Am 29. Oktober 2023 feiert die Republik Türkei ihr hundertjähriges Bestehen. Aus dem Osmanischen Reich hervorgegangen und im Unabhängigkeitskrieg hart erkämpft, hatte ihr Gründungsvater, Mustafa Kemal Atatürk, einen fortschrittlichen Staat nach westlichem Vorbild vor Augen. Mit einer Politik, die republikanische, nationalistische und laizistische Werte in den Vordergrund stellte, legte er den Grundstein für die rasche Entwicklung der jungen Republik. Doch dieser Weg war nicht frei von Rückschlägen: Regierungen zerbrachen oder wurden durch das Militär weggeputscht und die Gesellschaft erlitt vielfache soziale, kulturelle und religiöse Brüche, die auch gegenwärtig noch bestehen.
Als Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 2002 die Parlamentswahlen gewann, weckte er Hoffnungen auf Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung. Anfangs noch als Muslim Democrat bezeichnet, wandte er sich als Minister- und Staatspräsident zunehmend einer autoritären Politik zu und begann, das Regierungssystem zu seinen Gunsten umzubauen. Obwohl das Ergebnis der jüngsten Präsidentschaftswahl nur knapp für Erdoğan ausfiel, konnte er bislang Mehrheiten hinter sich und die AKP vereinen. Die türkische Gesellschaft bleibt indes gespalten: Die einen sehen Erdoğan als Vertreter der gläubigen Bevölkerung und als Architekten einer modernen und starken Türkei, die ihre nationalen Interessen auch global durchsetzen kann. Andere bezeichnen ihn als machtversessenen Autokraten, der die Demokratie im Land mehr und mehr untergräbt.
Zum hundertsten Geburtstag kann die Republik auf eine beeindruckende Geschichte zurückblicken. Dennoch sieht sie sich weiterhin mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert, allem voran einer anhaltenden Wirtschaftskrise, innenpolitischen Spannungen und dem nach wie vor ungelösten Kurdenkonflikt. Während das politische System zunehmend auf die Person des Staatspräsidenten zugeschnitten ist, ist vielleicht unklarer denn je, in welche Richtung sich das Land in den kommenden hundert Jahren entwickeln wird – auch wenn Erdoğan eines Tages nicht mehr im Amt ist.