Wovon träumen Sie, wenn Sie von einem besseren Deutschland träumen? Was ist Ihr "German Dream"?
Düzen Tekkal: Eigentlich ist mein persönlicher "German Dream" das Leben, das ich leben darf. Weil ich weiß, dass das nie selbstverständlich war. Aber weil ich den German Dream kollektiv definiere, geht es eben nicht nur um den singulären, individuellen German Dream, sondern ich träume von einem Deutschland, in dem dieser Traum für alle möglich ist – egal, welchem Geschlecht der- oder diejenige angehört, welcher Religion oder welcher Nationalität. Dass wir da noch einen langen Weg vor uns haben, ist klar, aber trotzdem möchte ich an diesem kollektiven gemeinsamen Traum festhalten. Ich glaube an einen "German Dream der Vielen" in einer diversifizierten Gesellschaft, in der jede/r Vierte mittlerweile "Zuwanderungsgeschichte" hat. Es geht also um einen gemeinsamen, kollektiven Traum – und das ist ja tatsächlich nichts typisch Deutsches.
Warum, glauben Sie, ist das so?
– Der Künstler Heinz Mack sagte mal in einem Interview: "Dunkel muss es sein in Deutschland. Ich wollte aber ins Helle." Wir tun uns gesamtgesellschaftlich in Deutschland leider immer noch schwer damit, ins Helle zu gehen. Ich glaube, dass zum Gelingen einer Gesellschaft neben der Problemperzeption und -beschreibung auch eine gehörige Portion Optimismus, Übermut und auch Träume gehören – ohne die Probleme dadurch kleinzureden. Daran muss ich heute, einen Tag nach der Oscarverleihung, oft denken – und daran, was der Oscarpreisträger Ke Huy Quan, der für seine Rolle in "Everything Everywhere All at Once" ausgezeichnet wurde, in seiner berührenden Dankesrede gesagt hat: "Träume sind etwas, an das man glauben muss. Ich habe meinen fast aufgegeben. An alle da draußen: Bitte haltet an euren Träumen fest."
Warum erzähle ich das? Weil es so ein Moment war, in dem ich mich daran zurückerinnerte, warum ich die Bildungsinitiative German Dream damals ins Leben gerufen habe. Damals habe ich mir die Frage gestellt: Warum reden wir eigentlich so wenig über unseren German Dream? Über das, was klappt, über das, was gelingt in dieser Gesellschaft. Ich fand es bedrückend, dass stattdessen der Begriff der "German Angst" es in den weltweiten Sprachgebrauch geschafft hat, der ein vermeintliches Deutschland der Grenzen und Mauern beschreibt – und in dem ich mich überhaupt nicht wiederfand. Durch die Oscarverleihung bin ich wieder daran erinnert worden. Ke Huy Quan wurde als Sohn chinesischer Eltern in Vietnam geboren, ist 1978 mit seiner Familie vor dem Vietnamkrieg geflohen, als er gerade einmal acht Jahre alt war, und ist dann mit seinem Vater und fünf weiteren Geschwistern in einem Flüchtlingslager in Hongkong gelandet. Nachdem seine Familie 1979 in die USA immigrieren durfte, hat er irgendwann seinen Weg gemacht. Aber das war kein gradliniger Weg, es war schwierig für ihn, er ist immer wieder an Grenzen gestoßen. Er bekam unter anderem wegen seiner Herkunft und seines Akzents oft keine Engagements – und nun ist er genau dafür mit dem Oscar ausgezeichnet worden. Er selbst sagte in seiner Dankesrede, dass es solche Geschichten eigentlich nur im Film gibt. Wir müssen uns aber auch um diejenigen kümmern, die keinen Oscar gewinnen. Meine Freundin Azadê Peşmen sagt immer: Mein "German Dream" ist "German Mittelmäßigkeit". Es geht gar nicht darum, immer Höchstleistungen zu erbringen, sondern darum, so akzeptiert zu werden, wie man ist – so "viel", so kulturell bereichernd oder auch so "anders", wie man ist.
Warum gibt es diesen sprichwörtlichen "amerikanischen Traum", während wir uns mit dem deutschen so schwertun?
– Das hat sicher auch mit unserer spezifisch deutschen Geschichte zu tun. Wenn man ein solches Menschheitsverbrechen wie den Holocaust begangen hat, dann ist das etwas, an das wir uns immer erinnern müssen. Aber es geht natürlich auch um die Lehren aus dem "Nie wieder". Und dazu gehört für mich neben der Erinnerungs- und Gedächtniskultur auch, eine Gesellschaft zu bauen und zu schaffen, die gegen solche Entmenschlichungen immunisiert ist. Dafür brauchen wir Narrative darüber, was es heutzutage bedeutet, deutsch zu sein. Und diese Narrative müssen wir selbst entwickeln. Wenn wir das nicht tun, hinterlassen wir Leerstellen, die von religiösen Extremisten, Rassisten, Faschisten und Antisemiten gefüllt werden, die definieren wollen, was Deutschland ist. Solche Leerstellen sind gefährlich. Wir müssen sie selbst besetzen und uns zutrauen, sie zu füllen. Ich glaube, dass wir uns noch immer nicht genügend zutrauen, zu sagen: Ja, es gab in unserer Geschichte Entmenschlichung, es gibt Dinge, an die wir ein Leben lang erinnern müssen – und trotzdem müssen wir auf diesen Trümmern leben und eine Gesellschaft bauen. Auch ich als Bürgerin dieser Gesellschaft, die keine autochthon deutschen Vorfahren hat, fühle mich mitverantwortlich für das, was hier passiert ist – und auch dafür, diese Form der Entmenschlichung in Zukunft zu verhindern.
Viele sagen ja, der "American Dream" sei mittlerweile eine Legende, weil er seine Aufstiegsversprechen nicht mehr einlöst. Der "German Dream", wie wir ihn verstehen, geht weit über diese sozioökonomische Frage hinaus. Der größte "Resilienzmuskel" nutzt nichts, wenn man permanente und strukturelle gesellschaftliche Ausgrenzung erfährt. An diesen Strukturen müssen wir rütteln, zum Beispiel durch die Weiterbildung von Bildungs- und Lehrkräften. Dort müssen wir ansetzen in einer Gesellschaft, die sich diversifiziert und verändert und die mit einer Parallelität von Krisen konfrontiert ist, die neue Probleme hervorbringt. Die Zusammensetzung der Schülerschaft etwa verändert sich, und darauf müssen auch Lehrkräfte und Schulen reagieren. Wir haben in deutschen Schulklassen mittlerweile viele Kinder aus der Ukraine, russischstämmige Kinder, Kinder aus Syrien, dem Irak und aus vielen anderen Ländern. Das sorgt für ganz neue und andere Dynamiken. Was wir mit unserer Initiative "German Dream" versuchen, ist, dort beherzt hineinzugehen und mit Wertedialogen, Gesprächen mit Zeitzeugen und den ganz konkreten Werten der freiheitlich demokratischen Grundordnung deutlich zu machen, dass es keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Privileg ist, in Frieden, Selbstbestimmung und Sicherheit zu leben.
Das versuchen wir zu vermitteln, indem wir ganz konkret am Lebensalltag der Schülerinnen und Schüler teilnehmen. Jeden Tag findet an einer deutschen Schule ein solcher Wertedialog statt. Dabei machen wir die Erfahrung, dass wir die Attraktivität von "Bildung als Recht" viel stärker hervorheben müssen. Wenn ich beispielsweise an Afghanistan denke, wo es Geschlechterapartheid gibt und wo das Menschenrecht auf Bildung Frauen und Mädchen verwehrt wird, nur weil sie Mädchen und Frauen sind, dann zeigt das, dass dieses Thema nach ganz oben auf die Agenda gehört. Dieses Recht auf Bildung müssen wir verteidigen – hier und anderswo.
Welche Rechte, welche Werte und Normen gehören für Sie noch zu einem solchen Narrativ einer lebenswerten Gesellschaft? Was macht diese für Sie aus?
– Wir brauchen als Gesellschaft einen gemeinsamen Nenner, der über das Grundgesetz hinausgeht. Ein Commitment, ein Bekenntnis, das tagtäglich vorgelebt wird. Dazu gehört für mich, dass wir fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und jedweden "-ismus" verurteilen. Das betrifft neben dem Rassismus und dem Antisemitismus auch den religiösen Extremismus und den Islamismus, bei denen wir uns lange Zeit gescheut haben, ihn klar und deutlich anzusprechen, weil wir nicht in eine falsche Ecke gestellt werden wollten. Wir müssen aber gerade an die schmerzhaften Themen herangehen: an den sekundären Antisemitismus, den autochthon deutschen, den israelbezogenen. Es ist wichtig, sich dieser Probleme anzunehmen. Das dürfen wir nicht den "bösen Zwillingen" überlassen, den religiösen Extremisten und den Rassisten. Das haben wir als Gesellschaft auch gar nicht nötig. Wenn wir Themen und Probleme nicht ansprechen, sie schönreden oder relativieren, werden sie nur noch größer. Wir müssen hier die Diskussion und auch die Konfrontation suchen.
Schulen sind ja kein "lebensleerer Raum", sondern sie sind gekoppelt an Lebensrealitäten. Damit sich diese Lebensrealitäten nicht entkoppeln, müssen wir gerade die jungen Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit abholen. Und die hat viel mit "Identitätsthemen" zu tun. Wenn wir es schaffen, aus der Tatsache der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft einen identitätsstiftenden Faktor zu machen – nicht den alleinigen, aber einen unter vielen –, dann wäre allein das schon sehr wertvoll. Wir hören oft in unseren Wertedialogen: "Aber wenn ich afrikanische Wurzeln habe oder türkische oder kurdische oder arabische – dann kann ich ja nicht deutsch sein." Diese Gleichzeitigkeit zuzulassen, ohne ein schlechtes Gewissen oder das Gefühl zu haben, man "versündige" sich an der Herkunftskultur – da brauchen wir eine Kultur des Wandels. Denn machen wir uns nichts vor: Natürlich ist es so, dass Menschen mit sichtbarer Migrationsgeschichte andere Diskriminierungserfahrungen machen als Menschen ohne Migrationsgeschichte. Wenn ich mich gar nicht gewollt fühle, dann geht es mir eben nicht so leicht über die Lippen, zu sagen: Ich gehöre zu dieser Gesellschaft. Wir können diese diskriminierenden Strukturen nur überwinden, wenn ein "Gewolltsein" auch vorgelebt wird.
Wie genau lassen sich diese Diskriminierungsstrukturen aufbrechen? Welche Akteure sind hier besonders gefragt? "Die Politik"? Die Schule? Das Elternhaus?
– Wir alle! Es ist wichtig, dass wir nicht mit dem Finger auf andere zeigen, sondern uns ganz persönlich die Frage stellen, welchen Teil wir selbst dazu beitragen können, der Entstehung von Feindbildern etwas entgegenzusetzen. Wir alle haben Vorurteile, da bin ich mir ganz sicher. Letztlich geht es um eine rassismuskritische Gesellschaft, die nicht im Schwarz-Weiß-Denken steckenbleibt, sondern auf die Grautöne achtet; die nicht in Stereotypen denkt, sondern sich der Lebenswirklichkeit der Menschen zuwendet. Gerade junge Menschen, die Rassismuserfahrungen machen, müssen die Möglichkeit haben, darüber zu sprechen und sich darüber auszutauschen. Bei unseren Bildungsprogrammen haben wir schon den Eindruck, dass sich in einem sicheren Gesprächsumfeld oft Resonanzräume öffnen, in denen Menschen sich trauen, über ihre Marginalisierungserfahrungen zu sprechen. Ich selbst hatte viele Jahre Probleme damit, über solche nicht so schönen Erfahrungen zu reden, weil ich mich und andere damit verschonen wollte, aber auch das Gefühl hatte, ich kann das der Gesellschaft nicht zumuten. Das ist häufig das Problem von Rassismus: Er beschämt denjenigen, der zum Opfer von Rassismus wird. Dabei müsste der Täter beschämt sein für das, was er tut.
Diese Form von Unrecht müssen wir durchbrechen, indem wir eine Kultur implementieren und vorleben, in der es in Ordnung ist, über diese Dinge zu sprechen. Das kann man aber nicht von oben oktroyieren, es muss von unten kommen. Es muss aus der Gesellschaft, aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen. Ich fände es schwierig, wenn man versuchen würde, diese Kultur politisch "von oben" zu erzwingen. "German Dream" ist ein Lebensgefühl, eine Bewegung – das kann man nicht verordnen. Es ist gewissermaßen das Gegenteil von "Leitkultur". Bei der geht es immer nur darum, wer wem was sagt. Die Zeiten, in denen die Mehrheitsgesellschaft der Minderheitsgesellschaft erklärt, wie diese Gesellschaft funktioniert, sind aber zum Glück vorbei. Das gilt auch für das Thema "Integration". Die Frage ist ja: Wen will man wohinein integrieren? Das ist im Übrigen nicht nur eine Frage von Migration, sondern gilt zum Beispiel auch für jene Menschen in Ostdeutschland, die nach 1990 vielleicht auch an der ein oder anderen Stelle "Integrationsschwierigkeiten" hatten, weil sie sich abgehängt fühlten oder auch heute noch fühlen. Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, lässt sich nicht auf Herkunft oder Nationalität reduzieren. Das sind soziale Herausforderungen, und die sind oft sehr, sehr ähnlich.
Ist denn "Integration" überhaupt der richtige Begriff, wenn wir über die Probleme sprechen, die Sie gerade umrissen haben? Seit den "Silvesterkrawallen" ist wieder viel davon die Rede – was halten Sie von dieser "Integrationsdebatte"?
– Ich finde die Debatte einerseits wahnsinnig überholt und gleichzeitig erschreckend, dass sie immer noch so gut funktioniert. Wenn der Migrationshintergrund nur dann zum Vordergrund wird, wenn es Probleme gibt, dann habe wiederum ich ein Problem damit. Das heißt nicht, dass man irgendwen aus der Verantwortung entlassen soll – wer Mist baut, muss auch dafür belangt werden, völlig egal, wo die Person herkommt. Aber da verlaufen die Trennlinien doch nicht entlang der Herkunft! Es sind doch besonders die Ladeninhaber mit Migrationswurzeln, die unter den Krawallen gelitten haben. Dieser Vorstellung muss man mit aller Vehemenz entgegenwirken. Es ist doch nicht der Name, der darüber entscheidet, wie jemand drauf ist! Wenn wir das glauben, finden wir uns ganz schnell erneut in einer Gesellschaft der Feindbilder und Entmenschlichungsszenarien wieder.
Das bedeutet nicht, irgendetwas schönzureden oder über Probleme zu schweigen. Aber diese konkreten Probleme sind bei den Sozialarbeitern vor Ort doch viel besser aufgehoben, die Tausendmal besser wissen, was man konkret tun kann. Die Zeiten, in denen man über den "Clash of Cultures" auf Stimmenfang gehen kann, sollten eigentlich vorbei sein. Auf jeden Fall müssen wir solchen Versuchen etwas entgegensetzen. Ich glaube, dass Parteien, die sich nicht darum bemühen, Personen gleich welcher Couleur einzubinden, mittelfristig im Wettbewerbsnachteil sein werden. Das gleiche gilt für die Wirtschaft: Es ist erwiesen, dass Unternehmen mit größerer Diversität innovativer und erfolgreicher sind. Wir brauchen diese Menschen. Wir können gerne im Ausland nach Fachkräften Ausschau halten, wir sollten uns parallel dazu aber auch um unsere eigenen Fachkräfte kümmern und sollten nicht vergessen, die Potenziale auszuschöpfen, die gewissermaßen auf der Straße liegen. Es gilt, das Beste aus unseren Möglichkeiten herauszuholen und nicht das Schlechteste.
Was müssten, was könnten Zuwanderer und Zuwanderungsgesellschaft besser machen?
– Ich glaube, die eigene Kraftanstrengung kann einem niemand abnehmen. Man muss schon auch selbst dazu bereit sein, sich auf den Weg zu machen und sich für seine Rechte einzusetzen. Aber diese Selbstverständlichkeit wird konterkariert, wenn der Name darüber entscheidet, ob jemand dazugehört oder nicht. Es geht darum, sich aufeinander zuzubewegen. Nur so gelingt "Integration", wenn man dieses Wort denn weiter verwenden möchte. Es geht darum, Geschichten sicht- und hörbar zu machen. Und das sollten nicht immer nur die Geschichten sein, die negativ besetzt sind. Wir müssen mehr darüber sprechen, was gelingt. Denn tatsächlich gelingt vieles deutlich besser als oft behauptet wird. Wenn es aber "Integrationsunwillen" gibt, wenn ich diesen Rechtsstaat mit Füßen trete oder wenn ich seine Werte verachte, dann muss ich mich auch selbst hinterfragen, ob dieses Land für mich wirklich infrage kommt und das richtige für mich ist. Die Feinde der Demokratie bedrohen alle Personen unserer offenen Gesellschaft, sie bedrohen auch die angekommenen Migranten, das sollten wir nicht vergessen. Unsere Werte heißen Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung – wenn jemand diese Werte nicht teilt, dann greift er damit uns alle an, nicht nur die autochthon deutsche Gesellschaft.
Man hat zunehmend das Gefühl, dass diese Gesellschaft nach den vielen Krisen und Herausforderungen der vergangenen Jahre – Finanzkrise, Fluchtdebatte 2015, Corona, jetzt der Krieg in der Ukraine – zerstrittener, uneiniger und gespaltener ist denn je. Teilen Sie diesen Eindruck – und was könnte man dagegen tun?
– Ja, aber das ist eigentlich kein schlechtes Zeichen. Sondern es ist positiv, dass über diese Fragen gestritten wird, gerade dann, wenn alle "an einem Tisch sitzen", wie der Soziologe Aladin El-Mafaalani immer sagt. Der gemeinsame Kuchen wird dadurch nicht kleiner, sondern größer. Und trotzdem habe ich vollstes Verständnis für die Krisenmüdigkeit vieler. Die Parallelität der Krisen kann überfordern. Letztlich geht es hier aber vor allem um das Menschenbild, das wir von uns selbst und von anderen haben: Dass wir in der Lage sind, zu unterscheiden, wer Opfer und wer Täter ist. Dass wir uns darüber klar werden, wer wir sein und wie wir uns verhalten wollen. Dass wir unseren "Menschlichkeitsmuskel" trainieren. Dass wir genauso empathisch sind mit den Menschen in der Ukraine wie mit den Menschen in Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Das schließt sich ja nicht gegenseitig aus. Eine "Opferkonkurrenz" darf es hier nicht geben. Die gibt es immer dann, wenn willkürlich Unterschiede zwischen Menschen gemacht werden und strukturell benachteiligt wird. Das zu verhindern, ist die Aufgabe von Staat und Gesellschaft gleichermaßen.
Streit und Konflikt können also durchaus auch positive Effekte für die Demokratie haben. Gibt es Grenzen des produktiven Streits? Wo hören Toleranz und Pluralismus auf?
– Da bin ich ganz beim Philosophen Karl Popper: Keine Toleranz der Intoleranz! Wir müssen die Dinge nicht über uns ergehen lassen. Wenn rote Linien übertreten werden, wenn jemand, der Entmenschlichung erfahren hat, selbst entmenschlicht, dann sind diese Grenzen erreicht beziehungsweise überschritten. Ich versuche schon, immer wieder Diskursräume zu öffnen, so viel und so weit wie möglich. Aber mit Verfassungsfeinden zu diskutieren, ergibt für mich keinen Sinn. Wir haben nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung, und da müssen wir uns schon genau überlegen, welche Kämpfe sich zu kämpfen lohnen und welche nicht. Choose your battles! Es ist Teil meiner Lebenserfahrung als Menschenrechtsaktivistin, dass es sich nicht lohnt, nach den "toxischen Geschenken" zu greifen, bei denen nichts zu gewinnen ist. Man muss in solche Debatten gehen, in denen noch nicht alles festgefügt ist, wo noch etwas zu verändern ist. Dort hineinzugehen lohnt sich.
Ein Kern der Bildungsarbeit von "German Dream" sind die vorhin schon angesprochenen Wertedialoge. Wie muss man sich die vorstellen?
– Mittlerweile hat sich das so ein bisschen zu "Rent a Wertedialog" entwickelt, was mich sehr freut. Schulen, Schulleiter, Schüler und Eltern melden sich bei uns und sagen: Wir hätten gerne einen Wertedialog zu einem bestimmten Thema, etwa zum Krieg in der Ukraine, zum Thema Antisemitismus, zum Thema Gleichberechtigung und Frauenrechte, zu Afghanistan. Wir haben mittlerweile Hunderte sogenannte Wertebotschafter in ganz Deutschland, die für solche Dialoge in die Schulen gehen. Das sind zum Teil Menschen, die sehr bekannt sind und die man aus der Öffentlichkeit kennt – Schauspieler, Künstler, Musiker, Politiker, Sportler –, aber auch die unbesungenen Alltagshelden, die mir besonders lieb sind. Diese Wertebotschafter gehen in die Schulen, stellen sich dort vor und erzählen von ihrem individuellen, aber auch von ihrem kollektiven "German Dream". Und darüber, wo sie selbst Grenzen erfahren haben.
Dieser Austausch hat nach unserer Erfahrung einen hohen Impact, weil er nicht nur auf diese eine Begegnung angelegt ist, sondern langfristiger. Zum Beispiel machen wir auch ganze Projektwochen zu einem bestimmten Thema. Vor allem geht es bei diesen Dialogen aber darum, welche Sorgen die Schüler bewegen. Was haben sie zu erzählen? Was wollen sie teilen, was wollen sie mal loswerden? So entsteht über diesen Dialog hinaus ein Mehrwert für alle Beteiligten. Was interessant ist: Jeder Wertedialog ist anders. Man kann ihn im Vorfeld nicht wirklich planen, sondern er entwickelt sich im Gespräch. Natürlich gibt es bestimmte Themen, mit denen die Schulen auf uns zukommen und sagen: Wir haben dieses und jenes Problem, was könnt Ihr uns hier raten? Dann überlegen wir, welcher Wertebotschafter zu diesem Thema gut passen würde. Wir haben zum Beispiel Leon Goretzka als Wertebotschafter gewinnen können, der ja ein ganz neuer Typus von Fußballer ist: mit politischer Haltung und einem Verständnis für die Relevanz von Menschenrechten. Früher hätte man gesagt, dass Politik im Sport nichts verloren hat. Das hat sich wahnsinnig gewandelt. Und wenn dann jemand wie Leon Goretzka sagt, "Bildung ist mir wichtig und ich habe alles gegeben, um dieses Abitur zu machen, auch wenn es vielleicht nicht das beste von allen war", dann macht das einen wahnsinnigen Eindruck auf die Schüler. Da können wir uns den Mund fusselig reden, das hat nicht denselben Wert, wie wenn jemand wie Leon Goretzka das anhand seines persönlichen Lebenswegs sagt. Die authentische Vita dieser Wertebotschafter animiert und motiviert die Schüler extrem. Was wir daraus gelernt haben: Wir brauchen mehr "Role Models", die nah an den Biografien der Schülerschaft sind, die vielleicht auch mal ähnlich aussehen oder einen ähnlichen sozialen Hintergrund haben.
Gibt es Themen, die in diesen Wertedialogen immer wieder aufkommen, die für die Schülerinnen und Schüler besonders drängend sind?
– Ja, das sind tatsächlich Themen wie gesellschaftlicher Zusammenhalt und Identität. Und dann, interessanterweise auch bei autochthon deutschen Kindern und auch bei Lehrern, die Fragen: Was darf ich sagen? Darf ich was sagen? Darf ich mich am Diskurs beteiligen? Bei uns dürfen ja auch Deutsche Wertebotschafter werden (lacht). Das klingt jetzt etwas provokant, aber ich will damit sagen: Für uns war von Anfang an klar, dass unsere Initiative für alle zugänglich sein muss. Denn natürlich gibt es den "German Dream" auch für autochthon deutsche Kinder, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen, vielleicht Klassismus erlebt haben, die sozial abgehängt waren – und dann aber vielleicht als erste in der Familie einen akademischen Bildungsabschluss machen. Auch das ist ein "German Dream", und der hat eben nicht nur etwas mit Herkunft zu tun.
Weitere häufig aufkommende Themen sind Feindbilder, Entmenschlichung, Ab- und Ausgrenzung (auch innerhalb der Migrantenmilieus), Rassismus in allen möglichen Abstufungen und Antisemitismus. Dazu Fragen wie: Wie konfrontiere ich Dinge, die mich stören? Und das Thema Gleichberechtigung spielt immer eine große Rolle, auch, was sexuelle Identitäten und gleichgeschlechtliche Liebe betrifft. Das "normale Leben" findet eben auch in Schulräumen statt, und es ist immer wieder erstaunlich, wie weit die Kids da sind.
Ist es in einem solchen Dialog schwierig, solch abstrakte Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit oder Gleichberechtigung auf die Lebenswirklichkeiten der Schülerinnen und Schüler runterzubrechen?
– Nein. Das passiert gewissermaßen automatisch, weil in diesen Dialogen ja Menschen zusammenkommen, die ihre Geschichte erzählen. Als ich selbst in einem meiner Wertedialoge von meinen Erfahrungen im Irak berichtete, sagte eine Schülerin zu mir: "Wenn ich das in den Medien lese, dann glaube ich das nicht. Aber wenn Du mir das jetzt erzählst, dann verstehe ich das, dann kann ich nachvollziehen, was dort passiert." Eine andere sagte: "Ich wusste das alles gar nicht. Ich hatte auch keine Ahnung, wer die Jesiden sind." Und als wir sie fragten, was das Gespräch bei ihr verändert hat, antwortete sie: "Das hat mich in meinem Menschenbild erweitert." Das fand ich wahnsinnig stark. Wenn man diese Empathie, diesen "Menschlichkeitsmuskel" in diesen Dialogen ein bisschen trainieren kann, dann ist schon viel gewonnen.
Wir leben in einer Zeit, in der es sehr viele Fragen, aber wenige Antworten und Sicherheiten gibt. Das macht etwas mit der Seele, das macht was mit den Menschen. Wir sind in gewissem Sinne sehr verwöhnt in Europa, weil wir uns unserer individuellen Rechte immer sehr sicher waren. Doch plötzlich sind wir konfrontiert mit Kriegen, die immer näher zu rücken scheinen. Kriegsangst ist übrigens auch gerade ein großes Thema in den Wertedialogen und die Frage, wie ich mit diesen Kriegsängsten umgehen kann. Zugleich zeigen gerade die Schüler ein hohes Maß an Aktivismus, indem sie etwa demonstrieren gehen und ihre Interessen artikulieren. Auch bei Fridays For Future geht es letztlich ja um Menschenrechte. Und darum, sich gegenseitig zu bereichern und zu inspirieren.
Welches Land wird die Bundesrepublik in zehn Jahren sein? Werden wir ein Land sein, das Ihrem "German Dream" nähergekommen ist?
– Mit Sicherheit. Wenn ich sehe, was sich in den vergangenen Jahren schon alles zum Besseren verändert hat und dass plötzlich Dinge möglich werden, die man früher nicht für möglich gehalten hätte, dann bin ich optimistisch. Aber es geht vor allem um die nächste Generation. Meine Mutter hat mich erzogen mit dem Satz: "Wenn alle 100 Prozent geben, dann müsst ihr 200 Prozent geben." Ich will in einer Gesellschaft leben, wo wir alle gleich viel oder gleich wenig geben müssen. Und ich will stolz sein auf ein Land, das sich für menschenwürdige Verhältnisse weltweit einsetzt, das Menschen aufnimmt, die in Not sind, und das für Menschenrechte hier und anderswo eintritt. Da müssen wir uns im internationalen Vergleich schon heute nicht verstecken – und wo wir diesem Anspruch nicht gerecht werden, werden wir das auch in Zukunft kritisieren.