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Mein Stuttgart - Essay | Stuttgart | bpb.de

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Mein Stuttgart - Essay

Kodimey Awokou

/ 12 Minuten zu lesen

Die Krawallnacht von Stuttgart vom 20. Juni 2020, in der Polizisten attackiert, Schaufensterscheiben eingeschlagen und Geschäfte geplündert wurden, hat Narben hinterlassen. Das Sicherheitsgefühl, das seit ich denken kann in Stuttgart vorherrscht, wurde mit einem Schlag erschüttert. Selbstverständlich kennen wir auch hier Kriminalität aller Art; dennoch würde ich behaupten, dass in Stuttgart eine friedliche Atmosphäre überwiegt, die es den Menschen erlaubt, sich nicht ständig um ihre Sicherheit sorgen zu müssen. Daher kam besagte Nacht für die meisten von uns auch so unerwartet. Im Herzen meiner Stadt, vor dem Gebäude, in dem wir viele Jahre unsere Büros hatten, eskalierte die Situation und gefährdet einen Frieden, den wir hier alle vielleicht zu sehr als gegeben erachten.

Die Krawallnacht selbst war schon schlimm. Noch schockierter war ich aber von der darauf folgenden öffentlichen Diskussion. Als im Nachgang bei einigen Tätern, trotz deutschem Pass, die Herkunft der Eltern ermittelt wurde, fühlte ich mich persönlich angegriffen. Das tat weh. Ganz unabhängig davon, dass solche Gewaltausbrüche selbstverständlich nicht tolerierbar sind, zeigte die Debatte doch sehr hässlich den Kern des Problems: Ab wann ist man Deutscher? Ab wann gehört man dazu? Wieso bei denen, die hier geboren sind und die einen deutschen Pass haben, auf die Herkunft der Eltern schauen? Das wirkte auf mich so, als würde man die Gewaltausbrüche mit allen Mitteln außerhalb der Stuttgarter Gesellschaft verorten wollen. Als würde man versuchen, den Grund für die Gewalt, die die Stadt in eine Art Schockstarre versetzte, auszulagern. Als könnten das keine Stuttgarter gewesen sein. "In Stuttgart gibt es das nicht", und daher macht man sich auf die Suche nach dem fremden Übel, selbst wenn man dafür bis zum Geburtsort der Eltern ausholen muss.

Natürlich muss man nach einer solchen Tat genau hinschauen, wer aus welchen Gründen gewalttätig geworden ist. Die reflexhafte Art aber, mit der man den Grund für die Gewalt in der Herkunft suchte, war verletzend und wurde Stuttgart, einer Stadt, in der das Zusammenleben unterschiedlichster Kulturen gut funktioniert, nicht gerecht. "Wir sollten es mit Multikulti nicht übertreiben", war die erste Äußerung des Innenministers von Baden-Württemberg, Thomas Strobl, die ich zu diesem Thema vernommen habe. Ich glaube, Herr Strobl hat nie wirklich in Stuttgart gelebt – richtig gut zu kennen scheint er diese Stadt jedenfalls nicht.

Afro-Schwabe

Mein Name ist übrigens Kodimey Awokou. Ich bin 1980 in Stuttgart geboren, meine Mutter kam ebenfalls hier zur Welt, und mein Vater stammt aus Togo. Westafrika. Das sag ich immer so, wenn man mich nach meiner Herkunft fragt. Ich habe immer das Gefühl, man erwartet das. Ich würde am liebsten einfach sagen: "Ich komme aus Stuttgart", aber das reicht den meisten nicht. Ich kann ihnen das nicht verübeln, bei vielen ist es einfach nur Interesse. Aber es ist schon ermüdend, das immer wieder erläutern zu müssen. Fast wie eine Rechtfertigung, die einem abverlangt wird. Als müsste ich meine Zugehörigkeit zu meiner Heimatstadt begründen.

Aufgewachsen bin ich am Stöckach, dem pulsierenden Verkehrsknotenpunkt, an dem sich der oft leichtfertig übersehene Stuttgarter Osten mit dem Rest der Stadt verbindet. Ich liebe diesen Teil der Stadt besonders. Einmal natürlich wegen der vielen Erinnerungen, die ich damit verbinde, aber auch dank der Einfachheit und Echtheit, der man hier, fernab von Gentrifizierung und hippen Start-Up-Unternehmen, noch begegnen kann.

Die vielen Arbeitersiedlungen in direkter Nachbarschaft zu schwäbischem Wohlstand auf relativ engem Raum schaffen eine für mich nach wie vor faszinierende, einzigartige Mischung. Es ist bunt, oft auch laut, man kann hier sein, wie man halt ist. Die in Verruf geratene schwäbische Ordnung, die sich bei genauem Hinsehen als durchaus nützlich und gar liebenswert erweisen kann, findet man trotzdem auch hier.

Hier lebten wir als Familie zu viert in der Hackstraße. Mal gab’s Linsen mit Spätzle, am Tag darauf Akume oder Fufu. Falco und afrikanische Highlife-Hits dröhnten im Wechsel aus der Stereoanlage. Der Häuserkomplex war eine ehemalige Zigarettenfabrik, riesig, mit sehr vielen Wohneinheiten und unterschiedlichsten Familien. Man sprach Deutsch, Türkisch, Kroatisch, Tigrinya, Rumänisch. Die Mutter des einen arbeitete als Ärztin, der große Bruder des anderen machte eine Ausbildung beim Daimler, und manche arbeiteten, wie mein Vater, als Karosseriebauer bei Porsche. Für uns war das alles nicht "Multikulti" und vor allem nicht übertrieben. Das war einfach Stuttgart.

Hier ist es anders, als es in Diskussionen über "Brennpunkte" gerne dargestellt wird. Die Menschen leben zusammen Seite an Seite. Zwar mit den üblichen Reibereien, aber im Großen und Ganzen friedlich. Bestimmt ist das zum Teil auch der wirtschaftlichen Situation in Stuttgart zu verdanken. Eine Unterteilung nach Wohngebieten – hier das "Araberviertel", dort das "Türkenviertel" –, so etwas gibt es in Stuttgart nicht wirklich. Klar, die Reichen wohnen eher auf dem Hügel, die mit weniger Einkommen im Kessel, aber man begegnet sich in dieser Stadt früher oder später immer. Man kann sich nicht einfach in seinen Wohlfühlbereich zurückziehen. Allein schon wegen der überschaubaren Größe und Einwohnerzahl Stuttgarts lässt sich die Begegnung mit Andersdenkenden oder Andersgläubigen nicht verhindern. Besser so für alle.

Alte Schule

Als 2008, zwei Jahre nach den Vorkommnissen an der Berliner Rütli-Schule, das Thema Integration immer noch hochkochte, besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Ostheimer Grund- und Realschule in Stuttgart-Ost. Schon meine Mutter war auf diese Schule gegangen. Sie verbrachte dort ihre gesamte Schulzeit, und ich erinnere mich, wie sie mal zu mir sagte, dass es in der Schule damals keine Kinder aus anderen Ländern gab. Das änderte sich innerhalb einer Generation rapide. Denn auch ich ging dort zur Schule, und in meiner Grundschulklasse hatte weit mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler einen "Migrationshintergrund" (irgendwie mag ich den Begriff nicht). Ich kann mich nicht daran erinnern, dass "Herkunft" in irgendeiner Form Thema an der Schule war. Nur von einem Jungen weiß ich noch, dessen Mutter ihm am ersten Schultag mit besorgter Stimme befahl: "Setz dich nicht neben einen Türken!" Dieses laute Flüstern, das keiner hören soll, aber doch jeder hört. Wir fanden es damals schon seltsam, so was zu sagen. Ich glaube, er saß dann die ganze 1. Klasse über neben Ercan.

Der Grund für den Besuch der Kanzlerin war ein erfreulicher: Die Ostheimer Schule in Stuttgart galt – und gilt immer noch, denke ich – als ein Beispiel "gelungener Integration". Eine Schule mit Kindern aus verschiedenen Kulturen, an der man schnell merkte: So unterschiedlich sind wir gar nicht. Alle freuten sich auf die große Pause, alle wollten Panini-Sticker tauschen (in den 1980ern zumindest) und Tischtennis spielen. Viele Hausaufgaben mochte Ercan genauso wenig wie sein ungehorsamer Sitznachbar.

Zu der Zeit von Kanzlerin Merkels Besuch war ich Student und wohnte in einer kleinen Wohnung am Ostendplatz, nur ein paar Straßen entfernt von meiner alten Schule, weshalb ich mich entschied, dem Spektakel beizuwohnen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was Frau Merkel genau gesagt hat; ich weiß nur noch, ich fand es gut, dass sie was gesagt hat, dass sie gekommen war und damit ein Zeichen gesetzt hatte. Allein mit ihrer Anwesenheit stellte sie sich dem nach den Berliner Ereignissen im Raum stehenden Verdacht entgegen, dass ein friedliches Zusammensein an einer Schule allein schon durch einen hohen Anteil an Migranten gefährdet sei. Und das in meiner Stadt.

Was der Opa noch wusste

Auf der Spurensuche nach dem Ursprung meiner Heimatliebe zu Stuttgart lande ich unausweichlich bei meinen Großeltern. Ich denke, ich habe mich nirgends so wohl und so zuhause gefühlt wie bei ihnen – egal, wo ich mit ihnen war; ob in ihrem bis ins Detail liebevoll gepflegten Garten oder in ihrer stets wohlig warm temperierten Wohnung. Mein Opa, ein Stuttgarter Urgestein, lebte mir so viele Eigenschaften vor, die uns Schwaben oft als negative Klischees vorgehalten werden: ein Sinn für Ordnung und Sauberkeit, Pünktlichkeit aus Respekt vor seinem Gegenüber, Strebsamkeit und natürlich die Treue zum VfB. Dazu noch der Wunsch nach Harmonie und die tiefe Liebe für die schwäbische Küche meiner Oma.

Ich hatte ein sehr enges und vertrauensvolles Verhältnis zu meinen Großeltern und versuchte in Gesprächen mit ihnen immer herauszufinden, wie das Leben in Stuttgart in ihrer Jugend war. Mein Opa erzählte mir etwa, dass es in seiner Jugend schon Tradition war, dass sich die Raitelsberger mit den Hallschlägern vor einer stadtbekannten Wirtschaft zu regelmäßigen Prügeleien verabredeten. Stuttgarter wissen, wovon ich rede. Ich fand das interessant, weil beide Viertel in meiner Jugend das waren, was man heute wohl als "Problembezirk" bezeichnen würde. Auch hier wurde die Ursache von Problemen häufig einem hohen Ausländeranteil zugeschrieben. Mein Opa wurde 1929 geboren – und schon damals hat man sich dort, ganz ohne Ausländer, gerne regelmäßig was auf die Nase gegeben.

Neue Schule

Dass Stuttgart eine Brutstätte für subkulturelle Bewegungen ist, trägt einen großen Teil zur Lebensqualität der Stadt bei – auch wenn das neben dem sonstigen, ebenfalls beindruckenden Kulturbetrieb wie der Oper oder dem Theater oft nicht genug zur Geltung kommt.

Für mich und andere besonders prägend, weit über Stuttgarts Grenzen hinaus, war zweifellos die Stuttgarter Hip-Hop-Kultur der 1990er Jahre. Die Kolchose, ein Zusammenschluss aus Bands und Künstlern wie Freundeskreis, Massive Töne, Afrob und anderen, war unser Vorbild und hat sehr viel in der Stadt bewegt. Die Texte handelten vom Leben in einer Stadt, wie wir sie täglich erlebten, abseits einer Ghetto-Sehnsucht nach den USA, fernab des bedrückenden Alltags französischer Banlieues. So wichtig diese harten Formen des Hip-Hops auch waren und nach wie vor sind, sie spiegelten nicht die Realität der Stadt am Neckar wider. Plätze, Menschen und Ereignisse aus Stuttgart tauchten plötzlich in Texten auf, regionale Sprüche wurden Zeitgeist, man traf sich an den Hotspots und Kreativzentren der Stadt und schaffte etwas gemeinsam, vereint durch die Ausdrucksform, die man lebte, alles für die Stadt, die man repräsentierte. Stuttgart war am Puls der Zeit, und man spürte das an jeder Ecke. Dabei spielte es nie eine Rolle, woher die Eltern kamen, ob sie reich oder arm waren; nur, was man zur Kultur beisteuerte, zählte. Vielleicht verklärt die Nostalgie meinen Blick auf diese Ära ein wenig, aber ich erinnere mich tatsächlich nur an ein positives Grundgefühl, eine elektrisierende Aufbruchstimmung, die die ganze Stadt antrieb und vieles hier in Gang gesetzt hat.

Auch der Grundstein für meine berufliche Laufbahn wurde in jener Zeit gelegt. Vor mittlerweile über 20 Jahren gründeten Freunde und ich im Herzen Stuttgarts das Hip-Hop-Label Chimperator Productions, das langsam aber stetig wuchs und Künstler wie Die Orsons oder Cro hervorbrachte. Mittlerweile sind aus der Schnapsidee von ein paar Jungs im Jugendhaus Mitte eine Plattenfirma, eine Booking-Agentur und eine Spielstätte entstanden, die allesamt zum Kulturbetrieb in Stuttgart beitragen dürfen. Bei all unseren Unternehmungen versuchen wir immer, den Geist der goldenen Ära des Stuttgarter Raps und dessen Werte einfließen zu lassen.

Die damalige Bewegung einer Jugend, die nicht direkt politisch war, aber doch gemeinsame Normen und Werte wie Toleranz und Weltoffenheit pflegte, war ansteckend und weitreichend. Die Stuttgarter Vorwahl 0711, die zum Gütesiegel für Rapkultur aus dem Kessel wurde, steht bis heute für "ein Stuttgart der Solidarität und der Gemeinschaft, für ein Konzept von Stadt, in dem Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Hintergründe friedlich miteinander leben", wie es in einem von sehr vielen Stuttgarter Kulturschaffenden unterstützten offenen Brief der 0711-Gründer heißt, der als Reaktion auf die sogenannte Querdenker-Bewegung initiiert wurde, die sich die 0711-Vorwahl ebenfalls zu eigen zu machen versuchte – eine Vereinigung, die unter anderem mit Nazis durch Berlin zieht und sich dabei anmaßt, unsere "Süße aus dem Süden mit dem Dialekt" zu repräsentieren. Dazu heißt es in dem offenen Brief weiter: "Wir verurteilen den Missbrauch des Symbols 0711 für populistische Zwecke und den Versuch, Popkultur aus hetzerischen und spalterischen Gründen umzudeuten, auf das Schärfste. Die Corona-Maßnahmen kritisch zu hinterfragen, ist wichtig. Auf Demos Seite an Seite mit Reichskriegsflaggenträgern zu marschieren, ist dagegen unverzeihlich." Dem ist nichts hinzuzufügen.

Schimpfen plus

Spreche ich mit Menschen aus anderen Städten, kommt immer wieder die Frage nach der Stuttgarter Protestkultur auf, die Frage, warum wir hier unten ständig meckern, uns dafür zusammentun und auf die Straße gehen. Allen voran kommt den meisten die Protestbewegung gegen "Stuttgart 21" in den Sinn, die bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Stuttgarter aller Altersklassen und politischer Gesinnungen waren vereint gegen das Milliardenprojekt. Auch wenn es wohl nicht die Mehrheit der Bürgerschaft war, die sich dem Protest anschloss, so schien es doch ein Querschnitt durch eine sehr vielfältige Stadtgesellschaft zu sein. Mit anhaltender Dauer flachte der Protest aus vielerlei Gründen ab. Es wurden Fakten geschaffen, und meiner Meinung nach hat sich der Protest irgendwann verrannt. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung am Schlossplatz, auf der ein Redner lauthals schreiend behauptete, das mit "Stuttgart 21" sei genauso wie mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak, weil auch hier die Bürger bevormundet würden. Bei solch abstrusem Quatsch, der Opfer von Krieg und Gewalt verhöhnt, sind die gemäßigten Stuttgarter dann halt irgendwann raus aus der Sache. Es ging schließlich um einen Bahnhof.

Aber ja, man kann schon sagen, dass wir Stuttgarter gerne schimpfen, und das reicht von der Oma am Fenster, die Falschparker mit einem beherzten "Des isch koi Parkplatz!" begrüßt, bis hin zu einer ganzen Bewegung, die einen vermeintlichen Missstand anprangert. Wir Schwaben werfen gerne den Blick auf den Teil einer Sache, der nicht funktioniert und der einer Optimierung bedarf.

Mein Opa war auch hierfür ein gutes Beispiel: Er hatte stets im Blick, was schieflaufen konnte und wollte dafür sorgen, jegliche Gefahr des Kontrollverlusts zu minimieren. Das reichte vom Kleinen bis ins Große: vom randvollen Spezi-Glas, das zu nah am Tischrand stand und bei jeder unkontrollierten Fuchtelei des Enkels auf dem Boden zu landen drohte, bis hin zu weitreichenden Entscheidungen für die Absicherung der Familie. Ich habe das nie als störend empfunden, im Gegenteil, eher als Rückhalt. Man wusste immer, da ist jemand in der Familie, auf den Verlass ist, der die Dinge besser macht, wenn sie mal nicht laufen. Daher ist das Stuttgarter Schimpfen auch kein klassisches Schimpfen, sondern eher ein "Bruddeln", wie man hier gerne sagt, quasi ein upgedatetes Schimpfen.

Doch leider liegt die Stuttgarter Mecker-Kultur nicht nur in dem genannten Optimierungsgedanken begründet. Man findet bei kleinsten Regelverstößen schon auch das gehässige, oft neiderfüllte Meckern. Regelverstöße sind oft zu viel für das schwäbische Gemüt, und so können die zu hohe Hecke oder die spielenden Kinder im Hinterhof schnell zum Streitfall werden. Häufig fehlt das gesunde Maß beziehungsweise der angemessene Ton im Umgang mit den Mitmenschen. Und so entpuppt sich das Bruddeln oft als Hindernis im friedlichen Miteinander und trägt dazu bei, dass wir in anderen Teilen Deutschlands mitunter als nicht besonders sympathisch wahrgenommen werden.

Wohin geht’s?

Was Stuttgart immer besonders machte, war nicht zuletzt der andauernde Tanz, den das sogenannte Spießertum mit den progressiven Kräften aufführte. Eine echte Aufbruchstimmung ist in Stuttgart allerdings schon länger nicht mehr zu spüren. Die Stadt wirkt unentschlossen – als könne sie sich nicht entscheiden zwischen bewährter Sicherheit durch Autoindustrie, Handwerk und Law and Order einerseits und sozialem und ökologischem Wandel andererseits.

Doch wie dem auch sei: Ich liebe diese Stadt. Hier bin ich geboren, und ich mag den Gedanken, irgendwann am Bergfriedhof die letzte Ruhe zu finden, wo die U4 ihre Kurve zum Ostendplatz fährt und das Leben in Stuttgart-Ost pulsiert. Hier habe ich meine Frau kennengelernt, hier wachsen unsere Kinder mit dem Selbstverständnis auf, Teil dieser Stadt zu sein. Sie werden ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft noch weniger infrage stellen, als es meine Frau und ich (Migrationshintergrund, weisch?) vielleicht noch mussten. Ich denke, wir sind hier in der Kesselstadt auf einem guten Weg, wenn wir uns weiterhin durch Stimmungsmacher und Spalter nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Das weltoffene, das warmherzige Stuttgart, das in den richtigen Momenten liebenswert provinziell anmutet, das ab und an stur bleibt und dann konservativ ist, wenn es Dinge zu bewahren gilt, die all seinen Bürgerinnen und Bürgern nutzen, das Traditionen pflegt, aber stets den Blick auf die Welt und nach vorne wagt: Das ist mein Stuttgart.

ist studierter Germanist und Anglist, Produzent und Geschäftsführer von Chimperator Productions. E-Mail Link: kody@chimperator.de