Atatürk der "Vater der Türken".

Als Führer der Nationalbewegung war Atatürk im sogenannten Türkischen Befreiungskrieg (Kurtuluş Savaşı) von 1919 bis 1923 gegen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs als Gewinner hervorgegangen. Es gelang ihm, den von der Nationalbewegung scharf kritisierten Vertrag von Sèvres zu revidieren, in dem 1920, nach dem Ende des Osmanischen Reiches, die Grenzen der Türkei unter hohen Gebietsabtretungen neu definiert wurden. Gestärkt durch den Triumph verhandelte eine türkische Delegation mit den Siegermächten in der Schweizer Universitätsstadt Lausanne über ein größeres Territorium. Der am 24. Juli 1923 geschlossene Vertrag von Lausanne legt die bis in die Gegenwart geltenden Grenzen des türkischen Staatsgebietes fest. Für viele konservative Türken gilt der Vertrag als Schmach, da dieser unter anderem auch die Souveränität griechischer Inseln nahe der türkischen Küste festschreibt.

Als die Republik am 29. Oktober 1923 ausgerufen wurde, feierten Atatürk und seine Anhänger den Vertrag als Erfolg. Es folgten umfängliche Modernisierungsmaßnahmen, die von einer urbanen Elite von oben herab diktiert wurden. Den Menschen wurde in Windeseile aus der neuen Hauptstadt Ankara eine neue nationale Identität übergestülpt – nicht mehr der Osten war entscheidend, der Westen war das Vorbild. Bereits am 1. November 1922 war das Sultanat aufgehoben worden, am 3. März 1924 wurde das Kalifat abgeschafft. Am selben Tag noch wurde das Präsidium für Religionsangelegenheiten, das Diyanet (Diyanet İşleri Başkanlığı), gegründet, eine staatliche Einrichtung zur Verwaltung religiöser Aktivitäten, die heute direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Ebenfalls 1924 verabschiedete das Parlament eine neue Verfassung, welche jene von 1876 ersetzte. Ab 1925 galt das sogenannte Hutgesetz, das Männern das Tragen eines Fez verbot, stattdessen mussten sie fortan Hüte westlichen Stils tragen. 1926 folgte ein neues Zivilgesetzbuch, 1928 wurde schließlich der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen. 1929 wurde durch die Schriftreform das arabische durch das lateinische Alphabet ersetzt, 1934 folgte dann die Verpflichtung zur Annahme von Familiennamen. Zu diesem Zeitpunkt erhielt der Staatspräsident den Namen "Atatürk". Nachdem bereits 1930 das kommunale Wahlrecht für Frauen eingeführt worden war, wurde es 1934 zum allgemeinen Frauenwahlrecht erweitert. 1937 wurde der Laizismus in der Verfassung verankert.

Als Atatürk am 10. November 1938 mit 57 Jahren starb, hinterließ er ein Land, das weitreichende Veränderungsprozesse durchlaufen hatte und die Demokratie noch lernen musste. Die enorme Modernisierung wurde zwar teilweise gewaltsam umgesetzt, doch trotz aller Kritik kann man sie rückblickend durchaus als einen beeindruckenden Erfolg bewerten. Denn die Republik Türkei war zum Zeitpunkt ihrer Gründung ein zutiefst armes und unterentwickeltes Land. Die forcierten Reformen ermöglichten es der Türkei, sich zu einem dynamischen Land zu entwickeln – trotz aller Rückschläge. "Alles in allem würde ich die kulturelle Revolution als eine Erfolgsgeschichte bezeichnen. Die Türkei hätte ohne ihn [Atatürk] nicht all die kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen des Landes vollbracht", sagt der Atatürk-Biograf Klaus Kreiser. "Ohne Atatürk würde es die heutige Türkei so nicht geben."

Geburtsfehler der Republik

Der Vertrag von Lausanne sollte Frieden bringen, doch für Millionen Menschen bedeutet er das Gegenteil. Denn in Lausanne wurde auch die Zwangsumsiedlung von mehr als eineinhalb Millionen Menschen besiegelt. Ein Großteil der griechisch-orthodoxen Bevölkerung musste Anatolien verlassen, und im Gegenzug mussten etliche Muslime Griechenland den Rücken kehren. Auch die Kurden waren die Verlierer von Lausanne, da durch den Vertrag die Hoffnung auf einen eigenen Staat zunichte gemacht wurde. War im Abkommen von Sèvres noch festgehalten, dass die Kurden in ihren Siedlungsgebieten im Osmanischen Reich Autonomie erhalten, war davon bei den Verhandlungen in der Schweiz keine Rede mehr. Die Alliierten legten eine Definition von Minderheiten zugrunde, die nur noch zwischen Muslimen und Nichtmuslimen unterschied. Seither ist die Geschichte der Kurden in der Republik von Diskriminierung und blutigen Auseinandersetzungen geprägt. Rund 15 Millionen Kurden leben derzeit in der Türkei. Sie bilden die größte ethnische Minderheit des Landes und mussten sich seit der Republikgründung einer Assimilationspolitik unterordnen. Alleine zwischen 1925 und 1938 kam es deswegen zu 21 Aufständen. Über Jahrzehnte wurde das "kurdische Problem" von der Staatsführung weitgehend geleugnet, die Assimilationspolitik stattdessen fortgeführt. Eine politische Lösung versuchte in den 1980er Jahren der damalige Staats- und Ministerpräsident Turgut Özal zu erzielen, indem er beispielsweise 1988 den Gebrauch des Kurdischen bei Gefängnisbesuchen zuließ und 1991 mehr als Hunderttausend kurdische Flüchtlinge aus dem Irak über die Grenzen ins Land kommen ließ. Auch wenn der 1991 amtierende Ministerpräsident Süleyman Demirel den Südosten der Türkei als ein "Land der Kurden und Türken" bezeichnete, konnte die Situation bis in die Gegenwart nicht befriedet werden. Der Konflikt ist immer wieder gewaltsam eskaliert. Seit 1984 kämpft die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) mit Waffengewalt erst für einen kurdischen Staat, dann für ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei. Mittlerweile werden zwar weniger Territorialansprüche gestellt, dafür wird meist politische Gleichberechtigung gefordert. Die Türkei, die Europäische Union und die USA haben die PKK als Terrororganisation eingestuft. Der Konflikt zwischen der Guerilla und der türkischen Regierung hat bislang mehr als 40000 Menschenleben gekostet.

Im März 2013 erklärte die PKK eine Waffenruhe. Als sich die von der PKK unterstützten syrischen Kurden im Syrienkrieg Autonomiegebiete sicherten, sah Ankara jedoch die Einheit der Türkei durch das mögliche Entstehen eines Kurdenstaates an seiner Grenze gefährdet und begann Ende Juli 2015 damit, Lager der PKK im Irak zu bombardieren. Seitdem ist der Konflikt wieder entbrannt. Hinzu kam, dass bei der Parlamentswahl im Juni 2015 die prokurdische Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) den Einzug ins Parlament schaffte. Mit diesem Triumph verhinderte sie eine absolute Mehrheit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) und zwang diese, einen Koalitionspartner zu suchen. Die Gespräche scheiterten, es kam zu Neuwahlen, aus denen die AKP als Siegerin hervorging. Ehemalige HDP-Spitzenfunktionäre wie Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen mittlerweile wegen Terrorismusvorwürfen in Haft – laut ihrer Partei jedoch aus politischen Gründen.

Instabile Koalitionen und putschende Militärs

Nach Atatürks Tod regierte von 1938 bis 1950 sein einstiger Weggefährte İsmet İnönü die Republik als "Nationaler Führer" (Millî Şef). Das Einparteiensystem kam zu einem Ende, als 1950 Adnan Menderes von der Demokratischen Partei (Demokrat Parti, DP) als erster demokratisch gewählter Ministerpräsident an die Macht kam. 1960 wurde er nach drei Wahlsiegen vom Militär aus dem Amt geputscht und 1961 von der Junta hingerichtet. Auch in den Jahren 1971, 1980 und 1997 putschte beziehungsweise intervenierte das Militär erfolgreich und teilweise äußerst brutal. Die rasanten gesellschaftspolitischen Entwicklungen trugen zu ideologischen Radikalisierungen und damit zur politischen Instabilität bei, was wiederum die militärische Vormundschaft über zivildemokratische Angelegenheiten ermöglichte. Während die Militärs, die sich als Wächter von Atatürks Erbe betrachteten, die Politik überwachten, gab es vor allem in den 1970er Jahren Gewalt zwischen linken und rechten Gruppierungen auf den Straßen. Gleichzeitig gelang keine politischen Einigkeit.

Alleine zwischen 1972 und 1980 wurden 16 Politiker mit einer Regierungsbildung beauftragt. Zwar schaffte es Turgut Özal, die Wirtschaft erfolgreich zu liberalisieren, indem er das Land wie ein Wirtschaftsunternehmen "managte", doch der Aufschwung und die damit einhergehende Ruhe waren immer nur von kurzer Dauer. Phasen instabiler Koalitionsregierungen gehörten zum Alltag. Insgesamt gelten die 1990er Jahre als "verlorenes Jahrzehnt". Das Land befand sich wirtschaftlich in einer dauerhaften Krise. Eine 2001 vom Dachverband der Türkischen Industrie- und Handelskammern (Türkiye Odalar ve Borsalar Birliği) veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass türkische Politiker in den 1990er Jahren rund 195 Milliarden US-Dollar verschwendet hatten – etwa die Summe des damaligen jährlichen Bruttoinlandsprodukts. Hätte es diese Verluste nicht gegeben, wäre die türkische Wirtschaft mutmaßlich um 9,2 Prozent pro Jahr gewachsen.

Aufstieg des politischen Islam

Doch dann betrat ein Mann die Bühne, der nach Atatürk die prägendste politische Gestalt der Türkei wurde: Recep Tayyip Erdoğan. Geboren 1954 im Istanbuler Viertel Kasımpaşa, wuchs er in armen Verhältnissen auf. Sein Vater war Seemann, seine Mutter Hausfrau, Erdoğan musste als Kind Lebensmittel auf den Straßen verkaufen, um die Familie zu unterstützen. Schon früh engagierte er sich politisch. So trat er der 1972 gegründeten islamistischen Nationalen Heilspartei (Millî Selamet Partisi, MSP) von Necmettin Erbakan bei und wurde Vorsitzender des Istanbuler Jugendverbandes der Partei. Nachdem die MSP nach dem Militärputsch 1980 verboten worden war, wurde Erdoğan stellvertretender Vorsitzender der aus ihr hervorgegangenen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi). 1994 wurde er trotz geringer Erfolgsaussichten zum Bürgermeister von Istanbul gewählt. Wegen seiner effizienten und volksnahen Amtsführung wurde er rasch so populär, dass selbst bürgerliche Schichten mit ihm sympathisierten. Der damit einhergehende Aufstieg des politischen Islam veranlasste die Justiz, gegen Erdoğan vorzugehen. Vor allem eine Rede war es, die den Verlauf von Erdoğans Leben verändern sollte – und damit auch die Zukunft der Türkei. Bei einer Kundgebung in der südöstlichen Stadt Siirt 1997 trug Erdoğan ein Gedicht des nationalistischen Kultursoziologen Ziya Gökalp (1874–1924) vor: "Unsere Minarette sind Bajonette und die Kuppeln unserer Moscheen Helme, so wie die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Soldaten sind." Nachdem schon im selben Jahr sein Mentor Erbakan auf Druck der Armee als Ministerpräsident zurückgetreten war, kam nun Erdoğan an die Reihe. In einem politischen Verfahren wurde er wegen Anstiftung zu religiösem Hass angeklagt, er musste für vier Monate ins Gefängnis und erhielt Politikverbot. Doch die Herabsetzung machte Erdoğan noch populärer. Bei einem Protestmarsch in Istanbul versicherten ihm mehr als 5000 Demonstranten ihre Unterstützung. "Befiehl uns zu sterben, wir werden sterben. Befiehl uns zu schießen, wir werden schießen", riefen sie. Erdoğan beklagte, "wir leben in einem repressiven und totalitären System, das die Meinungs- und Pressefreiheit ebenso unterdrückt wie fast alle anderen Menschenrechte", und prangerte die Inhaftierung von Journalisten und das Verbot von Parteien in der Türkei an. Nach seiner Haft veröffentlichte er sogar eine Langspielplatte mit dem Titel "Dieses Lied endet hier nicht" ("Bu Şarkı Burada Bitmez"). Enthalten waren ausgewählte Gedichte und ein Song. Laut Medienberichten war es mit einer Million verkauften Exemplaren das meistverkaufte Album des Jahres 1999.

Rückblickend war Erdoğans Haftzeit ein prägendes Erlebnis, welches auch in der offiziellen Biografie auf seiner Webseite prominent erwähnt wird. Er verließ das Gefängnis mit verschärftem Groll gegen die Eliten, die seine Frömmigkeit offen verspotteten, sich über seine Herkunft aus der Arbeiterklasse lustig machten und versuchten, ihn aus dem politischen Establishment zu verbannen. Erdoğan erkannte während dieser Zeit auch, dass er mit einer islamisch-konservativen Partei stets das Eingreifen des Militärs würde fürchten müssen. Als es zum Zerwürfnis zwischen Erdoğan und Mitgliedern der Tugendpartei (Fazilet Partisi), der Nachfolgeorganisation der inzwischen verbotenen Wohlfahrtspartei kam, reichte eine Gruppe von Reformern unter Führung von Erdoğan im August 2001 beim Innenministerium die Gründungspapiere für die AKP ein. Als Parteisymbol wählten sie eine Glühbirne. Zwar dufte Erdoğan bei der Parlamentswahl im November 2002 wegen seiner Vorstrafe nicht kandidieren, doch war er das prägende Gesicht der AKP im Wahlkampf, die schließlich mit sensationellen 34,3 Prozent der Stimmen die Wahl gewann und die politische Instabilität im Land beendete. Zunächst bekleidete Erdoğans Parteifreund Abdullah Gül das Amt des Ministerpräsidenten, nach einer Verfassungsänderung übernahm dann Erdoğan im März 2003 den Posten. Er kündigte Reformen an, mit denen die bürgerlichen Rechte und Freiheiten, die Menschenrechte und der Rechtsstaat gestärkt werden sollten. Als Ziele seiner Wirtschaftspolitik nannte Erdoğan unter anderem stabiles Wachstum, Ausgabendisziplin, Schuldenabbau und die Senkung der Inflation. Der zuvor wegen religiösem Hass Verurteilte klang plötzlich wie ein Liberaler. Er respektierte die Rechte von Minderheiten und begann sogar Friedensgespräche mit der PKK. Er ließ Reformen umsetzen, die das Land so dringend brauchte, darunter die Abschaffung der Todesstrafe und die Zulassung kurdischer Medien. Erdoğans erste Amtsjahre werden von Beobachtern als eine Art Lehrzeit betrachtet, in der er sich darauf konzentrierte, das Vertrauen der Türken und der internationalen Gemeinschaft zu gewinnen.

So verwundert es rückblickend nicht, dass Erdoğan die Parlamentswahlen 2007 und 2011 gewinnen konnte und fortan immer selbstbewusster auftrat. Es gelang ihm, den Staatsapparat immer mehr zu seinen eigenen Gunsten umzuformen. Er trieb gigantische Infrastrukturprojekte voran, die Wirtschaft wuchs. In Verfassungsreferenden 2007 und 2010 wurden die Rechte von Frauen, Kindern und Menschen mit Behinderung ausgebaut, allerdings festigten die Veränderungen zugleich auch die Macht der AKP und leiteten eine Ära des religiösen Konservatismus ein. Es war auch Erdoğans Engagement, die Türkei in den Klub der europäischen Nationen zu heben, das ihm als Argument dafür diente, die verfassungsmäßigen Beschränkungen seiner Macht aufzuheben. Um den EU-Beitritt der Türkei voranzutreiben, wurden Befugnisse des Militärs beschnitten und es der zivilen Kontrolle unterworfen. Im zweiten Jahrzehnt seiner Herrschaft riss Erdoğan dann verstärkt die Kontrolle über die Medien sowie staatliche Institutionen an sich und wurde immer intoleranter gegenüber Kritikern, was international vor allem während der Gezi-Proteste im Spätsommer 2013 deutlich wurde. Die Demonstrationen, die in Istanbul begannen, bevor sie sich über das ganze Land ausbreiteten, wurden mit einem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte beantwortet. Dennoch wurde Erdoğan 2014 erstmals zum Präsidenten gewählt.

Gleichzeitig wurden Glaube und Religion zu einem weiteren Vehikel, um die eigene Macht zu festigen. Zwar wandelte die Republik seit ihrer Gründung schon immer auf einem schmalen Grat zwischen Religion und Politik. Doch seit der Machtübernahme der AKP hat sich der staatlich geförderte Einfluss der Religion auf das gesellschaftliche Leben deutlich erweitert. Erdoğan hat sich zunehmend vom Laizismus verabschiedet. Besonders sichtbar wird dies an der umstrittenen Debatte um das Kopftuch. Wurde das Tuch von den Kemalisten aus dem öffentlichen Dienst und dem Bildungswesen verbannt, lockerte die AKP das Kopftuchverbot ab 2008 schrittweise und erlaubte die Verschleierung zunächst wieder an den Universitäten und Schulen, dann im öffentlichen Dienst, im Parlament und schließlich auch bei der Polizei und in der Armee. Dass zum hundertsten Geburtstag der Republik eine First Lady mit Kopftuch die Feierlichkeiten begleiten würde, hätte sich Atatürk wohl kaum vorstellen können. Zudem wurde unter der Herrschaft Erdoğans das Diyanet zu einem mächtigen politischen Akteur ausgebaut. Das 1924 gegründete Präsidium für Religionsangelegenheiten sollte nach dem Ende der osmanischen Herrschaft ein Vakuum füllen. Die Geistlichen waren seitdem Bedienstete der Regierung, Religion wurde dem Staat untergeordnet, Institutionen des Islam wurden in die Bürokratie eingebunden. Das Diyanet ist "nur" für sunnitische Muslime zuständig, der sunnitische Islam wurde damit zum Staatsglauben aufgewertet. Nicht-Sunniten, von denen die Aleviten die größte Gruppe darstellen, wurden nicht durch das Diyanet vertreten und damit faktisch diskriminiert. In der Ära Erdoğan wurden der Haushalt der Behörde, ihre Verwaltungskapazitäten und ihre Aufgaben massiv ausgedehnt. Regierungspolitik und religiöse Themen wurden immer enger miteinander verzahnt. Zum Beispiel kam Ali Erbaş, Chef der Diyanet, im September 2021 zur Eröffnung eines neuen Dienstgebäudes des Obersten Berufungsgerichts und sprach dort öffentlich ein Gebet.

Dass Erdoğan am 28. Mai 2021 auf dem symbolträchtigen Taksim-Platz in Istanbul eine Moschee einweihte – auf den Tag genau acht Jahre nach dem Beginn der Gezi-Proteste –, sorgte für vergleichsweise wenig Aufregung. Von dieser Moschee, in der rund 4000 Menschen Platz haben, hatte Erdoğan bereits in den 1990er Jahren zu seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul geträumt. Seither überragt das Gotteshaus das Denkmal der Republik, das Akteure des Unabhängigkeitskrieges mit Atatürk in der Mitte darstellt und das bislang die Hauptattraktion des Platzes war.

Im Juli 2016 geschah dann eine politische Katastrophe: Ein Putschversuch scheiterte – mit gravierenden Folgen bis in die Gegenwart. Nach offiziellen Angaben wurden in jener Nacht mehr als 250 Menschen getötet. Erdoğan machte den in den USA lebenden muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen verantwortlich und ließ Zehntausende festnehmen. Mehr als 2500 Menschen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Zehntausende in Justiz, Militär und Medien wurden entlassen. Es folgte ein zweijähriger Ausnahmezustand, in dem unter anderem kritische Medien geschlossen wurden. Erdoğan etablierte ein Präsidialsystem, das ihm noch größere Macht sichert, und verabschiedete sich mehr und mehr von Rechtsstaatlichkeit und einer wirksamen Gewaltenteilung.

Trotz der desaströsen Inflation, dem verheerenden Erdbeben mit über 50000 Toten im türkisch-syrischen Grenzgebiet im Februar 2023 und einem Katastrophenmanagement, für das Ankara heftig kritisiert wurde, gelang Erdoğan im Mai 2023 die Wiederwahl – obwohl Meinungsumfragen seinen Herausforderer, den Chef der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, teils klar vorne gesehen hatten. Was dabei im Westen oftmals übersehen wird, ist die Tatsache, dass Erdoğan eine starke Bindung zum größten gesellschaftspolitischen Block der Türkei aufgebaut hat: den religiösen Konservativen. Seine Anhänger sehen in ihm den Verfechter der frommen anatolischen Massen, einen starken Mann, der die Religion wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens gerückt hat, nachdem die türkische Bevölkerung jahrzehntelang von westlich orientierten kemalistischen Eliten regiert wurde – und es ist eine Tatsache, dass Erdoğan diesen gläubigen Menschen mehr Teilhabe ermöglicht hat. Zudem gewinnt er Zuspruch mit seiner Erzählung, dass er trotz der vielen Feinde im In- und Ausland die Türkei wieder groß gemacht habe. Das "Jahrhundert der Türkei" war eines der zentralen Themen in Erdoğans letztem Wahlkampf. Er bezieht sich damit auf die anstehende Hundertjahrfeier der türkischen Republik, die auch für ihn von besonderer Bedeutung ist: Gegründet von einem Atheisten, der den Glauben kontrollieren wollte, lenkt nun er – ein konservativer Sunnit – das Land. Für die einen ist er ein machtgieriger, autoritärer Herrscher, für die anderen der Architekt einer modernen Türkei. Auf jeden Fall ist er nach seiner Wiederwahl nun weitere fünf Jahre im Amt. Damit wird er voraussichtlich ein Vierteljahrhundert ohne Unterbrechung an der Macht sein – länger als der Republikgründer Atatürk.

Außenpolitik zwischen Ost und West

Hatte Atatürk dem Land noch außenpolitische Neutralität verordnet, wurde dies mit dem Beginn des Mehrparteiensystems nicht mehr aufrechterhalten. Unter Adnan Menderes nahm Ankara 1950 am Koreakrieg teil. Die von Atatürk geforderte kulturelle Westorientierung wurde schließlich durch außenpolitische Bündnisse und Beitritte manifestiert: Seit 1945 ist das Land Mitglied der Vereinten Nationen, 1950 folgte die Mitgliedschaft im Europarat und 1952 der Nato-Beitritt. 1973 wurde die Türkei Gründungsmitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Der Wunsch, die Westorientierung durch einen EU-Beitritt voranzutreiben, besteht schon seit über vier Jahrzehnten. 1999 wurde das Land offizieller Beitrittskandidat der EU – bislang ergebnislos. Von Brüssel enttäuscht, hat sich Ankara außenpolitisch zunehmend vom Westen ab- und Asien und Russland zugewandt. Seit die Türkei unter einer massiven Wirtschaftskrise leidet, sind auch die wohlhabenden Staaten in der Nachbarregion als Geschäftspartner besonders interessant geworden.

"Geografie ist Schicksal", lautet eine Redewendung, die ganz besonders auf die Türkei zutrifft. Das Land erstreckt sich von Asien nach Europa und grenzt an Griechenland, Bulgarien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Iran, Irak und an Syrien – eine Position, die Ankara für sich zu nutzen weiß. Denn trotz der eingefrorenen EU-Beitrittsgespräche ist die Türkei immer noch ein unverzichtbarer Akteur für die europäische Sicherheit und die europäischen Interessen. Das Land stellt die südöstliche Flanke der Nato dar und verfügt nach den USA über die zweitgrößte Armee innerhalb des Bündnisses. Insbesondere in der gegenwärtigen Situation des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, in der die Nato größtmögliche Geschlossenheit anstrebt, ist die Türkei ein wichtiger Bündnispartner. Auch deswegen kann Erdoğan in Bezug auf Russland eine Schaukelpolitik betreiben.

Zwar verurteilt Ankara Russlands Vorgehen in der Ukraine, beteiligt sich aber als einziges Nato-Mitglied nicht an den Sanktionen. Gleichzeitig pflegt Erdoğan enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, zumal die Türkei abhängig von russischen Rohstoffen ist. Die Türkei nimmt im russisch-ukrainischen Krieg zwar eine aktive, aber neutrale Position ein. Denn auch Kiew und Ankara sind wichtige Handelspartner und haben Abkommen und Vereinbarungen über Waffenverkäufe in Milliardenhöhe unterzeichnet. So setzt die Ukraine Kampfdrohnen ein, die von der Türkei noch vor Ausbruch des Krieges geliefert worden sind.

Zu seinen Nachbarstaaten pflegt Erdoğan ein ambivalentes Verhältnis. Die Beziehungen der Türkei zu Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten hatten sich nach den Aufständen des Arabischen Frühlings 2011 verschlechtert, denn Ankara hatte zuvor die dortigen oppositionellen Kräfte unterstützt. Nachdem 2018 der saudische Journalist Jamal Khashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul getötet worden war, waren die Beziehungen zu Riad zusätzlich belastet. Erdoğan beschuldigte "höchste Ebenen" der saudischen Regierung, den Befehl dazu gegeben zu haben. Doch nachdem die Inflation nicht enden wollte, startete der Präsident 2021 eine diplomatische Offensive gegenüber den Nachbarstaaten, die zur Verbesserung der Beziehungen und zu Staatsbesuchen und Investitionsvereinbarungen für die türkische Wirtschaft führte. Im Juli 2023 unterzeichneten die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate Verträge im Umfang von mehr als 50 Milliarden US-Dollar. Es handelte sich dabei um Abkommen beziehungsweise Absichtserklärungen für Erdbebenhilfen, Exportfinanzierung, Energie, Verteidigung und andere Branchen. Auch mit Saudi-Arabien wurden eine Reihe von Absichtserklärungen in verschiedenen Bereichen unterzeichnet. Zudem hat Erdoğan Ambitionen, die Türkei als einflussreiche Großmacht auf der geopolitischen Weltbühne zu platzieren. So wurde auf Erdoğans Geheiß auch das militärische Engagement Ankaras im Ausland ausgebaut. Unter anderem in Libyen, Katar und Somalia ist das Land ein wichtiger politischer, wirtschaftlicher und militärischer Akteur.

Fazit

Auch wenn vieles an Erdoğans Außenpolitik wie ein chaotischer Zickzackkurs erscheinen mag, hat Ankara in seiner Regierungszeit konsequent drei grundlegende außenpolitische Ziele verfolgt: Macht, strategische Unabhängigkeit und Wohlstand. Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise und der politischen Spaltung zeigt sich jedoch, dass die Regierung zum hundertjährigen Bestehen der Republik nicht allen ihren Zielen gerecht geworden ist. Wohin sich die Türkei in Zukunft bewegen mag – etwa in ihrer demokratischen Verfasstheit, ihren außenpolitischen Zielen oder in der Kurdenfrage –, bleibt abzuwarten. Sicher ist nur, dass das Land bisher alle Krisen meistern konnte. Auf eine bleierne Zeit folgte immer wieder ein demokratischer Fortschritt. So ist die Türkei eine Erfolgsgeschichte, trotz allem.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ranking der 20 Länder mit dem größten Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2022, 28.4.2023, Externer Link: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157841.

  2. Vgl. Klaus Kreiser, Atatürk. Eine Biographie, München 2008.

  3. Zit. nach Çiğdem Akyol, Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan, Frankfurt/M. 2023, S. 49.

  4. Vgl. Klaus Kreiser, Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart, München 2012, S. 57.

  5. Vgl. Rainer Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft?, München 2008, S. 206.

  6. Vgl. Agence France-Presse (AFP), Der unaufhaltsame Recep Tayyip Erdoğan, 29.5.2023.

  7. Vgl. Udo Steinbach, Geschichte der Türkei, München 2003, S. 57.

  8. Vgl. Hermann (Anm. 5), S. 118.

  9. Associated Press (AP), Istanbuler Bürgermeister wegen Volksverhetzung angeklagt, 12.2.1998.

  10. Vgl. AFP, Massenproteste in Istanbul gegen Absetzung von Bürgermeister, 24.9.1998.

  11. Siehe Externer Link: http://www.tccb.gov.tr/en/receptayyiperdogan/biography.

  12. Vgl. Steinbach (Anm. 7), S. 37.

  13. Vgl. Hermann (Anm. 5), S. 157–164.

  14. Vgl. Nach der Eröffnung des Gebäudes des Obersten Gerichtshofs erfolgte die Eröffnung des Türkevi mit dem Gebet von Erbaş [Türkisch], 20.9.2021, Externer Link: http://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/1870503.

  15. Vgl. Truppenstärke der Streitkräfte der NATO nach Staaten von 1990 bis 2023, Externer Link: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36914.

  16. Vgl. AP, Türkei schließt mit den Emiraten Milliardenverträge, 20.7.2023.

  17. Vgl. Klaus Kreiser, Atatürk. Eine Biographie, München 2008.

  18. Zit. nach Çiğdem Akyol, Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan, Frankfurt/M. 2023, S. 49.

  19. Vgl. Klaus Kreiser, Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart, München 2012, S. 57.

  20. Vgl. Rainer Hermann, Wohin geht die türkische Gesellschaft?, München 2008, S. 206.

  21. Vgl. Agence France-Presse (AFP), Der unaufhaltsame Recep Tayyip Erdoğan, 29.5.2023.

  22. Vgl. Udo Steinbach, Geschichte der Türkei, München 2003, S. 57.

  23. Vgl. Hermann (Anm. 5), S. 118.

  24. Associated Press (AP), Istanbuler Bürgermeister wegen Volksverhetzung angeklagt, 12.2.1998.

  25. Vgl. AFP, Massenproteste in Istanbul gegen Absetzung von Bürgermeister, 24.9.1998.

  26. Siehe Externer Link: http://www.tccb.gov.tr/en/receptayyiperdogan/biography.

  27. Vgl. Steinbach (Anm. 7), S. 37.

  28. Vgl. Hermann (Anm. 5), S. 157–164.

  29. Vgl. Nach der Eröffnung des Gebäudes des Obersten Gerichtshofs erfolgte die Eröffnung des Türkevi mit dem Gebet von Erbaş [Türkisch], 20.9.2021, Externer Link: http://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/1870503.

  30. Vgl. Truppenstärke der Streitkräfte der NATO nach Staaten von 1990 bis 2023, Externer Link: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36914.

  31. Vgl. AP, Türkei schließt mit den Emiraten Milliardenverträge, 20.7.2023.

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ist Journalistin und war Redakteurin bei "taz – die Wochenzeitung" in Berlin und Türkeikorrespondentin der Austria Presse Agentur mit Sitz in Istanbul. Als freie Journalistin schreibt sie unter anderem für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die "Neue Zürcher Zeitung" und "Zeit Online". 2023 erschien von ihr "Die gespaltene Republik. Die Türkei von Atatürk bis Erdoğan". Externer Link: http://www.cigdemakyol.com