Obwohl Politik vielen in erster Linie als das gilt, "was möglich ist",
Trotz dieses roten Fadens der Traumschilderung, der sich durch die politische Ideengeschichte zieht, sind die Charakteristika und Funktionen dieser Sprech- und Schreibform aber kaum auf einen Nenner zu bringen. Eine universelle, überzeitliche Wirkungsweise des Träumens in der Politik oder gar des Sprechens über Träume im politischen Kontext existiert nicht. Umso aufschlussreicher ist es, zu analysieren, wie das Träumen unter verschiedenen politischen Bedingungen funktioniert – und in welchem Verhältnis es zu anderen Techniken imaginativer Horizonterweiterung im Politischen steht, etwa zu politischen Visionen und Utopien. Weshalb und wem also erzählen politische Akteure von ihren Träumen?
Träume von Herrschern, Träume von Herrschaft
Über einen langen Zeitraum sind politische Träume – zumindest im Kontext der kanonischen Ideengeschichte von biblischer beziehungsweise griechisch-römischer Antike über das Mittelalter bis in die Renaissance – die Traumbeschreibungen mächtiger Individuen. Beim eingangs erwähnten, von Josef gedeuteten Pharaonentraum handelt es sich nur um ein besonders prominentes Beispiel unter vielen. Die Schilderung wichtiger handlungsleitender Träume gerade von Führungspersonen lässt sich darauf zurückführen, dass "ihre Träume als besonders authentisch angesehen wurden. Ihre Träume waren also von Interesse, weil ihre Chancen größer waren, entsprechender Träume teilhaftig zu werden."
Der prophetisch-aktivierende Charakter politisch relevanter nächtlicher Eingebungen zieht sich als roter Faden bereits durch antike Traumschilderungen. Im 2. Gesang der Homerischen "Ilias" schickt Zeus dem König Agamemnon einen trügerischen Traum, der ihm einen schnellen und sicheren Sieg über Troja verheißt und ihn so zum Angriff motiviert.
Diese besonders kanonischen, aus heterogenen Kontexten stammenden Beispiele verdeutlichen bereits drei Merkmale des politischen Traumes in der Antike:
Träume sind häufig als göttliche Kommunikation an Sterbliche konzipiert.
Berichtet werden in erster Linie Träume politischer Führungspersonen, also von Monarchen oder Feldherren.
Diese Herrscherträume drücken nicht etwa die Pläne oder Wünsche der träumenden Person aus, sondern stellen eine anleitende "Eingebung" dar. Sie haben somit prognostischen, prophetischen und daran orientierten handlungsanleitenden Charakter.
Besonders aufschlussreich sind die in einem engeren Sinne politischen Schriften der römischen Antike. Immer wieder nutzen Autoren politischer Schriften das Erzählvehikel des Traumes: Innerhalb der rahmenden Handlung eröffnet die Traumschilderung eine weitere narrative Dimension. Sie greift weit in die Zukunft vor oder in ein imaginiertes Jenseits und sprengt damit den Horizont des Erwartbaren und Möglichen in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht. In der "Aeneis" des Vergil spielen Träume eine zentrale Rolle – so zum Beispiel die Traumerscheinung Kassandras im 5. Gesang, die den Untergang Trojas prophezeit und die Verbrennung der griechischen Flotte fordert, aber insbesondere auch der Traum von Aeneas selbst im zweiten Buch. Am Vorabend der Zerstörung Trojas erscheint der getötete Hektor dem Protagonisten und rät ihm, die Hausgötter aus der alten Stadt fortzuschaffen – in eine neue, von ihm zu errichtende. Die Gründung Roms, über das Vergil in dessen augusteisch-imperialer Blütezeit schreibt, ist also direkt auf die handlungsanweisende Weissagung aus dem Jenseits an einen künftigen Herrscher zurückzuführen.
Auffällig ist, dass in der Rezeption sowohl epischer Texte als auch politischer Abhandlungen gerade der römischen Antike den in epische Großnarrative eingepflegten Binnenträumen besondere Aufmerksamkeit zuteil wird; Traumszenen gelten mit großer Regelmäßigkeit als Schlüsselszenen. Der somnium scipionis wurde in seinen staatstheoretischen, narratologischen wie kosmologischen Implikationen von Petrarca über Johannes Kepler bis zu neueren Debatten um die Entstehung von Science Fiction in der Antike diskutiert, und beim von Vergil geschilderten Traum des Aeneas handelt es sich um nichts weniger als eine der zentralen Quellen römisch-imperialer Herrschaftslegitimation.
Königliche Träume von großer politischer Relevanz durchziehen auch die mittelalterliche europäische Literatur – vom Rolandslied, das vier Träume Karls des Großen rekapituliert,
Visionen als Träume in der modernen Politik
Auch wenn eine holzschnittartige Epochentrennung häufig in die Irre führt: Im politischen Denken der Moderne spielen Träume, insbesondere im Vergleich zur Vormoderne, eine stark gewandelte Rolle. Zurückzuführen ist das nicht nur auf die Entwicklung der säkularen, am Individuum orientierten psychologischen Wissenschaft, sondern auch auf die Transformation von Politik: In der Moderne bildet sich zunehmend ein Politikbegriff heraus, der auf menschliche Gestaltbarkeit ebenso abhebt wie auf die Bedeutung langfristiger politischer Planung.
Die politische Moderne ist durchzogen von Visionen gesellschaftlicher Verbesserung und Fortschritt, die zu Mobilisierungszwecken gegenüber einem größeren Adressatenkreis kommuniziert werden. Sie produzieren "ein alternatives, potenziell hegemonial wirksames Gesellschaftsbild – eine Vorstellung von einem normativ wünschenswerten und technisch-organisatorisch funktionalen gesellschaftlichen Zusammenwirken der Individuen".
Völlig andere politische Visionen wurden und werden ebenfalls emphatisch als "Träume" kommuniziert: Wladimir Iljitsch Lenin, charismatischer Orator und Agitator, berichtet in seiner zentralen Frühschrift "Čto delat’?" ("Was tun?") aus dem Jahr 1902 – also lange vor den sozialistischen Revolutionen und der Gründung der ersten Staatsduma 1905 – von seinem Traum (mečta) einer politischen Bewegung, die sich über ganz Russland erstrecke und damit endlich wie ein "gewaltiger Blasebalg" revolutionäre Kraft entfachen könne.
Mit der Rahmung der eigenen Zukunftsvorstellung als Traum – also genau genommen: mit der Metaphorik des Träumens
Darauf weist etwa auch die nicht allein spirituelle, sondern ganz konkret christliche Aufladung von Kings Rede hin. Der Baptistenpastor entwirft seine Rede im Stil einer Predigt und durchwebt sie mit Bibelzitaten und -anspielungen – so etwa in der Schlusspassage ("all of God’s children, Black men and white men, Jews and Gentiles, Protestants and Catholics"),
Wenn das Traum-hafte in der modernen Politik also vor allem zum rhetorischen Überzeugungs- und Überhöhungsvehikel wird, so bleibt die Frage nach der inhaltlichen Substanz der vermittelten Visionen offen: Was genau wird von modernen Rhetoriker*innen als Trauminhalt transportiert? Bei den politischen Visionen der Moderne handelt es sich um ambitionierte, fortschrittsorientierte Zukunftspläne, die bewusst über das direkt Machbare und Mögliche hinausgehen.
Traum, Vision und Utopie
Wie eng Traum, Vision und Utopie miteinander verwoben sind, illustriert ein gut 130 Jahre alter US-amerikanischer Text. Edward Bellamys Roman "Looking Backward: 2000–1887" erzählt die Geschichte des Bostoners Julian West, der versehentlich aus dem Jahr 1887 in die Zukunft reist und sich dort mit einer sozialistischen Utopie vertraut macht. Im Boston des Jahres 2000 herrscht gesellschaftliche Gleichheit innerhalb einer globalen Föderation; die Menschheit hat eine Industriegesellschaft ohne Armut hervorgebracht, die effizient, aber ohne Ausbeutung von Mensch oder Umwelt funktioniert. Das zentrale Motiv des Romans ist jenes des Traumes: Der Protagonist "verschläft" 113 Jahre unter Hypnose und wähnt sich nach seinem Erwachen im neuen Boston erst in einem Traum; in der neuen Realität glücklich eingewöhnt, befürchtet er, aus dieser wiederum zu erwachen und sich ins Jahr 1887 zurückgeworfen zu finden: "I had but dreamed of that enlightened and care-free race of men and their ingeniously simple institutions, of the glorious new Boston with its domes and pinnacles, its gardens and fountains, and its universal reign of comfort."
Bellamys Roman wird häufig als frühes Beispiel des Genres Science Fiction bezeichnet, aber auch als Exempel einer politischen Utopie: Er liefert eine dichte und stimmige Beschreibung eines (in diesem Fall: zeitlich) weit entfernten gesamtgesellschaftlichen, politischen wie ökonomischen Idealzustandes – in Form einer persönlichen "Begehung" nach dem Vorbild Morus‘. Bezeichnend ist die kunstvolle Verwobenheit von Traum, Vision und Utopie in Bellamys Text: Die an sich große argumentative Stringenz des utopischen Plans wird traumartig eingefasst, wodurch die normative Botschaft weniger streng und imperativ wirkt.
Die Rahmenhandlung einer höchst unwahrscheinlichen Zeitreise führt den Erzähler zur Entdeckung, Annahme und schließlich zur emphatischen Bekräftigung einer politischen Vision, die aus Sicht der 1880er Jahre gleichzeitig in weiter Ferne, anderseits aber auch in vorstellbarer zeitlicher Nähe erscheint.
"Looking Backward" verkörpert so die klassisch moderne Gemengelage aus Traum, Vision und Utopie: Im Vordergrund steht das politische Leitbild, das normativ beziehungsweise ideologisch fundiert ist – im Falle Bellamys also ein stimmiges sozialistisches Gesellschaftskonzept; es dominiert die Sicht auf Politik als Raum aktiver und planvoller politischer Gestaltung. Gleichzeitig ist die Zeitreise- beziehungsweise Traumrahmung ein narratives Vehikel, um den auf den ersten Blick illusorischen Charakter der Utopie einzuräumen und die schwierige Frage nach dem Weg zur Realisierung zu suspendieren.
Träume und Traumschilderungen sind in der modernen Politik also durchaus weiterhin präsent und wirkmächtig. Sie sind aber nicht mehr von einem transzendenten oder prophetischen Anspruch begleitet; moderne politische Träume sind keine Eingebungen. Vielmehr schildern politische Akteure ambitionierte politische Visionen utopischer Reichweite – und "verpacken" diese Schilderungen als Träume, um ihre Phantastik und scheinbare Unmöglichkeit anzuerkennen und sie sogleich zu transgredieren: Gute Politik, so die Botschaft bekennender Träumer*innen von Bellamy über Martin Luther King bis hin zu Jeremy Rifkin,
Helmut Schmidts Bonmot aus den 1980er Jahren, wonach Visionen ärztlicher Behandlung bedürfen, ist damit in der politischen Gegenwart keineswegs unangefochten. Diese Vorsicht gegenüber überambitionierten Veränderungen der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Realität speist sich aus dem Erfahrungshintergrund der ideologischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die von vielen Beobachter*innen mit dem Utopiegehalt der Totalitarismen in Verbindung gebracht wurden. Doch die Evokation des politischen Traumes – gerade, wenn kollektive Visionen für eine bessere, gemeinschaftlichere Zukunft gemeint sind – beharrt dagegen auf der Möglichkeit und dem kritischen Wert des Phantastischen.