Die Provokation von Arbeitsfeldern, in denen Streik uneffektiv ist, findet ihren Ausgangspunkt dort, wo der Streik als eine Kritik der Arbeit beginnt. Der Streik, wie wir ihn heute kennen, als eine kritische Niederlegung der Arbeit, hat seinen Ursprung im England des 18. Jahrhunderts. Freilich lassen sich die ersten Zeugnisse von Arbeitsprotesten viel weiter zurückdatieren – bis ins alte Ägypten etwa, wo die mit dem Bau der Königsgräber in Theben beauftragten Arbeiter bereits 1159 v. Chr. ihre Tätigkeiten aussetzten, um gegen die ausbleibende Entschädigung ihrer Anstrengungen aufzubegehren.
Allerdings beginnt die Geschichte des Streiks als Streik erst mit einer Aktion, die über zwei Jahrtausende später stattfand, im Jahr 1768. Zu dieser Zeit taten sich Tausende Handelsmatrosen in London zusammen, um gegen die Widrigkeiten ihrer Arbeitsbedingungen zu protestieren. Unter dem Ruf strike the sails – streicht die Segel – holten sie die Toppsegel von Schiffen der Handelsflotte ein und verhinderten deren Auslaufen. In der Überzeugung, dass die Schiffseigner mehr Schaden davon nehmen würden als sie selbst, wenn die geladenen Waren an den Kais verrotten, statt ausgeliefert zu werden, verkündeten die Seeleute, ihre Arbeit so lange einzustellen, bis sie eine Lohnerhöhung erhielten.
Als Kritik ist Streik eine Form der demonstrativen Beschwerdeführung, allen voran in Demokratien. Waren die Versuche von Staaten, insbesondere in den Anfängen der Industriellen Revolution, noch zahlreich, wenn es darum ging, die organisierte Niederlegung von Arbeit etwa durch das Verbot von Gewerkschaften und gewerkschaftsähnlichen Vereinen als illegal zu unterbinden, haben Streiks in Demokratien System. Auch wenn es eine verbreitete Annahme ist, dass die Stabilität einer Demokratie davon abhängt, dass die in ihr getroffenen Entscheidungen in der Bevölkerung umfassende Zustimmung erfahren,
In diesem Sinne kann es kaum überraschen, dass die kollektive Niederlegung von Arbeit die gesetzlichen Vorgaben der Arbeitspflicht der Streikenden grundsätzlich nicht verletzt.
Traditionelles Feld der Arbeitssoziologie
Das transformative Potenzial demonstrativer Arbeitsniederlegungen fasziniert die Arbeitssoziologie seit ihren Anfängen – richtet sich doch ein wesentlicher Teil ihrer Neugierde auf eine Theoriebildung, die in der Neuausrichtung der Arbeit die Möglichkeit für eine Neuausrichtung ganzer Gesellschaften vermutet.
Bei aller Methodenvielfalt und Differenz der analysierten Felder – angefangen von den Betrieben der Metallproduktion bis hin zu den Beschäftigungsbereichen der von befristeten und flexiblen Arbeitsverhältnissen geprägten gig economy – lassen sich aus der soziologischen Streikforschung mindestens zwei geteilte Erkenntnisse ablesen: Erstens drängen Arbeitsstreiks stets auf eine Transformation von Arbeit; zweitens ist diese Transformation nie als neutrale Bewegung konzipiert, die gegenüber der Richtung, die sie nimmt, gleichgültig ist. Vielmehr zeigt die darin enthaltene Änderungsoption die Erwartung einer Verbesserung an, und diese Verbesserung ist aus dem Blickwinkel der in dieser Arbeit Tätigen gedacht.
Sei es die wissenschaftliche Begleitung von Anstrengungen zur Humanisierung der Arbeit in der Automobilindustrie, das Registrieren des Aufbegehrens von Gebäudereinigerinnen für Lohnerhöhungen oder der analytische Abgleich zwischen den Mitbestimmungsforderungen von Essensauslieferern an der Preispolitik und ihren Verhandlungsergebnissen: In seinen soziologischen Beschreibungen ist Streik stets grundiert von einem gedanklichen Zusammenspiel aus einer Idee des Fortschritts und seinen regressiven Umkehrungen. In seinem Zentrum stehen also die Emanzipation der Arbeitenden sowie die entsprechenden Gegenbewegungen.
Unkritische Beschäftigte?
2009 erregten die Beschäftigten eines Industriebetriebs Aufsehen, als sie die Türen zum Gebäude ihres Arbeitsplatzes von innen verbarrikadierten, um den Davorstehenden den Zutritt zu verweigern. Unter dem Ruf „Streikbrecher gibt es bei uns nicht“ schoben sie Besenstiele quer durch die metallenen Türschlaufen an den Doppeltoren und sperrten die vor der Tür Wartenden aus. Erinnerte die Szene zunächst an Momentaufnahmen von Werksbesetzungen, wie sie während „wilder Streiks“ in Industriebetrieben in den 1960er und 1970er Jahren nicht unüblich gewesen waren,
Die beschriebene Szene wirft die Frage auf, was die Reinigungskräfte dazu bewogen haben könnte, ihre Arbeit fortführen zu wollen. Gewiss ist es keine Seltenheit, dass Arbeitende sich gegen die Teilnahme an einem Streik ihrer Gewerkschaft entscheiden. Kollektive Arbeitseinstellungen sind zwar gemeinschaftliche Aktionen, aber nie geschlossene Bewegungen.
Eine naheliegende Erklärung für diese Enthaltsamkeit wäre die Annahme, dass für die Arbeitenden vielleicht gar kein Kritikbedarf besteht – etwa, weil Verkaufstätigkeiten bei Discountern oder Kurierdienste im Gastrobereich häufig auch von Studierenden ausgeübt werden, die damit zeitweilig ihre Ausbildung finanzieren. Für sie sind solche Tätigkeiten in der Regel nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zu besser bezahlten Arbeiten, und das Bewusstsein, dass eine Tätigkeit nur befristet ausgeübt wird, kann die erlebten Unzumutbarkeiten erträglicher machen. Gleichwohl stößt die These, Streiklosigkeit habe vor allem mit mangelndem Interesse zu tun, rasch an die Grenzen ihrer Haltbarkeit. Nicht nur ist die Zahl derjenigen, die auch langfristig in derartigen Tätigkeiten verbleiben, vergleichsweise hoch.
Die genannten Tätigkeiten zählen zu einem Arbeitsmarktbereich, der gemeinhin als „Niedriglohnsektor“ bezeichnet wird. Darunter werden alle Arbeitsbeziehungen erfasst, deren Einkommen, gemessen am mittleren Verdienst aller Beschäftigungsverhältnisse, weniger als zwei Drittel beträgt. Allein unter den abhängig Beschäftigten – also ohne Selbstständige – betrifft das in Deutschland fast jeden sechsten Job.
Hinzu kommt, dass auch die Organisationsweise der ausgeübten Tätigkeiten als extrem belastend, nicht selten sogar körperlich verschleißend erfahren wird, ohne dafür Würdigung zu erfahren. Sei es, dass es angesichts des Preiswettbewerbs unter den konkurrierenden Serviceunternehmen üblich geworden ist, die Kosten für die Stundenlöhne der Servicekräfte im Gebäudeservice, Supermarkt oder in der Paketzustellung dadurch zu reduzieren, dass größere Flächen in derselben Zeit mit weniger Personal bewältigt werden müssen, sei es, dass bei Essensauslieferern der Trend besteht, vom Stunden- auf Stücklohn umzustellen, sodass die sogenannten rider nur mit jeder individuell ausgelieferten Mahlzeit anteilig bezahlt werden: In allen Fällen berücksichtigt die Entlohnung nicht die erbrachten Anstrengungen, sondern allein deren Ergebnis. Diese Entwertung der Zeit und Materialität von Arbeit resultiert in Erfahrungen der Erschöpfung und Verausgabung. Unzufriedenheit ist also da – warum aber mündet sie nicht in Streikvorhaben?
Eine andere Erklärung könnte sein, dass es zwar Bedarf, aber keine Streikgelegenheiten gibt, weil die Möglichkeiten fehlen, sich gemeinsam zu organisieren. Diese Überlegung weist jedenfalls auf den entscheidenden Punkt hin, dass es in den Gewerkschaften eine Repräsentationslücke gibt, was den Niedriglohnsektor angeht. Zwar verzeichnen die gewerkschaftlichen Vertretungen jüngst einen Mitgliederzuwachs.
Mit der nicht vorhandenen Betrieblichkeit eines gemeinsamen Arbeitsorts fehlt den Arbeitsvollzügen ein entscheidendes Kriterium, an dem gewerkschaftlich organisierte Arbeitsniederlegungen in der Vergangenheit angesetzt haben. Ob als Türsteher oder Zustellerin – die Ausübung von Niedriglohntätigkeiten findet oft gerade nicht in den Unternehmen statt, von denen sie angestellt sind. Das reduziert die Möglichkeitsräume für kollektiv geteilte Arbeitserfahrungen genauso wie die Chancen ihrer Mitteilung. Hinzu kommt, dass selbst dort, wo die eigene Arbeit an feste Orte gebunden ist – etwa als Zimmermädchen, logistischer Hilfsarbeiter oder Supermarktangestellte –, der Rhythmus aus Betätigung und Pausen weitgehend so organisiert ist, dass beide Phasen häufig nur in kleinen Gruppen oder für sich allein verbracht werden. Sei es das Abkassieren eines Kunden, das Einräumen gelieferter Waren oder die Reinigung eines Hotelzimmers – wenn die zu verrichtende Arbeit in Einzeltätigkeiten aufgesplittert ist, die eher individuell als im Team stattfinden, und auch in den Pausen dazwischen Räume fehlen, die die Kontaktaufnahme begünstigen, dann minimiert diese arbeitsbezogene Atomisierung sowohl Situationen der internen Begegnung als auch solche der externen Ansprechbarkeit durch Gewerkschaften.
Wandel von Arbeitskritik
Die Momente einer fehlenden Fabriksozialisation können die Streikabstinenz aber nur zum Teil erklären. Ein ebenso wichtiger Faktor liegt in einem Aspekt, der bislang unberücksichtigt geblieben ist und den Kern der anfänglichen Provokation trifft: Fragt man danach, wie Arbeitskämpfe im Niedriglohnsektor verlaufen, dann bleiben Streiks als Mittel der Wahl relativ unattraktiv, weil sie mit Blick auf die Unzufriedenheitskriterien der Arbeitenden nur vergleichsweise geringe Effekte erzielen können. Ob der gewerkschaftlich organisierte Gebäudereinigerinnenstreik von 2009 oder die wilden Streiks der rider der Essensauslieferung von 2018 – die für die Streikenden erzielten Ergebnisse der kollektiven Arbeitsniederlegungen stellen nicht in Aussicht, den Niedriglohnbereich verlassen zu können. Sie garantieren stattdessen den dortigen Verbleib. Und dieses Resultat stellt sich mit wie ohne gewerkschaftliche Rückendeckung ein: Sind die Arbeitenden ohne ein gewerkschaftliches Netz darauf zurückgeworfen, dass der Niedriglohnsektor ein Arbeitsmarktbereich ist, in dem Stunden- wie Stücklöhne volatil und Tarifbindungen gering sind, stehen sie auch mit gewerkschaftlicher Unterstützung vor dem Problem, dass tarifliche Bindungen zwar möglicherweise eingeführt werden, diese aber mit dem Zielpunkt eines Mindestlohns immer noch auf Niedriglohnniveau ansetzen.
Als offen vorgetragene Kritik kann Streik im Niedriglohnsektor damit bislang nur zwei Ausgänge für sich beanspruchen: Entweder kommt er punktuellen Nadelstichen gleich, die ohne die Gewähr institutionalisierter Verhandlungsbahnen auszukommen haben, oder Vertreterstrukturen institutionalisieren zwar einen Standard, der Gewissheiten schafft, aber eigentlich keine Verbesserung bedeutet. Bei den im Niedriglohnsektor Arbeitenden haben diese Erfahrungen mangelnder Bedürfnisbefriedigung für ihre Kritikbereitschaft zweifellos Spuren hinterlassen. Aber anders als die Streikabstinenz es auf den ersten Blick vermuten ließe, ist die ausbleibende kollektive Arbeitsniederlegung nicht Indikator für ein umfassendes Einstellen von Kritik, sondern nur Ausdruck davon, dass sich die Äußerungspraktiken verändert haben.
Wer wissen will, wie sich Zusteller, Reinigungskräfte und andere Niedriglohnbeschäftigte für ihre Rechte einsetzen, sollte sich von der vorschnellen Diagnose einer vermeintlichen Kritikarmut nicht ablenken lassen. Auch wenn wir bei Beanstandungsmöglichkeiten in Arbeitsbeziehungen in der Regel an Tarifstreiks, Protestkundgebungen und andere demonstrative Formen der Arbeitsniederlegung denken, ist Vorsicht geboten, von dem Ausbleiben eines solchen sichtbaren Aufbegehrens direkt auf den Beschwerdeverzicht zu schließen. Statt zu schwinden, haben sich die Kritikpraktiken im Niedriglohnsektor eher vervielfältigt. Ihre Erfassung verlangt der soziologischen Beobachtung allerdings die Erweiterung eines Verständnisses von Arbeitskritik ab, das sich vornehmlich auf kollektive und offene Formen des Protests konzentriert. Stattdessen braucht es einen Zugriff, der auch verdeckte Formen des Einspruchs erfasst. Ob Pakete vor die Haustür geworfen, das Geschirr des Vorgesetzten mit dem Reinigungsschwamm für Sanitäranlagen ausgewischt wird, Warenlieferungen im Weg stehenbleiben, weil sie exakt nach Vorschrift und keinen Zentimeter weiter bewegt werden, oder beim Bereitstellen der Flugzeugkabine für den nächsten Start liegengebliebene Handys und andere Habseligkeiten der vorherigen Fluggäste in den eigenen Bestand übergehen – es gibt zahlreiche Formen, wie Beschäftigte im Niedriglohnsektor ihren Unmut über die eigenen Arbeitsbedingungen individuell und ausdrücklich leise formulieren.
Für die Theoriebildung halten diese Phänomene des verdeckten Widerstands und Eigensinns neue Beschreibungsaufgaben bereit.
Sichtbarkeit ohne Veränderung
Kanäle der Kritik sind immer nur so gut wie die vorhandenen Mechanismen, auf diese Kritik zu reagieren. Es ist ja nicht so, dass die großen Streiks der Vergangenheit immer ihre Ziele erreicht hätten. Dennoch steht die kollektive Arbeitsniederlegung für die Etablierung einer Streik- und Streitkultur, die widerstreitende Positionen regelmäßig an einen Tisch bringt. Wenn Beschwerden leise und nur noch verdeckt geäußert werden, dann verschafft die Kritik zwar situative Erleichterung, sie verpasst aber die transformativen Chancen offener Konfliktführung.
In der Betonung der Relevanz von offen ausgetragener Konflikthaftigkeit liegt weniger das Plädoyer für erlösende Heilsversprechen einer gelungenen Diskursivität, die in der Konsensbildung abschließend – oder auch nur zeitweise – von Widersprüchen zu befreien vermag. Wer sich die Bandbreite sozialer Protestpraktiken vor Augen führt, weiß, dass kritisches Denken in Unterschieden stattfindet, von denen die Differenz zwischen Arbeit und Kapital nur eine ist. Es geht darum, solche Unterscheidungen systematisch anzuerkennen, um die Prämissen ihrer Konfliktlinien freizulegen. Solange aber Mindestlöhne die vernehmbarste gewerkschaftliche Antwort auf die drängenden Fragen im Niedriglohnsektor sind, sind der Transformativität von Kritik bereits enge Grenzen gesetzt, bleiben die von den Beschäftigten gesuchten Konfliktlinien darin doch weitgehend unberücksichtigt. Weder kann eine solche Lohnuntergrenze die von ihnen gewünschte Würdigung für ihre Anstrengungen leisten, weil im Streit um finanzielle Mindestansprüche die materielle und zeitliche Aufwendigkeit einer Arbeit immer schon nachrangig ist, noch erlaubt ihnen das damit zu erreichende Einkommen, den Niedriglohnsektor verlassen zu können. Stattdessen zementiert die Mindestbepreisung ihre Lage und lässt ehemals laute Kritik in die leise Verdeckung abwandern.