Der 28. August 1963 war ein sonniger, heißer Tag. Seit den frühen Morgenstunden versammelte sich auf der National Mall vor dem Denkmal Abraham Lincolns, dem symbolischen Zentrum Washingtons, eine gewaltige, nahezu unüberschaubare Menschenmenge. Am Ende, so offiziöse Schätzungen, waren es wohl zwischen 200.000 und 400.000 Personen; die größte Demonstration, die es in der Hauptstadt der USA bis dahin gegeben hatte. Obwohl eine bemerkenswert friedliche Stimmung herrschte, lag eine allenfalls oberflächliche Ruhe über der Szenerie.
Schon im Vorfeld hatte der "National March for Jobs and Freedom", besser bekannt als "Marsch auf Washington", für erhebliche Unruhe auf allen Seiten gesorgt. Zum ersten Mal war es gelungen, sämtliche moderate und sogar einige radikalere schwarze Bürgerrechtsorganisationen an einen Tisch zu bringen und in die Vorbereitung einer Massenveranstaltung einzubinden. Neben dem National Council of Churches, der Katholischen Kirche und dem American Jewish Committee hatten sich die traditionsreiche, sehr moderate National Urban League (NUL), die nicht minder bekannte, seit Jahrzehnten aktive National Association for the Advancement of Coloured People (NAACP) sowie jüngere und aktivistischere Bürgerrechtsbewegungen – so etwa der eher im Norden aktive Congress on Racial Equality (CORE), das jüngst erst gegründete Student Non-Violent Coordinating Committee (SNCC) und die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) – zusammengetan, um der schwarzen Bürgerrechtsbewegung neue Impulse zu geben. Über alle weltanschaulichen und taktischen Unterschiede und Friktionen hinweg hatte man sich auf diese Großdemonstration geeinigt, um, für alle sichtbar, weitere Schritte auf dem langen Weg zur völligen Gleichberechtigung der schwarzen Minderheit in den USA zu tun.
Diskriminierung und Segregation
Und dies war zweifellos notwendig. 1963 lebten 12 Millionen von 19 Millionen Schwarzen noch immer in der rassistischen Kastengesellschaft des Südens mit seinen strengen Gesetzen zur Rassentrennung, den segregationistischen "Jim Crow Laws", die faktisch ein Apartheidsystem darstellten, das einzig der weißen Bevölkerung demokratische Teilhabe ermöglichte. Nur 0,5 Prozent der schwarzen Schulkinder besuchten zu diesem Zeitpunkt öffentliche Schulen, an denen sich auch weiße Kinder befanden, obwohl der Oberste Gerichtshof der USA die Rassentrennung im öffentlichen Schulsystem bereits 1954 in seinem bahnbrechenden Urteil Brown v. Board of Education of Topeka aufgehoben hatte. In den hochkonservativen Staaten South Carolina, Alabama und Mississippi, in denen die weißen Südstaatendemokraten, die lily whites, faktisch ein Einparteiensystem etabliert hatten, lag die Quote bei sage und schreibe 0 Prozent. Im Schnitt durften gerade einmal 8,3 Prozent der Schwarzen im Süden wählen, in vielen ländlichen Regionen lag dieser Anteil gleichfalls bei null. Obendrein war es Schwarzen weiterhin verboten, als Jurymitglieder an Gerichtsverfahren teilzunehmen, eine Maßnahme, die das Oberste Bundesgericht eigentlich schon im Jahre 1879 im Urteil Strauber v. West Virginia untersagt hatte, worum sich aber im tiefen Süden niemand scherte.
Angesichts dieser weißen Gewaltkultur im Süden, die aber auch im Norden und Westen durchaus Anklang fand, war die gespannte Atmosphäre entlang des Lincoln Memorial Reflecting Pools kein Wunder. Man musste jederzeit mit gezielten Terroranschlägen durch den Ku-Klux-Klan und andere gewaltbereite rassistische Organisationen rechnen. Die liberale Kennedy-Administration sorgte sich zu Recht um das Image der USA im Ausland, zumal die Bilder dieses Tages live nach Westeuropa übertragen wurden. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wäre ein Anschlag auf die Demonstranten eine außenpolitische Katastrophe für den Hegemon der "freien Welt" gewesen. Umgekehrt lag den Veranstaltern das Bild eines friedlichen und geordneten Ablaufs am Herzen. Sie wussten um die vielen weißen Amerikaner, die sich vor einer Revolution der Schwarzen fürchteten, zumal allein seit dem Frühjahr 1963 landesweit in 186 Städten über 700 Demonstrationen radikaler schwarzer Gruppen stattgefunden hatten, die zu annähernd 15.000 Verhaftungen geführt hatten. Laut Zahlen des Meinungsforschungsinstituts Gallup standen 63 Prozent der amerikanischen Bürger dem Marsch auf Washington zumindest skeptisch gegenüber. Schließlich hielt der Direktor des FBI, J. Edgar Hoover, immerhin einer der mächtigsten Männer des Landes, die schwarze Bürgerrechtsbewegung für eine kommunistische Tarnorganisation.
Wege und Ziele
Vor diesem spannungsgeladenen Hintergrund verfolgte der Marsch auf Washington gleich eine ganze Reihe von Zielen. Als erstes ging es darum, über die politische und gesellschaftliche Teilhabe der Schwarzen deren Gleichberechtigung am Arbeitsmarkt nicht aus den Augen zu verlieren. Trotz Wirtschaftswachstums und Vollbeschäftigung verdienten Afroamerikaner deutlich weniger für dieselbe Arbeit als weiße Amerikaner; ihr Aufstieg in die Mittelschicht wurde etwa durch informelle Netzwerke von Vermietern und Maklern verhindert, die sich weigerten, schwarze Mieter in qualitativ gehobene, vornehmlich weiße Nachbarschaften ziehen zu lassen. Schwarze waren deutlich stärker von Arbeitslosigkeit und einem Abrutschen in die Armut betroffen als Weiße, und dies galt nicht nur für den Süden. Zum zweiten galt es, Druck auf John F. Kennedy und seine Demokraten auszuüben. Nachdem die schwarze Führung im Wahlkampf 1960 große Hoffnungen auf den dynamischen, jungen Kandidaten aus der irischen Oberschicht Bostons gesetzt hatte, verzögerte Kennedy den anstehenden Civil Rights Act aus der berechtigten Furcht heraus, weiße Stimmen im Süden für seine Wiederwahl einzubüßen. Das dritte Ziel lag tiefer in der Struktur der schwarzen Bürgerrechtsbewegung begründet. Sowohl die legalistische Taktik von NUL und NAACP, die seit den 1920er Jahren vor US-Gerichten erhebliche Erfolge gezeitigt hatte,
Immerhin hatte es im März 1963 in Birmingham, einer der gewalttätigsten Metropolen des Südens ("Bombington"), Erfolge gegeben, da der dortige Sheriff, Eugene "Bull" O’Connor, genau so reagierte, wie man es von ihm erwartete, indem er Hunde auf schwarze Schulkinder und Frauen hetzte.
In dieser verzwickten Lage hatte A. Philipp Randolph, ein Veteran der Bewegung, die Initiative ergriffen.
Die Rolle Martin Luther Kings
King hatte eine im Grunde privilegierte Kindheit durchlebt. Als Sohn eines baptistischen Predigers zählte er zur schwarzen Mittelklasse und hatte an überwiegend weißen Colleges und Universitäten im Norden eine solide, zeitgemäße theologische Grundausbildung erhalten. Nicht zuletzt über seine Dissertation hatte er erhebliches soziales Kapital akkumuliert. Allerdings war auch sein Leben von der strukturellen Gewalt des Segregationsregimes nicht unberührt geblieben, zumal sein Vater in seiner Jugend ein Lynching hatte miterleben müssen. Mitte der 1950er Jahre, mit dem von Rosa Parks ausgelösten "Montgomery Bus Boycott", war King zum unbestrittenen Chef des SCLC aufgestiegen und hatte sich zu einem der bedeutendsten Köpfe der schwarzen Bürgerrechtsbewegung entwickelt, nicht zuletzt wegen seiner geschickt inszenierten medialen Präsenz. Dabei war er nicht unumstritten: Andere Geistliche, wie Fred Shuttlesworth oder Ralph Abernathy, sahen sich in den Hintergrund gedrängt, manche schwarze Frauen litten unter seinem Machismus, und viele junge Leute hatten in wachsendem Maße Probleme mit seinem rigiden Festhalten am Prinzip der Gewaltlosigkeit und seinen Vorstellungen von christlicher Nächstenliebe auch gegenüber den weißen Unterdrückern. Dennoch kam man um ihn als Hauptredner nicht herum, schon wegen seiner mitreißenden rhetorischen Fähigkeiten.
Und King lieferte.
Insofern markierte die "I Have a Dream"-Rede zugleich den Höhepunkt und den Anfang vom Ende der spezifischen Form der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und frühen 1960er Jahre, die in der präsidentiellen Rhetorik John F. Kennedys ihr gleichfalls liberales, universalistisches und optimistisches Gegenstück fand. Die Ermordung beider Protagonisten, Kings und Kennedys, sollte ein unmittelbares Anknüpfen an diese Rhetorik für Jahrzehnte unmöglich machen. Bei allen inhaltlichen Ähnlichkeiten und Überschneidungen unterschieden sich King und Kennedy gleichwohl erheblich voneinander. Den Reden des Präsidenten merkte man bis in den Tonfall und die Akzentuierung des Englischen an, wie sehr ihn und seine Redenschreiber das geistige Klima der Eliteuniversitäten von Harvard, Yale und Princeton geprägt hatte, aber auch den Erfahrungshintergrund der irisch-katholischen Oberklasse Bostons. King verleugnete demgegenüber niemals seine Herkunft aus dem evangelikalen Pfarrhaus und sein geistliches Amt in einer Historically Black Church (HBC), ganz im Gegenteil. Seine Ansprachen, aber selbst seine Schriften, bezeugten immer den Pfarrer. Der effektgeladene, repetitive, stets die Gemeinde unmittelbar ansprechende und zur Antwort auffordernde Redestil waren typische Produkte dieser schwarzen Kirchlichkeit. King beherrschte ihn wie kaum ein anderer.
Dies schlug sich selbstredend immer wieder inhaltlich nieder. King war ein profunder, durchaus systematischer, wenn auch mitunter etwas eklektischer Synthetiker, dem es gelang, die liberale, neo-orthodoxe Theologie seiner akademischen Lehrer an der Boston University mit Elementen zeitgenössischer existentialistischer und personalistischer Philosophie zu verbinden. In einzelnen Äußerungen zog er sogar die Naturrechtslehre des mittelalterlichen Philosophen Thomas von Aquin für seine Argumente gegen die Rassensegregation als in sich ungerechtes positives Recht heran. Dies verknüpfte er mit einem genuin liberalen Weltbild, insbesondere dem tiefen Glauben an die Universalität der allgemeinen Menschenrechte und der historischen, bislang allerdings uneingelösten Menschheitsmission der USA im Namen von Freiheit und Gleichheit. Hier war die Schnittmenge mit Kennedy zweifellos am Größten. Für King stand indes die Idee im Vordergrund, dass die Unabhängigkeitserklärung des Sklavenhalters Thomas Jefferson und die Verfassung der USA primär bislang uneingelöste Verheißungen einer besseren Zukunft beinhalteten. Bis zu diesem Punkt stand seine politische Theologie unverkennbar in der Traditionslinie des weißen Mittelklasseprotestantismus. King jedoch verband diese Variante der Neo-Orthodoxie sowohl mit der Tradition des Sozialprotestantismus, des social gospel, als auch mit Elementen aus den Traditionen der HBCs.
Universalismus ohne "Farbenblindheit"
Insbesondere zwei Punkte aus dem schwarzen Evangelikalismus standen dabei im Vordergrund: Zum einen die Vision vom mosaischen Exodus, zum anderen die Notwendigkeit eines prophetischen Wächteramts der christlichen Kirche, wie man sie gleichfalls in der Theologie Karl Barths finden konnte. King sah sich selbst als Propheten einer neuen, besseren, friedlichen Welt der Gleichberechtigung und der sozialen Reform und berief sich bevorzugt auf die sozialkritischen alttestamentarischen Propheten Amos und Jesaia, während er die negative Tradition der puritanischen Jeremiade ablehnte. Überdies stilisierte er sich als neuer Moses, der das verheißene Land Kanaan oder Israel zwar erblicken, nicht aber mehr erleben würde. Gelegentlich referierte er auf Josua, der das auserwählte Volk einst ins Heilige Land geführt hatte. Seiner prophetischen Vision wiederum legte er universalistische Visionen des Neuen Testaments, allen voran des paulinischen Schrifttums, zugrunde. Nicht zufällig spielt der Rekurs auf Gal. 328, 1. Kor. 1213, Röm. 1012 und Kol. 311 bei King eine zentrale Rolle. Dort geht es um die Aufhebung aller Unterschiede zwischen Freien und Sklaven, Heiden und Juden, Männern und Frauen in Christus. Diesen christlichen Universalismus verband King dann mit der spezifischen Erlöserfunktion der amerikanischen Schwarzen, eine geschickte Art, Mythen des weißen Mittelklasseamerikas gewissermaßen umzudrehen und als verkürzende, selbstbezügliche Fehldeutungen zu entlarven.
Normalerweise sahen sich die Amerikaner gerade vor dem Hintergrund des Kalten Krieges als redeemer nation, als Nation, die andere, in Unfreiheit lebende Nationen befreit und erlöst. Während King den antikommunistischen Kontext dieser Vorstellung nicht aktiv infrage stellte, hielt er den Amerikanern gleichzeitig prophetisch die eigene Erlösungs- und Gnadenbedürftigkeit wie einen Spiegel vor das Gesicht. Damit aber gab er den Leiden der Schwarzen gerade angesichts der Brutalität im Süden einen vertieften, christlichen Sinn. Die Schwarzen brachten in ihrem gewaltlosen Widerstand das Versöhnungsopfer dar, das Gott mit seinem neuen auserwählten Volk in Beziehung setzen sollte. Aus diesem Opfer ergab sich die zukünftige Verheißung eines gleichberechtigten und von Nächstenliebe geprägten Miteinanders der "Rassen" beziehungsweise ethnischen Gruppen. Erst dieses Opfer schuf die Grundlagen für die prophetische Verheißung eines neuen Israel, indem es Schwarze und Weiße in einem neuen amerikanischen Traum, einem Traum aller Amerikaner gleich welcher Hautfarbe, Klasse, sektionaler Herkunft oder Religion, verknüpfte und mithin sämtliche uneingelösten Wechsel der zivilreligiösen Heiligen Schriften (Unabhängigkeitserklärung und Verfassung) in die Realität eines ganz neuen Landes unter Gottes Herrschaft, das Königreich Gottes nämlich, überführte.
Kings komplexes Gedankengut war auf Synthese, Ausgleich und Vermittlung angelegt, aber es griffe interpretatorisch erheblich zu kurz, darin lediglich einen Ausfluss des "weißen" Liberalismus und Universalismus zu sehen.
Zentrale soziale Referenzgruppe, das eigentliche "Wir" seiner Reden, blieb für King indes "the American Negro", ein Begriff, der in der Traumrede mehr als ein Dutzend Mal prominent vorkommt. Weder rekurrierte er auf eine farbenblinde Gesellschaft, die so tut, als existierten keinerlei Differenzen,
Rezeption und Wirkung
Diese Synthese aus neo-orthodoxer und evangelikaler Theologie sowie moderner Philosophie, aus akademischer Intellektualität und persönlicher Erfahrung vor dem konkreten Zeithintergrund der Jahre um 1960 ließ sich dementsprechend nicht dauerhaft durchhalten. King selbst rückte im Zuge des eskalierenden Vietnamkriegs und der offenkundig rassistischen Behandlung schwarzer Soldaten in Südostasien allmählich davon ab. Er wurde radikaler und näherte sich in Rhetorik und Forderungen an den schwarzen Nationalismus an. Insbesondere seine Kampagnen in Chicago scheiterten, weil die Strukturbedingungen schwarzen bürgerrechtlichen Aktivismus in den Industriemetropolen des Nordens und Mittelwestens ganz anders waren als im Süden. Der Martin Luther King von 1968, dem Jahr, in dem er ermordet wurde, war ein anderer als der von 1963, obwohl er an zentralen Topoi seines Denkens und Handelns, allen voran dem gandhistischen Prinzip der Gewaltlosigkeit, unbeirrt festhielt.
Erst einmal aber fand die Rede über den Tag hinaus kaum weitergehende Beachtung.
Selbst jene schwarzen Politiker und Prediger, die unmittelbar aus seiner Bewegung hervorgingen, vermochten die Komplexität seiner Synthese nicht aufrechtzuerhalten. Wenn sich beispielsweise Jesse Jackson, der Anführer der demokratischen Regenbogenkoalition, in antisemitischen Äußerungen über Juden als "Hymies" erging, mochte er rhetorisch formal noch so sehr an King anschließen, inhaltlich verfehlte er ihn. Noch schlimmer erging es King postum in den Kreisen der verschiedenen radikalen schwarzen Bewegungen,
Wer immer sich fortan an King orientieren wollte, musste damit leben, zwischen der Skylla einer defizitären liberalen Erinnerungskultur und der Charybdis schwarzen, nationalistischen Unverständnisses zu navigieren. Am ehesten gelang dies Barack Obama,
Da Obama über ein eigenes, herausragendes rhetorisches Talent verfügt, konnte er dieses Defizit, das den gewandelten Zeitumständen geschuldet war, problemlos überspielen. Gerade der amerikanische Liberalismus hatte seit den 1960er Jahren eine intensive Säkularisierung durchlebt, die Kings Denken ähnlich verständnislos gegenüberstand wie der Antirassismus und der schwarze Nationalismus. Insofern beschränkt sich dessen zeitgenössische Rezeption derzeit eher auf rhetorische Annäherungen, wie man sie etwa auch bei der Vizepräsidentin Kamala Harris zu erkennen vermag. Martin Luther King, Jr. wird mit seiner synthetischen Kraft auf absehbare Zeit wohl ein Solitär bleiben.