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Wo streiken nicht hilft Arbeitskritik im Niedriglohnsektor

Friederike Bahl

/ 14 Minuten zu lesen

Streik ist ein zentrales Mittel zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Im Niedriglohnsektor mangelt es jedoch oft an kollektiven Strukturen, was dazu führt, dass Beschäftigte auf verdeckte Formen des Widerstands zurückgreifen. Diesen fehlt es allerdings an transformativer Kraft.

Die Provokation von Arbeitsfeldern, in denen Streik uneffektiv ist, findet ihren Ausgangspunkt dort, wo der Streik als eine Kritik der Arbeit beginnt. Der Streik, wie wir ihn heute kennen, als eine kritische Niederlegung der Arbeit, hat seinen Ursprung im England des 18. Jahrhunderts. Freilich lassen sich die ersten Zeugnisse von Arbeitsprotesten viel weiter zurückdatieren – bis ins alte Ägypten etwa, wo die mit dem Bau der Königsgräber in Theben beauftragten Arbeiter bereits 1159 v. Chr. ihre Tätigkeiten aussetzten, um gegen die ausbleibende Entschädigung ihrer Anstrengungen aufzubegehren.

Allerdings beginnt die Geschichte des Streiks als Streik erst mit einer Aktion, die über zwei Jahrtausende später stattfand, im Jahr 1768. Zu dieser Zeit taten sich Tausende Handelsmatrosen in London zusammen, um gegen die Widrigkeiten ihrer Arbeitsbedingungen zu protestieren. Unter dem Ruf strike the sails – streicht die Segel – holten sie die Toppsegel von Schiffen der Handelsflotte ein und verhinderten deren Auslaufen. In der Überzeugung, dass die Schiffseigner mehr Schaden davon nehmen würden als sie selbst, wenn die geladenen Waren an den Kais verrotten, statt ausgeliefert zu werden, verkündeten die Seeleute, ihre Arbeit so lange einzustellen, bis sie eine Lohnerhöhung erhielten. Ihr Protest hatte Erfolg, und das Beispiel machte Schule. Von da an verbreitete sich nicht nur das Wort strike wie ein Lauffeuer, sondern die damit beschriebenen Arbeitsstopps, zunächst nur spontane Ereignisse, wurden zunehmend systematischer und etablierten sich im Laufe der beschleunigten Industrialisierung des 19. Jahrhunderts zu einem der bis heute wichtigsten Mittel, um Arbeitsbedingungen zu kritisieren – und eine Verbesserung durchzusetzen.

Als Kritik ist Streik eine Form der demonstrativen Beschwerdeführung, allen voran in Demokratien. Waren die Versuche von Staaten, insbesondere in den Anfängen der Industriellen Revolution, noch zahlreich, wenn es darum ging, die organisierte Niederlegung von Arbeit etwa durch das Verbot von Gewerkschaften und gewerkschaftsähnlichen Vereinen als illegal zu unterbinden, haben Streiks in Demokratien System. Auch wenn es eine verbreitete Annahme ist, dass die Stabilität einer Demokratie davon abhängt, dass die in ihr getroffenen Entscheidungen in der Bevölkerung umfassende Zustimmung erfahren, ist Kritik der Normalfall. Sei es in Form der Organisation von Volksabstimmungen, verschiedener Möglichkeiten einer Rechtsklage oder der Abhaltung einer Protestkundgebung – demokratische Gesellschaften sind selbstkritische Gesellschaften. Die Formen ihrer Lebenspraktiken und Entscheidungsverfahren legen es auf die Formulierung von Einwänden geradezu an.

In diesem Sinne kann es kaum überraschen, dass die kollektive Niederlegung von Arbeit die gesetzlichen Vorgaben der Arbeitspflicht der Streikenden grundsätzlich nicht verletzt. Die Rechtmäßigkeit des Arbeitsstreiks ist dabei kein Selbstzweck freier Meinungsäußerung. Vielmehr liegt sie in der Aktualisierungsoffenheit demokratischer Praktiken begründet: Ganz gleich, ob es um die Kompetenz geht, eigene Fehler einzugestehen, die Disposition, Kompromisse zwischen widerstreitenden Standpunkten zu suchen, oder die Bereitwilligkeit, in einer vorgetragenen Beschwerde einen Motor für gesellschaftspolitische Reformen zu erkennen – immer geht es beim Verhältnis von Streik und Demokratie darum, Kritik dazu zu nutzen, die Gesellschaft auf ihre Veränderungsoptionen hin abzutasten. Auf eine einfache Formel gebracht: Als Kritik lebt Streik von der Idee des transformativen Einspruchs.

Traditionelles Feld der Arbeitssoziologie

Das transformative Potenzial demonstrativer Arbeitsniederlegungen fasziniert die Arbeitssoziologie seit ihren Anfängen – richtet sich doch ein wesentlicher Teil ihrer Neugierde auf eine Theoriebildung, die in der Neuausrichtung der Arbeit die Möglichkeit für eine Neuausrichtung ganzer Gesellschaften vermutet. Arbeitssoziologie ist Gesellschaftstheorie, in deren Zentrum die Wandelbarkeit der Arbeitswelt steht. Dass und wie sich dieses Forschungsinteresse an sozialem Wandel immer wieder auf die Beobachtung von Arbeitsstreiks konzentriert, lässt sich von den frühen Studien der Industriesoziologie bis in die arbeitssoziologischen Untersuchungen der Gegenwart verfolgen.

Bei aller Methodenvielfalt und Differenz der analysierten Felder – angefangen von den Betrieben der Metallproduktion bis hin zu den Beschäftigungsbereichen der von befristeten und flexiblen Arbeitsverhältnissen geprägten gig economy – lassen sich aus der soziologischen Streikforschung mindestens zwei geteilte Erkenntnisse ablesen: Erstens drängen Arbeitsstreiks stets auf eine Transformation von Arbeit; zweitens ist diese Transformation nie als neutrale Bewegung konzipiert, die gegenüber der Richtung, die sie nimmt, gleichgültig ist. Vielmehr zeigt die darin enthaltene Änderungsoption die Erwartung einer Verbesserung an, und diese Verbesserung ist aus dem Blickwinkel der in dieser Arbeit Tätigen gedacht.

Sei es die wissenschaftliche Begleitung von Anstrengungen zur Humanisierung der Arbeit in der Automobilindustrie, das Registrieren des Aufbegehrens von Gebäudereinigerinnen für Lohnerhöhungen oder der analytische Abgleich zwischen den Mitbestimmungsforderungen von Essensauslieferern an der Preispolitik und ihren Verhandlungsergebnissen: In seinen soziologischen Beschreibungen ist Streik stets grundiert von einem gedanklichen Zusammenspiel aus einer Idee des Fortschritts und seinen regressiven Umkehrungen. In seinem Zentrum stehen also die Emanzipation der Arbeitenden sowie die entsprechenden Gegenbewegungen. Getragen von der Vorstellung, dass die Demokratisierung einer Gesellschaft in der Organisation ihrer Erwerbsarbeit beginnt, rückt die Forschung damit die Arbeitenden und die von ihnen formulierte Kritik in den Aufmerksamkeitskegel sozialwissenschaftlicher Betrachtung. Dieses Interesse an Streiks vorausgesetzt, stellt sich aus arbeitssoziologischer Sicht die Frage, warum Streiks gerade dort so selten vorkommen, wo die Verdienstmöglichkeiten besonders gering sind.

Unkritische Beschäftigte?

2009 erregten die Beschäftigten eines Industriebetriebs Aufsehen, als sie die Türen zum Gebäude ihres Arbeitsplatzes von innen verbarrikadierten, um den Davorstehenden den Zutritt zu verweigern. Unter dem Ruf „Streikbrecher gibt es bei uns nicht“ schoben sie Besenstiele quer durch die metallenen Türschlaufen an den Doppeltoren und sperrten die vor der Tür Wartenden aus. Erinnerte die Szene zunächst an Momentaufnahmen von Werksbesetzungen, wie sie während „wilder Streiks“ in Industriebetrieben in den 1960er und 1970er Jahren nicht unüblich gewesen waren, verlor das Ereignis rasch an Gewöhnlichkeit, als auffiel, dass die Werksbeschäftigten gar nicht ihre Kollegenschaft vom Zutritt ins Gebäude abhielten, sondern die extern beauftragten Reinigungskräfte, die auf dem Weg zu ihrer Arbeitsschicht waren. Die Aktion fand mitten in einem der größten Streiks statt, den die Gebäudereinigungsbranche in Deutschland bis dahin erlebt hatte – die Blockierenden wollten also Angehörige einer anderen Branche davon abhalten, zu „Streikbrechern“ zu werden.

Die beschriebene Szene wirft die Frage auf, was die Reinigungskräfte dazu bewogen haben könnte, ihre Arbeit fortführen zu wollen. Gewiss ist es keine Seltenheit, dass Arbeitende sich gegen die Teilnahme an einem Streik ihrer Gewerkschaft entscheiden. Kollektive Arbeitseinstellungen sind zwar gemeinschaftliche Aktionen, aber nie geschlossene Bewegungen. Sowohl zwischen Arbeitenden und Gewerkschaft als auch innerhalb der Arbeiterschaft können umfassende Differenzen zutage treten, selbst wenn es bedeutende gemeinsame Anliegen gibt. Die Frage der mangelnden Beteiligung rückt jedoch stärker ins Blickfeld, wenn die beschriebene Szene weniger einen Fall gegenläufiger Interessenlagen erfasst, als für eine Beobachtung steht, die sich vom Gebäudemanagement bis zum Paketdienst wie ein roter Faden durch zahlreiche Servicebranchen zieht: die Streikabstinenz.

Eine naheliegende Erklärung für diese Enthaltsamkeit wäre die Annahme, dass für die Arbeitenden vielleicht gar kein Kritikbedarf besteht – etwa, weil Verkaufstätigkeiten bei Discountern oder Kurierdienste im Gastrobereich häufig auch von Studierenden ausgeübt werden, die damit zeitweilig ihre Ausbildung finanzieren. Für sie sind solche Tätigkeiten in der Regel nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zu besser bezahlten Arbeiten, und das Bewusstsein, dass eine Tätigkeit nur befristet ausgeübt wird, kann die erlebten Unzumutbarkeiten erträglicher machen. Gleichwohl stößt die These, Streiklosigkeit habe vor allem mit mangelndem Interesse zu tun, rasch an die Grenzen ihrer Haltbarkeit. Nicht nur ist die Zahl derjenigen, die auch langfristig in derartigen Tätigkeiten verbleiben, vergleichsweise hoch. Wer die Arbeitenden fragt, trifft zudem unter Bleibenden wie Durchläufern auf eine Unzufriedenheit, die den Beschwerden der eingangs erwähnten streikenden Handelsmatrosen nicht unähnlich ist: Auch für sie geht eine hohe Arbeitsbelastung mit geringer Entlohnung einher.

Die genannten Tätigkeiten zählen zu einem Arbeitsmarktbereich, der gemeinhin als „Niedriglohnsektor“ bezeichnet wird. Darunter werden alle Arbeitsbeziehungen erfasst, deren Einkommen, gemessen am mittleren Verdienst aller Beschäftigungsverhältnisse, weniger als zwei Drittel beträgt. Allein unter den abhängig Beschäftigten – also ohne Selbstständige – betrifft das in Deutschland fast jeden sechsten Job. Nimmt man den privaten Haushaltssektor und Minijobs hinzu, erhöht sich der geschätzte Anteil der Niedriglohnbeschäftigten zusätzlich. Es ist aber nicht allein der geringe Verdienst, der die Beschäftigten in diesem Bereich frustriert, sondern ebenso die mangelnde soziale Absicherung angesichts fehlender Urlaubsansprüche oder ausbleibender Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Die Probleme verschärfen sich zusätzlich, wenn von dem geringen Einkommen nicht mehr nur ein Singlehaushalt abgesichert werden muss: Nach einer Familiengründung sind viele auf die Kombination mehrerer Tätigkeiten oder den Bezug von Transferleistungen angewiesen.

Hinzu kommt, dass auch die Organisationsweise der ausgeübten Tätigkeiten als extrem belastend, nicht selten sogar körperlich verschleißend erfahren wird, ohne dafür Würdigung zu erfahren. Sei es, dass es angesichts des Preiswettbewerbs unter den konkurrierenden Serviceunternehmen üblich geworden ist, die Kosten für die Stundenlöhne der Servicekräfte im Gebäudeservice, Supermarkt oder in der Paketzustellung dadurch zu reduzieren, dass größere Flächen in derselben Zeit mit weniger Personal bewältigt werden müssen, sei es, dass bei Essensauslieferern der Trend besteht, vom Stunden- auf Stücklohn umzustellen, sodass die sogenannten rider nur mit jeder individuell ausgelieferten Mahlzeit anteilig bezahlt werden: In allen Fällen berücksichtigt die Entlohnung nicht die erbrachten Anstrengungen, sondern allein deren Ergebnis. Diese Entwertung der Zeit und Materialität von Arbeit resultiert in Erfahrungen der Erschöpfung und Verausgabung. Unzufriedenheit ist also da – warum aber mündet sie nicht in Streikvorhaben?

Eine andere Erklärung könnte sein, dass es zwar Bedarf, aber keine Streikgelegenheiten gibt, weil die Möglichkeiten fehlen, sich gemeinsam zu organisieren. Diese Überlegung weist jedenfalls auf den entscheidenden Punkt hin, dass es in den Gewerkschaften eine Repräsentationslücke gibt, was den Niedriglohnsektor angeht. Zwar verzeichnen die gewerkschaftlichen Vertretungen jüngst einen Mitgliederzuwachs. Dieser ist aber vor dem Hintergrund eines jahrelangen allgemeinen Mitgliederverlustes zu bewerten, bei dem sich der Organisationsgrad in Deutschland zwischen 1980 und 2021 von etwa 30 Prozent aller Arbeitnehmenden auf rund 17 Prozent reduziert hat. Die geringe Vertretungsdichte zeigt sich noch deutlicher, wenn die gering qualifizierten Tätigkeiten im Niedriglohnsektor in den Blick genommen werden – treffen gewerkschaftliche Rekrutierungsversuche hier doch vielfach auf die Herausforderungen einer isolierten Arbeitssituation. Das heißt, die täglichen Abläufe und dabei auftretenden Hindernisse sind dort in aller Regel von den Arbeitenden alleine zu bewältigen. Damit minimieren sich auch die Chancen eines gemeinsamen Protests. Auch wenn die Beschäftigten mit ihren Tätigkeiten des Bewachens von Parkplätzen, des Säuberns von Bürokomplexen oder des Zustellens von Essensbestellungen in digital organisierten Ökonomien eher zum materiell greifbaren Personal zählen, was Streik prinzipiell begünstigen sollte, hat ihre Arbeitssituation dennoch eine Besonderheit, die diese Streikbegünstigung konterkariert.

Mit der nicht vorhandenen Betrieblichkeit eines gemeinsamen Arbeitsorts fehlt den Arbeitsvollzügen ein entscheidendes Kriterium, an dem gewerkschaftlich organisierte Arbeitsniederlegungen in der Vergangenheit angesetzt haben. Ob als Türsteher oder Zustellerin – die Ausübung von Niedriglohntätigkeiten findet oft gerade nicht in den Unternehmen statt, von denen sie angestellt sind. Das reduziert die Möglichkeitsräume für kollektiv geteilte Arbeitserfahrungen genauso wie die Chancen ihrer Mitteilung. Hinzu kommt, dass selbst dort, wo die eigene Arbeit an feste Orte gebunden ist – etwa als Zimmermädchen, logistischer Hilfsarbeiter oder Supermarktangestellte –, der Rhythmus aus Betätigung und Pausen weitgehend so organisiert ist, dass beide Phasen häufig nur in kleinen Gruppen oder für sich allein verbracht werden. Sei es das Abkassieren eines Kunden, das Einräumen gelieferter Waren oder die Reinigung eines Hotelzimmers – wenn die zu verrichtende Arbeit in Einzeltätigkeiten aufgesplittert ist, die eher individuell als im Team stattfinden, und auch in den Pausen dazwischen Räume fehlen, die die Kontaktaufnahme begünstigen, dann minimiert diese arbeitsbezogene Atomisierung sowohl Situationen der internen Begegnung als auch solche der externen Ansprechbarkeit durch Gewerkschaften.

Wandel von Arbeitskritik

Die Momente einer fehlenden Fabriksozialisation können die Streikabstinenz aber nur zum Teil erklären. Ein ebenso wichtiger Faktor liegt in einem Aspekt, der bislang unberücksichtigt geblieben ist und den Kern der anfänglichen Provokation trifft: Fragt man danach, wie Arbeitskämpfe im Niedriglohnsektor verlaufen, dann bleiben Streiks als Mittel der Wahl relativ unattraktiv, weil sie mit Blick auf die Unzufriedenheitskriterien der Arbeitenden nur vergleichsweise geringe Effekte erzielen können. Ob der gewerkschaftlich organisierte Gebäudereinigerinnenstreik von 2009 oder die wilden Streiks der rider der Essensauslieferung von 2018 – die für die Streikenden erzielten Ergebnisse der kollektiven Arbeitsniederlegungen stellen nicht in Aussicht, den Niedriglohnbereich verlassen zu können. Sie garantieren stattdessen den dortigen Verbleib. Und dieses Resultat stellt sich mit wie ohne gewerkschaftliche Rückendeckung ein: Sind die Arbeitenden ohne ein gewerkschaftliches Netz darauf zurückgeworfen, dass der Niedriglohnsektor ein Arbeitsmarktbereich ist, in dem Stunden- wie Stücklöhne volatil und Tarifbindungen gering sind, stehen sie auch mit gewerkschaftlicher Unterstützung vor dem Problem, dass tarifliche Bindungen zwar möglicherweise eingeführt werden, diese aber mit dem Zielpunkt eines Mindestlohns immer noch auf Niedriglohnniveau ansetzen.

Als offen vorgetragene Kritik kann Streik im Niedriglohnsektor damit bislang nur zwei Ausgänge für sich beanspruchen: Entweder kommt er punktuellen Nadelstichen gleich, die ohne die Gewähr institutionalisierter Verhandlungsbahnen auszukommen haben, oder Vertreterstrukturen institutionalisieren zwar einen Standard, der Gewissheiten schafft, aber eigentlich keine Verbesserung bedeutet. Bei den im Niedriglohnsektor Arbeitenden haben diese Erfahrungen mangelnder Bedürfnisbefriedigung für ihre Kritikbereitschaft zweifellos Spuren hinterlassen. Aber anders als die Streikabstinenz es auf den ersten Blick vermuten ließe, ist die ausbleibende kollektive Arbeitsniederlegung nicht Indikator für ein umfassendes Einstellen von Kritik, sondern nur Ausdruck davon, dass sich die Äußerungspraktiken verändert haben.

Wer wissen will, wie sich Zusteller, Reinigungskräfte und andere Niedriglohnbeschäftigte für ihre Rechte einsetzen, sollte sich von der vorschnellen Diagnose einer vermeintlichen Kritikarmut nicht ablenken lassen. Auch wenn wir bei Beanstandungsmöglichkeiten in Arbeitsbeziehungen in der Regel an Tarifstreiks, Protestkundgebungen und andere demonstrative Formen der Arbeitsniederlegung denken, ist Vorsicht geboten, von dem Ausbleiben eines solchen sichtbaren Aufbegehrens direkt auf den Beschwerdeverzicht zu schließen. Statt zu schwinden, haben sich die Kritikpraktiken im Niedriglohnsektor eher vervielfältigt. Ihre Erfassung verlangt der soziologischen Beobachtung allerdings die Erweiterung eines Verständnisses von Arbeitskritik ab, das sich vornehmlich auf kollektive und offene Formen des Protests konzentriert. Stattdessen braucht es einen Zugriff, der auch verdeckte Formen des Einspruchs erfasst. Ob Pakete vor die Haustür geworfen, das Geschirr des Vorgesetzten mit dem Reinigungsschwamm für Sanitäranlagen ausgewischt wird, Warenlieferungen im Weg stehenbleiben, weil sie exakt nach Vorschrift und keinen Zentimeter weiter bewegt werden, oder beim Bereitstellen der Flugzeugkabine für den nächsten Start liegengebliebene Handys und andere Habseligkeiten der vorherigen Fluggäste in den eigenen Bestand übergehen – es gibt zahlreiche Formen, wie Beschäftigte im Niedriglohnsektor ihren Unmut über die eigenen Arbeitsbedingungen individuell und ausdrücklich leise formulieren.

Für die Theoriebildung halten diese Phänomene des verdeckten Widerstands und Eigensinns neue Beschreibungsaufgaben bereit. Darunter ist der Vorschlag, den Streikbegriff so zu erweitern, dass er neben der offiziellen Arbeitseinstellung weitere Formen umfasst, die zwischen dem langsamen Arbeiten im „Bummelstreik“ und dem strikten Einhalten von Vorgaben im „Dienst nach Vorschrift“ eher still und situativ eine Störung des Arbeitsablaufs herbeiführen. So wie diese konzeptionellen Anstrengungen unter analytischen Gesichtspunkten dafür sprechen, die sozialwissenschaftliche Sensibilität für die Vielfältigkeit von Arbeitskritik zu loben, gilt es unter einer gesellschaftspolitischen Perspektive dennoch auch, einen Zweifel zu formulieren. Denn sobald man die registrierten Kritikformen im Zeichen demokratischer Selbstkritik auf die Form und den Gehalt ihres Einspruchs hin abtastet, haben sie ihr transformatives Potenzial weitgehend aufgegeben.

Sichtbarkeit ohne Veränderung

Kanäle der Kritik sind immer nur so gut wie die vorhandenen Mechanismen, auf diese Kritik zu reagieren. Es ist ja nicht so, dass die großen Streiks der Vergangenheit immer ihre Ziele erreicht hätten. Dennoch steht die kollektive Arbeitsniederlegung für die Etablierung einer Streik- und Streitkultur, die widerstreitende Positionen regelmäßig an einen Tisch bringt. Wenn Beschwerden leise und nur noch verdeckt geäußert werden, dann verschafft die Kritik zwar situative Erleichterung, sie verpasst aber die transformativen Chancen offener Konfliktführung.

In der Betonung der Relevanz von offen ausgetragener Konflikthaftigkeit liegt weniger das Plädoyer für erlösende Heilsversprechen einer gelungenen Diskursivität, die in der Konsensbildung abschließend – oder auch nur zeitweise – von Widersprüchen zu befreien vermag. Wer sich die Bandbreite sozialer Protestpraktiken vor Augen führt, weiß, dass kritisches Denken in Unterschieden stattfindet, von denen die Differenz zwischen Arbeit und Kapital nur eine ist. Es geht darum, solche Unterscheidungen systematisch anzuerkennen, um die Prämissen ihrer Konfliktlinien freizulegen. Solange aber Mindestlöhne die vernehmbarste gewerkschaftliche Antwort auf die drängenden Fragen im Niedriglohnsektor sind, sind der Transformativität von Kritik bereits enge Grenzen gesetzt, bleiben die von den Beschäftigten gesuchten Konfliktlinien darin doch weitgehend unberücksichtigt. Weder kann eine solche Lohnuntergrenze die von ihnen gewünschte Würdigung für ihre Anstrengungen leisten, weil im Streit um finanzielle Mindestansprüche die materielle und zeitliche Aufwendigkeit einer Arbeit immer schon nachrangig ist, noch erlaubt ihnen das damit zu erreichende Einkommen, den Niedriglohnsektor verlassen zu können. Stattdessen zementiert die Mindestbepreisung ihre Lage und lässt ehemals laute Kritik in die leise Verdeckung abwandern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Insa Germerott, Arbeitskämpfe historisch: Schon die Alten Ägypter streikten, 23.1.2024, Externer Link: http://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2024/01/arbeitskampf-historisch-schon-die-alten-aegypter-streikten-gewerkschaft-bahn.

  2. Vgl. John Stevenson, Popular Disturbances in England 1700–1832, London 1992, S. 155ff.

  3. Kritisch dazu Brigitte Geißel, Kritiker gut für die Demokratie. Dynamik durch Zufriedene und Unzufriedene, in: WZB-Mitteilungen 105/2004, S. 47ff.

  4. Zumindest ist ihre Rechtmäßigkeit gewährleistet, solange ein Streik gewerkschaftlich organisiert ist, die Arbeitsniederlegung nur als letztes Verhandlungsmittel eingesetzt wird und der Streik nicht in die Zeit eines laufenden Tarifvertrags fällt.

  5. Vgl. Stefania Animento/Giorgio Di Cesare/Cristian Sica, Total Eclipse of Work? Neue Protestformen in der gig economy am Beispiel des Foodora Streiks in Turin, in: Prokla 2/2017, S. 271–290, hier S. 288.

  6. Vgl. Berthold Vogel, Kritik der Arbeit, 24.6.2014, Externer Link: https://blog.soziologie.de/2014/06/kritik-der-arbeit.

  7. Vgl. Ingrid Artus/Jessica Pflüger, Feminisierung von Arbeitskonflikten. Überlegungen zur gendersensiblen Analyse von Streiks, in: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 2/2015, S. 92–108, S. 105; Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt/M. 2007; John Kelly, Rethinking Industrial Relations. Mobilization, Collectivism and Long Waves, London–New York 1998, S. 108.

  8. Vgl. Mathias Heiden, Der arbeits- und industriesoziologische Konfliktbegriff und die Notwendigkeit seiner Erweiterung, in: AIS-Studien 2/2011, S. 27–44, hier S. 29; Klaus Dörre, Strategic Unionism. Die Bedeutung von Streiks für gewerkschaftliche Erneuerung in Deutschland, in: Fanny Zeise/Rabea Hoffmann (Hrsg.), Erneuerung durch Streik – Die eigenen Stärke nutzen. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Berlin 2014, S. 5–13, hier S. 10.

  9. Vgl. Peter Birke, Demokratisierung von Erinnerungskultur. Der Septemberstreik 1969 bei Hoesch, in: Stefan Berger/Wolfgang Jäger/Ulf Teichmann (Hrsg.), Gewerkschaften im Gedächtnis der Demokratie. Welche Rolle spielen soziale Kämpfe in der Erinnerungskultur?, Bielefeld 2022, S. 363–382, hier S. 379; Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016; Berthold Vogel, Die Gesellschaft von der Erwerbsarbeit her denken? Anmerkungen zur Neubestimmung arbeitssoziologischer (Bewusstseins-)Forschung, in: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 1/2022, S. 176–180, hier S. 177.

  10. Vgl. François Dubet, Ungerechtigkeiten. Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz, Hamburg 2008; Stéphane Beaud/Michel Pialoux, Die verlorene Zukunft der Arbeiter: Die Peugeot-Werke von Sochaux-Montbéliard, Konstanz 2004; Michael Schumann, Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein. Kritische Industriesoziologie zwischen Taylorismusanalyse und Mitgestaltung innovativer Arbeitspolitik, Hamburg 2003; André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/M. 1997; Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 4, Schriften 1936–1941, hrsg. v. Alfred Schmidt, Frankfurt/M. 1988, S. 162–216.

  11. Vgl. Birke (Anm. 7), S. 5. „Wilder Streik“ ist die Bezeichnung für eine kollektive Arbeitsniederlegung, die gewerkschaftsunabhängig – und daher nach deutschem Recht unrechtmäßig – stattfindet. Das Attribut „wild“ ist dabei allerdings irreführend, da diese Arbeitsstopps gerade aufgrund der für die Teilnehmenden zu erwartenden rechtlichen Konsequenzen eher selten spontan und unorganisiert, sondern gut vorbereitet sind.

  12. Vgl. Birke (Anm. 7), S. 31.

  13. Vgl. Markus M. Grabka/Carsten Schröder, Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist größer als bislang angenommen, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW Wochenbericht 14/2019, S. 255f., Externer Link: http://www.diw.de/de/diw_01.c.618203.de.

  14. Vgl. Friederike Bahl, Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft, Hamburg 2014.

  15. Vgl. Statistisches Bundesamt, Qualität der Arbeit. Niedriglohnquote, Verdiensterhebung April 2023, Externer Link: http://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-2/niedriglohnquote.html.

  16. Beide Bereiche sind in der Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes nicht oder nur untererfasst; die Beschäftigten werden aber überdurchschnittlich oft niedrig entlohnt und haben geringere Sozialversicherungsansprüche. Vgl. Grabka/Schröder (Anm. 13), S. 253, S. 256.

  17. Vgl. Samuel Greef, DGB-Gewerkschaften in Zahlen 2024, in: Bits & Pieces – Online 1/2024, Externer Link: http://www.samuel-greef.de/gewerkschaften.

  18. Vgl. Carolin Denise Fulda, Gewerkschaften: Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite?, Institut der deutschen Wirtschaft, IW-Kurzbericht 83/2022, S. 1.

  19. Vgl. ebd., S. 2.

  20. Vgl. Friederike Bahl, Funktionale Informalität und verdeckter Widerstand – über zwei Seiten der Sabotage, in: Ferdinand Sutterlüty/Almut Poppinga (Hrsg.), Verdeckter Widerstand in demokratischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2022, S. 213–238; Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Münster 2015, S. 130; Bernhard Halmer/Peter A. Krobath, Lexikon der Sabotage: Betrug, Verweigerung, Racheakte und Schabernack am Arbeitsplatz, Wien 2008; Stephen Ackroyd/Paul Thompson, Organizational Misbehaviour, London 1999; James C. Scott, Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven 1985.

  21. Vgl. Sutterlüty/Poppinga (Anm. 20); Heiner Heiland/Simon Schaupp (Hrsg.), Widerstand im Arbeitsprozess. Eine arbeitssoziologische Einführung, Bielefeld 2022.

  22. Vgl. Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2013; Armen Avanessian, Konflikt. Von der Dringlichkeit, Probleme von morgen schon heute zu lösen, Berlin 2022.

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ist promovierte Soziologin. Sie forscht zum Wandel kapitalistischer Ökonomien und den Formen ihrer rechtlichen Regulierung.