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Streik Editorial Wie viel Streik darf’s sein? - Essay Schon wieder Streik? Arbeitskämpfe in Deutschland im europäischen Vergleich Das Streikrecht: Grundsätze und Grenzen Wegmarken der deutschen Streikgeschichte seit 1945 Frauen im Streik. Zur Feminisierung von Arbeitskämpfen Streikschäden vermeiden. Was bringt die Schlichtung? Wo streiken nicht hilft. Arbeitskritik im Niedriglohnsektor

Frauen im Streik Zur Feminisierung von Arbeitskämpfen

Ingrid Artus

/ 15 Minuten zu lesen

Frauenstreiks haben in den vergangenen 20 Jahren neue Sichtbarkeit erlangt, etwa in Krankenhäusern und Kindertagesstätten. Sie verweisen auf Emanzipationsgewinne und eine neue Anspruchshaltung von Frauen, nicht nur im Bereich der Erwerbsarbeit.

„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Dieser klassische Streikslogan ist eindeutig vergeschlechtlicht. „Der Streikende“ ist idealtypisch ein Mann, muskelbepackt, assoziiert mit Hammer und Hochofen. Dabei war die sogenannte Arbeiterbewegung immer eine Arbeiter*innenbewegung, und auch Streiks waren immer eine Angelegenheit aller Geschlechter. Aber eine androzentrische Geschichtsschreibung und Sprache hat an vielen Stellen nicht überliefert, dass harte Arbeitskämpfe dominant (auch) von Frauen ausgefochten wurden. Weibliche Konfliktfähigkeit und Kampfstärke wurden im kollektiven Gedächtnis ausgeblendet, weil nicht sein kann, was nicht sein darf und was gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen widerspricht.

Aber das Bild der Streikenden hat sich in jüngerer Zeit gewandelt: Es sind nicht mehr (nur) die Stahlwerker und Autobauer, die in harten Tarifkämpfen ihre Interessen durchsetzen. Neuerdings machen Verkäuferinnen, Krankenschwestern, Stewardessen, Putzfrauen und Erzieherinnen von sich reden, wenn sie die Arbeit einstellen und auf die Straße gehen. Neu ist jedoch nicht die Beteiligung von Frauen an Arbeitskämpfen, sondern das Rampenlicht, das ihnen zuteilwird. Sie stehen an der Spitze beziehungsweise im Zentrum aktueller gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen und sind nicht mehr zu übersehen.

Der vorliegende Text bietet einen Überblick über die aktuelle Feminisierung von Arbeitskämpfen. Feminisierung meint dabei nicht (nur) die quantitative Zunahme von Frauen, die an Arbeitskämpfen beteiligt sind. Der Begriff zielt vor allem auf die neue gesellschaftliche Bedeutung und Sichtbarkeit von Frauenstreiks. Damit verknüpft sind qualitative Veränderungen der Streikkultur, des gesellschaftlichen Bildes von Kämpfen im Bereich der Lohnarbeit sowie zum Teil auch veränderte Streikinhalte. Zunächst folgt ein kurzer historischer Überblick über die lange Geschichte weiblicher Kämpfe um Emanzipation im Bereich der Erwerbsarbeit. Anschließend werden die Hintergründe der neuen weiblichen „Arbeiterinnenunruhe“ diskutiert sowie empirische Schlaglichter auf zwei Branchen geworfen, die sich zu zentralen Kampfarenen entwickelt haben: die Krankenhäuser und die Kindertagesstätten.

Zur Geschichte weiblicher Streiks

„Nichts deutet darauf hin, dass Frauen generell weniger streikbereit als Männer wären“, resümiert der deutsche Streikforscher Heiner Dribbusch. Damit wiederholt er fast wörtlich die Einschätzung von Sarah Boston in ihrem Standardwerk zur Geschichte der Arbeiterinnen in den englischen Gewerkschaften: „Whilst women have been less prominent in leading unions, there ist little evidence to show that they were less militant.“ Etwas zurückhaltender ist die Einschätzung der Grande Dame der französischen Geschichtswissenschaften, Michelle Perrot. Sie schreibt über die grèves féminines (weibliche Streiks) im 19. Jahrhundert, diese seien im Ton moderater, defensiver geprägt, weniger organisiert und auch seltener als in gemischtgeschlechtlichen oder rein männlich geprägten Arbeitsbereichen gewesen. Selbst wenn Perrot recht haben sollte, so ist dies kein Wunder, denn Frauen hatten historisch längst nicht die gleichen Rechte und haben bis heute nicht dieselben Machtressourcen wie Männer. Ihre Situation als Lohnarbeiterinnen war und ist nicht nur geprägt von der Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit, sondern zusätzlich von patriarchaler Diskriminierung – und die Kapitalseite hatte und hat ein virulentes Interesse daran, diese spezifisch patriarchale Logik kapitalistischer Ausbeutung aufrechtzuerhalten.

Denn Frauen erhielten qua Geschlecht im 19. Jahrhundert – wohlgemerkt selbst im Fall identischer Arbeit – nur etwa die Hälfte der Männerlöhne. Das im 18. und 19. Jahrhundert aufkommende bürgerliche Familienideal schrieb ihnen einen Platz an Heim und Herd vor, als Mutter und Hausfrau. Die soziale Realität der Industrialisierung zwang sie jedoch in die Fabrik. Sie hatten kein Recht auf Erwerbsarbeit – die proletarische Lebenssituation machte diese jedoch zur existenziellen Pflicht. Viele verfügten nicht einmal über eine elementare Schulbildung, geschweige denn über eine qualifizierte Berufsausbildung. Diese stand ausschließlich jungen Männern offen – ebenso wie die frühen Arbeitervereine und Gewerkschaften. Unter diesen Bedingungen war weibliche Lohnarbeit in der Frühphase der Industrialisierung strukturell subaltern: qua Geschlecht bezahlt mit einem Lohn, der nicht zum Überleben reichte, gewerkschaftlich unorganisiert, gesellschaftlich stigmatisiert und mit extrem langen Arbeitszeiten, körperlicher Schwerstarbeit und hohen Gesundheitsrisiken verbunden. Darüber hinaus waren Arbeiterinnen häufig sexuellen Übergriffen durch Vorgesetzte und Unternehmer ausgesetzt.

Hätte das nicht schon gereicht, um kollektive Organisierung und weibliche Arbeitskämpfe zu erschweren, so verbot zusätzlich das preußische Vereinsgesetz zwischen 1850 und 1908 generell die Mitgliedschaft von Frauen in Vereinen und ihre Teilnahme an politischen Versammlungen. Und last but not least: Die etablierten patriarchalen Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung erschwerten jede kollektive Organisierung von Arbeiterinnen durch das Problem der Doppel- beziehungsweise Dreifachbelastung – und tun es bis heute. Denn neben der bezahlten Lohnarbeit leisten Frauen den größten Anteil unbezahlter Familien- und Sorgearbeit. Da fällt ein zusätzliches politisches oder gewerkschaftliches Engagement „doppelt schwer“ – weshalb viele berühmte Sozialistinnen und Gewerkschafterinnen ledig oder verwitwet, kinderlos und manchmal auch lesbisch waren.

Es war ein langer Weg, den Frauen zurückgelegt haben von ihrer entrechteten und weitgehend machtlosen Position – von der männlichen Arbeiterbewegung als vermeintliche „Schmutzkonkurrentinnen“ und „Streikbrecherinnen“ stigmatisiert, wenn nicht sogar bekämpft – hin zu egalitär akzeptierten Gewerkschaftskolleginnen und in jüngster Zeit sogar an die Spitze der beiden größten deutschen Gewerkschaftsorganisationen. Dieser Weg führte über zwei große Wellen der Frauenbewegung (im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und ab 1968 bis Ende der 1980er Jahre), vom Ausschluss weiblicher Lohnarbeit aus den frühen Gewerkschaften über deren zögerliche Öffnung für die vermeintlich „schwer organisierbaren“ Frauen (etwa 1870 bis 1918/19), die gewerkschaftliche (Mit-)Behandlung des „Problems“ der Frauenerwerbstätigkeit als eher untergeordnete Frage im Klassenkampf (1920er bis 1980er Jahre) bis hin zur sukzessiven Emanzipation der Frauen als zunehmend gleichberechtigte Kolleginnen in den gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen, unter anderem durch die Einführung von Frauenquoten und gender mainstreaming (1990er Jahre bis heute).

Dieser lange Weg ist gepflastert mit Frauenstreiks und -mobilisierungen – denn Streiks sind nicht nur Ausdruck von Organisierungsfähigkeit und kollektiver Macht, sondern zugleich Orte und Gelegenheiten, um diese zu erzeugen. Ein typisches, aber nicht das einzige Terrain weiblicher Mobilisierung waren Branchen, die Frauen im Rahmen der Segmentierung des Arbeitsmarktes als „weibliche“ Bereiche zugewiesen sind, allen voran die Textil- und Bekleidungsindustrie. So war etwa der Streik der Crimmitschauer Textilarbeiterinnen 1903/04 für die Reduktion des Arbeitstages auf zehn Stunden einer der härtesten Arbeitskämpfe seiner Zeit. Berühmt sind auch Arbeitskämpfe in feminisierten Abteilungen der Automobil(zuliefer)industrie, etwa der Sitznäherinnen bei Ford im britischen Dagenham 1968 oder der migrantischen Arbeiterinnen bei der Firma Pierburg in Neuss 1973. Beides waren Streiks für die Abschaffung der ungerechten Niedriglöhne für Frauen. Emblematisch für den Kampf um „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ waren auch die sogenannten Heinze-Frauen, die im Fotolaborbetrieb der Firma Heinze zwar nicht streikten, aber 1979 bis 1981 das Recht auf gleichen Lohn in einem langwierigen Prozess vor Gericht durchsetzten.

Michelle Perrots These, wonach die grèves féminines historisch defensiv geprägt seien, trifft also zu: Es handelte sich häufig um Kämpfe gegen Über-Ausbeutung. Aber auch Sarah Boston hat recht: Frauenstreiks können militant und müssen manchmal besonders hartnäckig sein, um Erfolg zu haben. Typisch ist zudem, dass die Streikführerinnen der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Denn Frauenstreiks wurden und werden gewerkschaftlicherseits häufig von Männern repräsentiert, oder wie Heiner Dribbusch es prägnant formulierte: „Frauen streiken, Männer verhandeln.“

Der Historikerin Gisela Notz zufolge lassen sich vier Arten von Frauenstreiks unterscheiden: Neben „reinen“ Frauenstreiks, in denen Gender-Aspekte häufig eine wichtige und explizite Rolle spielen, streiken Frauen auch in vielen gemischtgeschlechtlichen Streiks gemeinsam mit Männern für allgemeine Tarifziele wie höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Zudem waren und sind Frauen als Unterstützerinnen an dominant von Männern geführten Streiks (zum Beispiel im Bergbau) aktiv beteiligt; sie sichern die Infrastruktur zu Hause und im Betrieb, sammeln Geld für die Streikkasse, stellen Streikposten und sind für die Aufrechterhaltung der Moral der Streikenden von zentraler Bedeutung. Und zuweilen bestreiken Frauen nicht nur Lohnarbeiten, sondern auch „ihre“ unbezahlte Arbeit: Haus‑, Sorge- und Pflegearbeit, Gebärarbeit, Sexarbeit. Das ist in der Regel gemeint, wenn jüngst wieder verstärkt von „feministisch streiken“ oder vom „internationalen Frauen*streik“ die Rede ist: Frau lässt – mindestens einen Tag lang, häufig am internationalen Frauenkampftag, dem 8. März – alles „stehen und liegen“ und geht massenhaft auf die Straße, um das Ende patriarchaler Unterdrückung in allen Lebensbereichen zu fordern und zu erstreiken.

Wo stehen wir heute? Frauenstreiks als Seismografen

Das Streikgeschehen in Deutschland hat sich in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewandelt. Nach einer Phase eher geringer Arbeiterunruhe in den 1990er Jahren hat die Konflikthäufigkeit seit den 2000er Jahren wieder zugenommen. Orte, Akteur*innen und Modi der Streiks haben sich verändert: Die Konflikte sind dezentraler als früher, und im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels finden sie häufiger im Dienstleistungsbereich statt. Neue Branchen stehen im Zentrum, darunter viele feminisierte Bereiche: der Einzelhandel, die Krankenhäuser, der Erziehungs- und Bildungsbereich, die Pflege, der Reinigungsbereich. Die Entwicklung von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft (Tertiarisierung) und die Feminisierung des Streikgeschehens sind eng miteinander verknüpft.

Mit dem Begriff der Feminisierung wird nicht behauptet, die Mehrheit der Streikenden in Deutschland sei mittlerweile weiblich. Das ist auch kaum zu erwarten, denn Frauen sind im Erwerbsleben immer noch unterrepräsentiert, und nur etwa jedes dritte Gewerkschaftsmitglied unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) ist weiblich. Die Zunahme von Arbeitskämpfen in feminisierten Dienstleistungsbrachen ist jedoch ein gesellschaftlich relevantes Phänomen, in dem sich mehrere übergreifende Entwicklungstrends bündeln:

Erstens sind sie Ausdruck einer gesteigerten Präsenz und Durchsetzungskraft von Frauen im Erwerbsleben. Die Frauenerwerbsquote ist zwischen 1991 und 2022, mit kurzer Unterbrechung während der Corona-Pandemie, kontinuierlich von 62 auf 75 Prozent gestiegen. Mädchen überflügeln die Jungen inzwischen im Bereich der Schulbildung, sie studieren und qualifizieren sich beruflich genauso häufig und mit ähnlichem Erfolg wie Jungen – wenn auch tendenziell in anderen Fächern und für andere (und weniger zahlreiche) Berufe. Die verstärkte Präsenz von Frauen im Berufsleben korreliert mit veränderten Familienmustern und Geschlechterarrangements. Das männliche Ernährermodell hat an Bedeutung verloren. Der Doppelverdienerhaushalt ist die neue Norm und entspricht dem EU-Leitbild vom adult worker. Das traditionelle Konzept des „Familienlohns“, das heißt die Annahme, dass der Mann von seinem Lohn Ehefrau und Kinder miternähren kann und muss, hat somit ausgedient. Es korrespondiert nicht mehr mit mehrheitlich gelebten Realitäten sowie rechtlichen Regelungen (etwa im Scheidungsrecht und der Arbeitsmarktpolitik). Frauen können, wollen und müssen heute erwerbstätig sein – aber sie erhalten nach wie vor 18 Prozent weniger Lohn für ihre Arbeitskraft. Die Aufwertung von Frauenarbeit ist daher ein Gebot der Stunde und Streikziel Nummer 1.

Zweitens hat in Deutschland seit den 1990er Jahren ein durchgreifender Prozess neoliberaler Restrukturierung des Arbeitsmarktes und des öffentlichen Dienstes stattgefunden. Die daraus resultierende Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen betrifft überproportional stark Frauen und Migrant*innen. Folge der Ökonomisierung, Vermarktlichung und Privatisierung vieler Dienstleistungsbereiche sind eine schwindende Tarifbindung, die Zunahme von Niedriglöhnen und Arbeitsstress. Arbeitsbedingungen und Personalausstattung haben sich in vielen (zum Teil ehemaligen) Bereichen des öffentlichen Dienstes mittlerweile so stark verschlechtert, dass Qualität und Funktionsfähigkeit zentraler Bereiche der Daseinsfürsorge bedroht sind: Krankenhäuser sind zu „weißen Fabriken“ geworden. Es fehlt an Pflegepersonal für alte, kranke, invalide und behinderte Menschen – ein Problem, das mit der Alterung der Bevölkerung noch zunehmen wird. Für den, angesichts steigender Frauenerwerbstätigkeit nötigen, Ausbau der Kinderbetreuung gibt es nicht genügend qualifizierte Erzieher*innen. Der Arbeitskräftemangel bedroht die Gesundheit der Beschäftigten und die Qualität von Sorgearbeit. Dies ist auch mit dem Berufsethos der Sorgearbeitskräfte nicht vereinbar. Im Zentrum dieser „Krise der Reproduktion“ brechen daher jene „Sorge-Kämpfe“ aus, die paradigmatisch sind für die Feminisierung (und Migrantisierung) des Streikgeschehens. Sie drehen sich um bessere Arbeitsbedingungen, mehr Personal, eine Aufwertung weiblicher Sorgearbeit, aber auch um eine verbesserte Grundversorgung für die Gesamtbevölkerung in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Bildung und Sozialarbeit.

Drittens hängt die Feminisierung des Streikgeschehens auch mit veränderten gewerkschaftlichen Strategien zusammen. Auf den Schwund ihrer Mitgliederzahlen reagierten die DGB-Gewerkschaften ab Mitte der 2000er Jahre mit neuen konflikt- und beteiligungsorientierten Mobilisierungs- und Organisierungskonzepten, häufig auch als Organizing bezeichnet. Weibliche Beschäftigte in Sorge-Berufen zeigten sich besonders empfänglich für diese Strategien. Eine ausgeprägte Dynamik entwickelten die Arbeitskämpfe in Krankenhäusern und Kindertagesstätten, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.

Sorge-Kämpfe in Krankenhäusern und Kitas

Streiken im Krankenhaus ist schwierig, denn die Niederlegung der Arbeit gefährdet potenziell die Patient*innen. Bis in die 1990er Jahre wurden daher Arbeitskämpfe eher symbolisch als „Delegiertenstreiks“ geführt. Dies änderte sich ab Mitte der 2000er Jahre, parallel zur Vermarktlichung der Krankenhäuser, unter anderem durch die Einführung des neuen Fallpauschalensystems. Notdienstvereinbarungen wurden zu einem zentralen Instrument, um mit zeitlichem Vorlauf eine bestimmte Zahl von Betten beziehungsweise Stationen zu bestreiken.

Das zentrale Thema der Streiks ist der Pflegenotstand. Am Berliner Universitätsklinikum Charité wurde 2015 der erste Tarifvertrag für eine Entlastung erstreikt – anfänglich noch gegen das Widerstreben der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), die zweifelte, ob eine Tarifforderung nach Personalvorgaben gesetzeskonform sei. Die motivierenden Erfahrungen, die dabei auch mit basisdemokratischen Organizing-Strategien gemacht wurden, bildeten in der Folgezeit die Blaupause und Experimentiergrundlage für vielfältige tarifliche Entlastungskampagnen – zunächst im Saarland, in Gießen und Marburg, an den Universitätskliniken in Düsseldorf und Essen, in Baden-Württemberg, Hannover, Augsburg, Mainz und Jena, bei Vivantes in Berlin und andernorts.

Ein weiterer Schwerpunkt der Streiks waren und sind die häufig ausgegründeten Servicebereiche der Krankenhäuser, etwa für Reinigung und Bettentransporte. Hier ging und geht es vor allem um den Kampf gegen Niedriglöhne und die Wiederanbindung an das Tarifniveau des öffentlichen Dienstes. Oft unterstützen zivilgesellschaftliche Bündnisse die Streikbewegungen und tragen den Druck aus den Betrieben auf die Straße und in die Parlamente. Der Fachbereich, der unter anderem die Krankenhäuser umfasste, stellte bei Verdi zwischen 2005 und 2021 die meisten Streikanträge. Er repräsentierte in diesem Zeitraum „rund 30 Prozent aller von Verdi geführten Arbeitskämpfe“.

Eine wichtige Wegmarke in der jüngeren Geschichte der Arbeitskämpfe in den Sozial- und Erziehungsdiensten, oft verkürzt als „Kita-Streiks“ bezeichnet, ist das Jahr 2008, als sich die Erzieherinnen in tariflichen Warnstreiks des öffentlichen Dienstes höchst mobilisierungsfähig zeigten. Verdi und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nahmen den Schwung auf und organisierten 2009 den ersten „Kita-Streik“ für einen verbesserten Gesundheitsschutz und eine Reform der Eingruppierungsregeln. Ziel war (und ist) die grundlegende Aufwertung von weiblicher Sorgearbeit. Während in den Krankenhäusern überwiegend dezentrale Haustarifverträge erstritten wurden, gehören die kommunalen Sozial- und Erziehungsdienste zum Flächentarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD). Der Streik 2009 hatte damit erhebliche Breitenwirkung. An den rollierenden Tagesstreiks beteiligten sich etwa 150000 Beschäftigte. Das Ergebnis enttäuschte zwar viele Erwartungen, aber Verdi verzeichnete im Sozial- und Erziehungsbereich einen Mitgliederzuwachs von gut 30 Prozent.

2015 folgte eine neue Tarifrunde, mit Forderungen nach Aufwertung und neuer Streiktaktik. Die mehrwöchigen bundesweiten Flächenstreiks belasteten die gewerkschaftlichen Streikkassen erheblich. Trotz massenhafter Beteiligung reichte der ökonomische und politische Druck erneut nicht aus, um die Blockadehaltung der kommunalen Arbeitgeberverbände zu brechen – zumal die direkten Streikfolgen nicht die Kommunen, sondern die Eltern der (nicht) betreuten Kinder trugen. Deren Solidarität mit dem Streik war indes begrenzt. Die Enttäuschung vieler Streikender äußerte sich in langen Querelen um die Annahme des tariflichen Schlichtungsergebnisses. Eine Streikdelegiertenversammlung und eine Mitgliederbefragung lehnten dieses mehrheitlich ab, bevor es leicht modifiziert mit knapper Mehrheit akzeptiert wurde.

Im Frühjahr 2022, mitten in der Corona-Pandemie, ging der Kampf um Aufwertung in die dritte Runde, ergänzt um Forderungen nach Entlastung, wieder mit flexiblen Tagesstreiks und diesmal reduzierter Basisdemokratie. Der erste Streiktag fiel auf den internationalen Frauenkampftag, was innovative Bündnisse zwischen Gewerkschafter*innen und Feministinnen ermöglichte. Immerhin gelang es, zwei „Regenerationstage“, das heißt zusätzliche Urlaubstage, durchzusetzen. Dass damit der Kampf um Aufwertung und Entlastung aber längst nicht zu Ende ist, zeigte zuletzt auch der harte Konflikt in den Berliner Kitas. Der Streik wurde zwar am 11. Oktober 2024 vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg verboten, die Empörung der Erzieherinnen über ihre Arbeitsbedingungen dürfte durch diese Entscheidung aber kaum gedämpft worden sein.

Fazit

Streiks in Krankenhäusern und Kitas sind zwei prominente Beispiele für die aktuelle Feminisierung von Arbeitskämpfen. Sie verändern das Bild „des Streikenden“ in der Öffentlichkeit und zeigen ein gestiegenes Selbstbewusstsein, eine neue Anspruchshaltung von Frauen im Erwerbsleben. Ausgestattet mit guten Qualifikationen, gezwungen und gewillt, nicht nur sich selbst, sondern häufig auch Kinder und manchmal auch den Partner zu ernähren, sowie emanzipiert in den Gewerkschaften, fordern sie nicht nur gleichen Lohn für gleiche Arbeit, sondern eine grundlegende Aufwertung von Frauenarbeit.

Die feminisierten Streiks haben häufig jedoch schwierige Durchsetzungsbedingungen. Es bedarf neuer, kreativer Streiktaktiken und oft auch Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen, um politischen Druck zu entfalten. Damit tragen die neuen Frauenstreiks auch zur Revitalisierung der Gewerkschaften und Erneuerung der Arbeiter*innenbewegung bei. Und sie weisen über die Gewerkschaften hinaus, denn sie sprechen grundlegende Fragen an: Warum zahlen wir Menschen, die Autos bauen, mehr als jenen, denen wir unsere Kinder anvertrauen? Wie viel ist einer Gesellschaft eine gute Gesundheitsversorgung und Bildung wert? Warum ist der soziale Sektor so stark unterfinanziert? Sind Profite wichtiger als Menschenleben? Wo fließt die gesellschaftliche Wertschöpfung hin – wenn offenbar nicht in die Taschen der „Corona-Heldinnen“ in Supermärkten, Krankenhäusern und Altenheimen? Warum ist das so, und wie ließe sich das ändern? Die Feminisierung der Arbeitskämpfe bedeutet längst noch nicht die Herstellung von Geschlechtergleichheit, geschweige denn die Organisierung unserer Ökonomie und Gesellschaft nach fairen, humanen und solidarischen Prämissen. Aber sie ist eine Etappe auf dem Weg dorthin.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Androzentrismus meint, dass Männer und männliche Eigenschaften als Norm gedacht werden, Frauen und weibliche Lebensmuster als Abweichung.

  2. Vgl. Ingrid Artus, Frauen*-Streik! Zur Feminisierung von Arbeitskämpfen, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Februar 2019, Externer Link: http://www.rosalux.de/publikation/id/39917; Heiner Dribbusch, Streik. Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000. Daten, Ereignisse, Analysen, Hamburg 2023, S. 280–289.

  3. Der Begriff ist angelehnt an den englischen Begriff labour unrest. In der angelsächsischen Denktradition der labour process debate bezeichnet dieser nicht nur explizite und formalisierte Formen von Arbeitskämpfen und Streiks, sondern das gesamte Spektrum individueller wie kollektiver Widersetzlichkeiten und Unbotmäßigkeiten von Arbeiter*innen im Prozess der bezahlten Verausgabung ihrer Arbeitskraft. Vgl. etwa Beverly J. Silver, Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin–Hamburg 2005.

  4. Dribbusch (Anm. 2), S. 281.

  5. Sarah Boston, Women Workers and Trade Unions, London 1980, S. 40.

  6. Vgl. Michelle Perrot, Les femmes ou les silences de l’histoire, Paris 1998, S. 122ff.

  7. Frühe Ausnahmen waren der Pflegebereich und der Lehrerinnenberuf. Dies galt aber in der Regel nur für bürgerliche Frauen.

  8. Erwerbstätige Frauen leisten auch aktuell pro Woche etwa acht Stunden mehr unbezahlte Arbeit im Haushalt und bei der Kinderbetreuung als Männer. Vgl. Yvonne Lott, Alles beim Alten: Der Gender Care Gap in der Erwerbsbevölkerung, Wirtschafts- und Sozialwissenschftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung, WSI Policy Brief 83/2024.

  9. Vgl. Gisela Notz, Den Aufstand wagen, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 36/1994, S. 23–33; Gisela Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation und Gewerkschaften, Wuppertal 1978.

  10. Yasmin Fahimi wurde im Mai 2022 als erste Frau zur Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes gewählt. Seit Oktober 2023 ist Christiane Benner die erste weibliche Vorsitzende der IG Metall.

  11. Heiner Dribbusch, Streikende Frauen in der Bundesrepublik. Geschichte einer Sichtbarwerdung, in: Ingrid Artus et al. (Hrsg.), Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe, Münster 2020, S. 50–74, hier S. 52.

  12. Vgl. Gisela Notz, Die Geschichten von Frauenstreiks und streikenden Frauen: „Das vierte „K“ heißt Kampf“, in: Ingrid Artus et al. (Anm. 11), S. 28–49.

  13. Vgl. AG Feministischer Streik Kassel, Feministisch streiken. Dort kämpfen, wo das Leben ist, Münster 2023; Brigitte Kiechle, Frauen*streik. „Die Welt steht still, wenn wir die Arbeit niederlegen“, Stuttgart 2019.

  14. Vgl. Dribbusch (Anm. 2), S. 85–101.

  15. Vgl. Ingrid Artus/Jessica Pflüger, Feminisierung von Arbeitskonflikten. Überlegungen zur gendersensiblen Analyse von Streiks, in: Arbeits- und Industriesoziologische Studien 2/2015, S. 92–108.

  16. Belastbare gendersensible Daten zur Beteiligung an Streiks sind Mangelware und ein Desiderat der Streikstatistik.

  17. Vgl. WSI GenderDatenPortal: Mitbestimmung, 2024, Externer Link: http://www.wsi.de/de/mitbestimmung-14620-frauenanteil-in-den-dgb-gewerkschaften-14770.htm.

  18. Vgl. WSI GenderDatenPortal: Erwerbsarbeit, 2024, Externer Link: http://www.wsi.de/de/erwerbsarbeit-14617-erwerbstaetigenquoten-und-erwerbsquoten-14877.htm. Die Frauenerwerbsquote berücksichtigt allerdings nicht, dass fast die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen in Teilzeit arbeitet, aber nur 13 Prozent der erwerbstätigen Männer.

  19. Vgl. Yvonne Lott et al., Stand der Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland, WSI Report 56/2022.

  20. Vgl. Christina Klenner, Wer „ernährt“ wen? Auf der Suche nach einem neuen Leitbild, in: WSI Mitteilungen 3/2013, S. 210ff.

  21. Vgl. Lott et al. (Anm. 19).

  22. Vgl. Auf einen Blick: Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit, 4.3.2024, Externer Link: http://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-studien-zu-gleichstellung-und-geschlechtergerechtigkeit-21085.htm; Franziska Loschert/Holger Kolb/Franziska Schork, Prekäre Beschäftigung – prekäre Teilhabe. Ausländische Arbeitskräfte im deutschen Niedriglohnsektor, Sachverständigenrat für Integration und Migration, SVR-Studie 1/2023.

  23. Vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Care-Arbeit und das Ethos fürsorglicher Praxis unter neuen Marktbedingungen am Beispiel der Pflegepraxis, in: Berliner Journal für Soziologie 2/2008, S. 221–243.

  24. Vgl. Kerstin Jürgens, Deutschland in der Reproduktionskrise, in: Leviathan 4/2010, S. 559–587; Julia Dück, Soziale Reproduktion in der Krise. Sorge-Kämpfe in Krankenhäusern und Kitas, Weinheim–Basel 2022; Ingrid Artus et al. (Hrsg.), Sorge-Kämpfe. Auseinandersetzungen um Arbeit in sozialen Dienstleistungen, Hamburg 2017.

  25. Der Begriff stammt aus der US-amerikanischen Community-Bewegung. Vgl. Jane McAlevey, Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing, Hamburg 2019.

  26. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg bestätigte am 24. Juni 2015 die Rechtmäßigkeit des Streiks an der Charité.

  27. Vgl. Kalle Kunkel, „Langer Atem – keine Geduld mehr“. Der Kampf um die Krankenhäuser als politischer Tarifkonflikt, Hamburg 2024 (i.E.).

  28. Dribbusch (Anm. 2), S. 141.

  29. Nur etwa ein Drittel aller Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst arbeitet in Einrichtungen mit kommunaler Trägerschaft; der größere Teil ist bei freien, kirchlichen oder privaten Trägern beschäftigt und damit nicht unmittelbar an den TVöD gebunden. Vgl. Kristin Ideler, Aufwertung reloaded. Die Tarifauseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst 2015 aus gewerkschafts- und geschlechterpolitischer Sicht, in: Artus et al. (Anm. 24), S. 76–89.

  30. Vgl. Dribbusch (Anm. 2), S. 167.

  31. Anders als in der Tarifrunde 2015 gab es 2022 keine Streikdelegierten und auch keine Streikdelegiertenversammlungen mehr. Stattdessen wurde die Rolle der Bundestarifkommission wieder aufgewertet.

  32. Vgl. Yanira Wolf, Streikpraxis. Feminist*innen aus Bewegung und Gewerkschaft berichten, Berlin 2021.

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ist Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Vergleichende Gesellschaftsanalyse an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.