In Deutschland gehen im Vergleich zu anderen modernen Industrieländern eher wenige Arbeitstage durch Streiks verloren.
Eine unbekannte Größe
Bei diesen Durchschnittsberechnungen ist zu berücksichtigen, dass Branchen, Unternehmen und Kunden in einem unterschiedlichen Ausmaß von Streiks betroffen sind. Zu welchen wirtschaftlichen Schäden Ausstände führen, bleibt in der Regel unklar. Forschungen über die wirtschaftlichen Auswirkungen von Streiks waren lange auf das produzierende Gewerbe und die Kosten der bestreikten Firmen beschränkt. Neuere Studien lenken den Blick verstärkt auf Dienstleistungssektoren wie Krankenhäuser, Schulen oder den öffentlichen Nahverkehr. Analysiert werden in diesen Studien allerdings nur die direkten Wirkungen einzelner Streiks. Eine gesamtwirtschaftliche Evaluierung wird nicht vorgenommen. Es wird also nicht untersucht, welche Auswirkungen etwa ein Streik im Bahnwesen auf Branchen hat, die auf den Güterverkehr angewiesen sind, oder auf Bahnkunden, die die Bahn als Transportmittel nutzen müssen. Zudem handelt es sich überwiegend um Studien aus dem angelsächsischen Raum.
Für Deutschland liegen nur wenige Schätzungen vor. Vereinzelt informieren Unternehmen über die bei ihnen angefallenen Streikschäden. So bezifferte die Deutsche Bahn die durch mehrere Lokführerstreiks verursachten Streikschäden im Jahr 2015 auf 314 Millionen Euro.
Auf Branchenebene stehen solche Informationen nicht zur Verfügung. Stattdessen wurden vereinzelt Schätzungen veröffentlicht, die sich auf Umsatzausfälle beziehen. So verursachten die Tagesstreiks vom Februar 2018 in der Metall- und Elektroindustrie Umsatzausfälle in Höhe von 770 bis 900 Millionen Euro.
Streiks verursachen aber nicht nur Kosten in den betroffenen Unternehmen oder Branchen. Wenn sie unbeteiligte Dritte treffen, entstehen auch indirekte Kosten. Eine Drittbetroffenheit tritt vor allem in der Daseinsvorsorge auf: im Gesundheitswesen, bei der Wasser- und Energieversorgung, der Landesverteidigung und inneren Sicherheit, der Feuerwehr und im Rettungswesen, im Erziehungswesen und bei der Kinderbetreuung, der Bestattung, der Entsorgung sowie im Verkehr. Eine ausgefallene Dienstleistung kann dort – anders als in der industriellen Produktion – oftmals nicht nachgeholt werden. Ist ein Kindergarten wegen eines Streiks geschlossen, müssen Eltern gegebenenfalls einen Urlaubstag einreichen. Streikt die Bahn, muss ein Kunde auf einen nicht bestreikten Verkehrsträger ausweichen oder seine Reise streichen oder verschieben. Im Güterverkehr müssen betroffene Unternehmen alternative Transportwege nutzen, die mit höheren Transportkosten verbunden sind. Im schlimmsten Fall drohen Lieferkettenunterbrechungen, die zum Stillstand der Produktion führen. Für die Deutsche Bahn etwa wurde geschätzt, dass ein flächendeckender Streiktag bis zu 100 Millionen Euro kosten könnte. Davon entfielen ein Drittel der Kosten auf die Deutsche Bahn selbst, ein weiteres Drittel durch weniger Reisende auf Hotels und Gaststätten und das letzte Drittel auf unterbrochene Lieferketten.
Die Kosten für Bahnreisende, die etwa auf das Auto umsteigen und dadurch zu mehr Stau und Umweltverschmutzung beitragen, wurden dabei nicht berücksichtigt. Will man diese „negativen externen Effekte“ messen, wird es aufwendig. Dies zeigt eine Schätzung der Drittwirkungen von 71 Streiks zwischen 2002 und 2011 im öffentlichen Personennahverkehr in Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln und München.
Auf der anderen Seite können Arbeitsniederlegungen langfristig auch positive Drittwirkungen haben. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn Streiks zu besseren Arbeitsbedingungen führen und sich dadurch etwa die medizinische Versorgung oder das Erziehungswesen verbessert. Dieser theoretisch denkbare Effekt ist empirisch allerdings noch nicht untersucht worden.
Streik als Ultima Ratio
Das Bundesarbeitsgericht bezeichnete Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik als „kollektives Betteln“.
Hinzu kommt, dass die Tarifparteien in ihrem Entscheidungskalkül nur die direkten, aber nicht die indirekten Streikschäden berücksichtigen. Nach der Theorie externer Effekte sind Streiks (und Aussperrungen) sogenannte technologische externe Effekte, bei denen das Handeln der Tarifparteien nicht nur über eine temporäre Verknappung des Angebots Preiswirkungen erzeugt (pekuniärer externer Effekt), sondern auch direkt die Präferenzen und damit die Handlungsmöglichkeiten unbeteiligter Dritter beeinflusst.
Diese negativen externen Effekte sind eine Form von Marktversagen, was wiederum ein korrigierendes Eingreifen des Staates rechtfertigt, wenn nicht sogar erfordert.
Wenn solche Regelungen ausscheiden (müssen), sollte der arbeitskampfrechtliche Rahmen zumindest so ausgestaltet sein, dass er den Ultima-ratio-Grundsatz stärkt. Dieser Grundsatz besagt, dass Streik in einer Tarifauseinandersetzung nur das letzte Mittel sein darf. Der Gesetzgeber hat die Regelung des arbeitskampfrechtlichen Rahmens jedoch den Arbeitsgerichten überlassen. Das Bundesarbeitsgericht hat zur Sicherung des Ultima-ratio-Gedankens das Gebot der Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen entwickelt. Dieses hat sich in der Rechtsprechung aber als ungeeignet erwiesen.
Schlichtung: Möglichkeiten und Grenzen
Besondere Hoffnung wird dabei in eine obligatorische Schlichtung gesetzt. Eine Schlichtung ist ein „Verfahren zur Beilegung von kollektiven Regelungsstreitigkeiten zumeist durch Intervention eines am Konflikt unbeteiligten Dritten“.
Eine Schlichtung kann aber auch staatlich organisiert sein. In der Weimarer Republik wurde 1923 eine gesetzliche Schlichtungsverordnung erlassen, die nicht nur einen Zwang zur Schlichtung vorsah (obligatorische Schlichtung), sondern auch einen Zwang zur Annahme des Schlichterspruchs (Zwangsschlichtung). Das Gesetz war eigentlich als Hilfestellung für die Tarifparteien gedacht und sollte die damals noch junge Tarifautonomie fördern. In den Wirren der vielen Krisen führte das Gesetz aber zum Gegenteil: Die Tarifparteien wälzten ihre tarifpolitische Verantwortung mehr und mehr auf die Regierungen ab. Die Zwangsschlichtung wurde „ein Einfallstor für staatliche Lohnpolitik“.
In der Bonner Republik einigten sich die Spitzenverbände der Tarifparteien – die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) 1954 auf Eckpunkte zu tariflichen Schlichtungsverfahren (Margarethenhof-Vereinbarung). Auf dieser Grundlage vereinbarten die Tarifparteien für viele Branchen Schlichtungsabkommen und konnten damit eine erneute staatliche Regelung abwehren.
Eine Auswertung von 20 Branchen mit 30 Tarifbereichen zeigt, dass die Möglichkeiten einer tariflichen Schlichtung vielfach nicht genutzt werden.
Ein Blick auf die Schlichtungspraxis zeigt, dass Schlichtungen durchaus ein erfolgreiches Mittel sind, um Tarifkonflikte beizulegen. In den fast 400 Tarifverhandlungen der untersuchten Branchen kam es zwischen Anfang 2000 und Mitte 2024 zu insgesamt 50 Schlichtungen, von denen 35 erfolgreich waren (Tabelle). Das entspricht einer Erfolgsquote von 70 Prozent. Besonders oft kam es im Bauhauptgewerbe und bei der Deutschen Lufthansa (einschließlich der Tochtergesellschaft Eurowings) zur Schlichtung. Von den jeweils zwölf Schlichtungen gelangen im Bauhauptgewerbe acht und bei der Deutschen Lufthansa zehn. Weniger erfolgreich wurde bei der Deutschen Bahn geschlichtet: Hier führte jede zweite der insgesamt acht Schlichtungen zum Erfolg. Noch geringer fällt die Erfolgsquote im öffentlichen Dienst aus, wo nur zwei von sechs Schlichtungen gelangen.
Angesichts der unterschiedlichen Schlichtungserfolge stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Schlichtung erfolgreich ist. Sollte die Schlichtungsstelle möglichst früh angerufen werden, bevor die Positionen der Tarifparteien verhärtet sind? Oder sollte sie eher spät angerufen werden, nachdem die Tarifparteien alle Möglichkeiten einschließlich des Arbeitskampfes ausgeschöpft haben und die Schlichtung der letzte Strohhalm ist? In den untersuchten Branchen kam es entweder nach dem offiziell erklärten Scheitern der Tarifverhandlung zu einer Schlichtung (39 Fälle) oder nach dem Scheitern und einer Urabstimmung (2 Fälle) beziehungsweise nach einem Arbeitskampf (9 Fälle). Von den 39 „frühen“ Schlichtungen direkt nach dem Scheitern der Verhandlungen waren 26 erfolgreich, von den 11 „späten“ Schlichtungen nach Urabstimmung oder Arbeitskampf insgesamt 9.
Die Schlichtung kann also zu unterschiedlichen Zeitpunkten einer Tarifauseinandersetzung ein erfolgreiches Instrument der Konfliktbeilegung sein und auf diese Weise dem Ultima-ratio-Gedanken Rechnung tragen. Wann der optimale Schlichtungszeitpunkt ist, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Eine zu früh angerufene Schlichtung kann zu einer Pro-forma-Schlichtung führen, die am Ende am mangelnden Einigungswillen der Tarifpartner scheitert. Umgekehrt kann eine späte Schlichtung gerade deshalb erfolgreich sein, weil sich bereits alle vorausgegangenen Eskalationsstufen als nicht zielführend herausgestellt haben.
Hinzu kommt, dass auch eine Schlichtung, die in einem frühen Stadium einberufen wird, eine Vorgeschichte hat, die sich durch die Anrufung der Schlichtung nicht beeinflussen lässt. So gibt es Tarifbereiche wie den öffentlichen Dienst oder die Deutsche Telekom, die über ein festes Schlichtungsabkommen verfügen, in denen aber zugleich Warnstreiks zum festen Ritual einer Tarifauseinandersetzung gehören. Ebenso gibt es Branchen, wie die Druckindustrie oder die Metall- und Elektroindustrie, die über Schlichtungsabkommen verfügen, in denen der unbefristete Streik aber durch Warnstreiks und Tagesstreiks abgelöst wurde und demzufolge kein Scheitern der Verhandlungen mehr erklärt wird. In diesen Tarifbereichen fehlen schlichtweg die Voraussetzungen, um eine Schlichtung anzurufen. Gleichwohl geht es auch dort recht konfliktreich zu, da die Gewerkschaften nach den einzelnen Tarifrunden regelmäßig zu Warnstreiks aufrufen. In der chemischen Industrie oder im Bauhauptgewerbe hingegen ist in den Schlichtungsabkommen festgelegt, dass Warnstreiks erst nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen und einer dann folgenden Schlichtung möglich sind.
Die Folge dieser unterschiedlichen Verhandlungskulturen ist, dass kein stabiler Zusammenhang zwischen der Konfliktintensität von Tarifverhandlungen und dem gewählten Schlichtungsmechanismus besteht. Auch in Branchen, die ohne einen Schlichtungsmechanismus auskommen, können Tarifverhandlungen vergleichsweise harmonisch ablaufen. Beispiele sind die Gastronomie oder das Gebäudereinigerhandwerk. Um die Vorgeschichte eines Tarifkonflikts beeinflussen zu können, müssten Schlichtungsabkommen demnach auch Warnstreiks bis zum Ende eines Schlichtungsverfahrens ausschließen.
Streikvermeidung durch gesetzliche Regelungen
Die Mittelstands- und Wirtschaftsunion begründet ihre Forderung nach einer Reform des Streikrechts damit, dass dieses nicht dazu missbraucht werden dürfe, um schon in einem „frühen Stadium von Tarifverhandlungen unverhältnismäßigen Druck auszuüben und durch die Einbeziehung kritischer Infrastrukturen schweren Schaden anzurichten“.
Die entscheidende Frage ist, inwieweit eine gesetzlich vorgeschriebene obligatorische Schlichtung dazu beitragen kann, diese Zielsetzungen zu erreichen. Die Schlichtung dient dem Ziel, einen festgefahrenen Tarifkonflikt zu lösen – damit dies gelingt, müssen beide Tarifparteien ein Interesse daran haben, sich mit der Hilfe eines neutralen Schlichters zu einigen. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, kommt es zu einer Pro-forma-Schlichtung, die einen Konflikt nicht beilegt, sondern lediglich aufschiebt. Erzwungen läuft eine Schlichtung somit Gefahr, ihre eigene Wirksamkeit dem Gedanken zu opfern, die Tarifparteien zu disziplinieren und zu einem kooperativen Miteinander zu zwingen. Ob eine Schlichtung das leisten kann – etwa, weil öffentlicher Druck die Tarifparteien diszipliniert – ist angesichts der bisherigen Erfahrungen fraglich.
Das bedeutet aber nicht, dass die Politik untätig bleiben muss. Denkbar wäre, den Tarifparteien vorzuschreiben, dass sie ein tarifliches Schlichtungsabkommen vereinbaren. Dies wäre durch eine Ergänzung des Tarifvertragsgesetzes möglich. Der Gesetzgeber würde damit signalisieren, dass die Schlichtung ein wirksames Hilfsmittel der Tarifautonomie sein kann und den Ultima-ratio-Gedanken stärkt. Die Ausgestaltung der tariflichen Schlichtungsvereinbarung wäre allerdings Sache der Tarifparteien. Bereits geschlossene Abkommen könnten bestehen bleiben, und Branchen ohne Schlichtungsabkommen könnten vereinbaren, Schlichtungen ad hoc vorzusehen und immer vom beiderseitigen Willen abhängig zu machen. Wenn im Konfliktfall keine Schlichtung gewollt wird, dann unterbleibt sie. Sie würde dann aber auch nicht pro forma stattfinden und scheitern. Die Tarifparteien müssten sich im Konfliktfall aber fragen lassen, warum sie keine Schlichtung wollen. Das erhöht auf beiden Seiten den Rechtfertigungsdruck.
Wenn der Gesetzgeber – insbesondere in der Daseinsvorsorge – Arbeitskämpfe vermeiden will, sollten weitergehende Vorschläge umgesetzt werden. Das würde auf die Definition eines arbeitskampfrechtlichen Rahmens hinauslaufen. Hierzu liegt schon seit 2012 ein Gesetzentwurf vor, der von der Carl Friedrich von Weizsäcker-Stiftung angeregt wurde.
An rechtspolitischen Vorschlägen besteht kein Mangel. Allerdings ist es hierzulande in über hundert Jahren nicht gelungen, das Arbeitskampfrecht gesetzlich zu regeln. Dass die Politik dies den Arbeitsgerichten überlässt, hat einen guten Grund: Eine gesetzliche Regelung des Streikrechts würde zu intensiven Auseinandersetzungen führen. Wie schwierig allein schon eine gesetzliche Regelung der Grundversorgung ist, zeigen die kontroversen Debatten im Vereinigten Königreich, wo die konservative Regierung 2023 einen Gesetzentwurf zu Mindestdiensten bei Streiks ins Unterhaus eingebracht und verabschiedet hat.
Eine gesetzliche Regelung des Arbeitskampfrechts setzt also einen breiten Konsens in Gesellschaft und Politik voraus. Auf dem Höhepunkt einer Streikwelle in Deutschland im Frühjahr 2024 votierten in einer Umfrage 54 Prozent der Befragten für eine Änderung des Streikrechts, beispielsweise für verpflichtende Schlichtungen oder rechtzeitige Vorankündigungen.