„Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Dieser klassische Streikslogan ist eindeutig vergeschlechtlicht. „Der Streikende“ ist idealtypisch ein Mann, muskelbepackt, assoziiert mit Hammer und Hochofen. Dabei war die sogenannte Arbeiterbewegung immer eine Arbeiter*innenbewegung, und auch Streiks waren immer eine Angelegenheit aller Geschlechter. Aber eine androzentrische
Aber das Bild der Streikenden hat sich in jüngerer Zeit gewandelt: Es sind nicht mehr (nur) die Stahlwerker und Autobauer, die in harten Tarifkämpfen ihre Interessen durchsetzen. Neuerdings machen Verkäuferinnen, Krankenschwestern, Stewardessen, Putzfrauen und Erzieherinnen von sich reden, wenn sie die Arbeit einstellen und auf die Straße gehen. Neu ist jedoch nicht die Beteiligung von Frauen an Arbeitskämpfen, sondern das Rampenlicht, das ihnen zuteilwird. Sie stehen an der Spitze beziehungsweise im Zentrum aktueller gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen und sind nicht mehr zu übersehen.
Der vorliegende Text bietet einen Überblick über die aktuelle Feminisierung von Arbeitskämpfen. Feminisierung meint dabei nicht (nur) die quantitative Zunahme von Frauen, die an Arbeitskämpfen beteiligt sind. Der Begriff zielt vor allem auf die neue gesellschaftliche Bedeutung und Sichtbarkeit von Frauenstreiks. Damit verknüpft sind qualitative Veränderungen der Streikkultur, des gesellschaftlichen Bildes von Kämpfen im Bereich der Lohnarbeit sowie zum Teil auch veränderte Streikinhalte.
Zur Geschichte weiblicher Streiks
„Nichts deutet darauf hin, dass Frauen generell weniger streikbereit als Männer wären“, resümiert der deutsche Streikforscher Heiner Dribbusch.
Denn Frauen erhielten qua Geschlecht im 19. Jahrhundert – wohlgemerkt selbst im Fall identischer Arbeit – nur etwa die Hälfte der Männerlöhne. Das im 18. und 19. Jahrhundert aufkommende bürgerliche Familienideal schrieb ihnen einen Platz an Heim und Herd vor, als Mutter und Hausfrau. Die soziale Realität der Industrialisierung zwang sie jedoch in die Fabrik. Sie hatten kein Recht auf Erwerbsarbeit – die proletarische Lebenssituation machte diese jedoch zur existenziellen Pflicht. Viele verfügten nicht einmal über eine elementare Schulbildung, geschweige denn über eine qualifizierte Berufsausbildung. Diese stand ausschließlich jungen Männern offen
Hätte das nicht schon gereicht, um kollektive Organisierung und weibliche Arbeitskämpfe zu erschweren, so verbot zusätzlich das preußische Vereinsgesetz zwischen 1850 und 1908 generell die Mitgliedschaft von Frauen in Vereinen und ihre Teilnahme an politischen Versammlungen. Und last but not least: Die etablierten patriarchalen Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung erschwerten jede kollektive Organisierung von Arbeiterinnen durch das Problem der Doppel- beziehungsweise Dreifachbelastung – und tun es bis heute. Denn neben der bezahlten Lohnarbeit leisten Frauen den größten Anteil unbezahlter Familien- und Sorgearbeit.
Es war ein langer Weg, den Frauen zurückgelegt haben von ihrer entrechteten und weitgehend machtlosen Position – von der männlichen Arbeiterbewegung als vermeintliche „Schmutzkonkurrentinnen“ und „Streikbrecherinnen“ stigmatisiert, wenn nicht sogar bekämpft
Dieser lange Weg ist gepflastert mit Frauenstreiks und -mobilisierungen – denn Streiks sind nicht nur Ausdruck von Organisierungsfähigkeit und kollektiver Macht, sondern zugleich Orte und Gelegenheiten, um diese zu erzeugen. Ein typisches, aber nicht das einzige Terrain weiblicher Mobilisierung waren Branchen, die Frauen im Rahmen der Segmentierung des Arbeitsmarktes als „weibliche“ Bereiche zugewiesen sind, allen voran die Textil- und Bekleidungsindustrie. So war etwa der Streik der Crimmitschauer Textilarbeiterinnen 1903/04 für die Reduktion des Arbeitstages auf zehn Stunden einer der härtesten Arbeitskämpfe seiner Zeit. Berühmt sind auch Arbeitskämpfe in feminisierten Abteilungen der Automobil(zuliefer)industrie, etwa der Sitznäherinnen bei Ford im britischen Dagenham 1968 oder der migrantischen Arbeiterinnen bei der Firma Pierburg in Neuss 1973. Beides waren Streiks für die Abschaffung der ungerechten Niedriglöhne für Frauen. Emblematisch für den Kampf um „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ waren auch die sogenannten Heinze-Frauen, die im Fotolaborbetrieb der Firma Heinze zwar nicht streikten, aber 1979 bis 1981 das Recht auf gleichen Lohn in einem langwierigen Prozess vor Gericht durchsetzten.
Michelle Perrots These, wonach die grèves féminines historisch defensiv geprägt seien, trifft also zu: Es handelte sich häufig um Kämpfe gegen Über-Ausbeutung. Aber auch Sarah Boston hat recht: Frauenstreiks können militant und müssen manchmal besonders hartnäckig sein, um Erfolg zu haben. Typisch ist zudem, dass die Streikführerinnen der Öffentlichkeit kaum bekannt sind. Denn Frauenstreiks wurden und werden gewerkschaftlicherseits häufig von Männern repräsentiert, oder wie Heiner Dribbusch es prägnant formulierte: „Frauen streiken, Männer verhandeln.“
Der Historikerin Gisela Notz zufolge lassen sich vier Arten von Frauenstreiks unterscheiden:
Wo stehen wir heute? Frauenstreiks als Seismografen
Das Streikgeschehen in Deutschland hat sich in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewandelt. Nach einer Phase eher geringer Arbeiterunruhe in den 1990er Jahren hat die Konflikthäufigkeit seit den 2000er Jahren wieder zugenommen.
Mit dem Begriff der Feminisierung wird nicht behauptet, die Mehrheit der Streikenden in Deutschland sei mittlerweile weiblich.
Erstens sind sie Ausdruck einer gesteigerten Präsenz und Durchsetzungskraft von Frauen im Erwerbsleben. Die Frauenerwerbsquote ist zwischen 1991 und 2022, mit kurzer Unterbrechung während der Corona-Pandemie, kontinuierlich von 62 auf 75 Prozent gestiegen.
Zweitens hat in Deutschland seit den 1990er Jahren ein durchgreifender Prozess neoliberaler Restrukturierung des Arbeitsmarktes und des öffentlichen Dienstes stattgefunden. Die daraus resultierende Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen betrifft überproportional stark Frauen und Migrant*innen.
Drittens hängt die Feminisierung des Streikgeschehens auch mit veränderten gewerkschaftlichen Strategien zusammen. Auf den Schwund ihrer Mitgliederzahlen reagierten die DGB-Gewerkschaften ab Mitte der 2000er Jahre mit neuen konflikt- und beteiligungsorientierten Mobilisierungs- und Organisierungskonzepten, häufig auch als Organizing bezeichnet.
Sorge-Kämpfe in Krankenhäusern und Kitas
Streiken im Krankenhaus ist schwierig, denn die Niederlegung der Arbeit gefährdet potenziell die Patient*innen. Bis in die 1990er Jahre wurden daher Arbeitskämpfe eher symbolisch als „Delegiertenstreiks“ geführt. Dies änderte sich ab Mitte der 2000er Jahre, parallel zur Vermarktlichung der Krankenhäuser, unter anderem durch die Einführung des neuen Fallpauschalensystems. Notdienstvereinbarungen wurden zu einem zentralen Instrument, um mit zeitlichem Vorlauf eine bestimmte Zahl von Betten beziehungsweise Stationen zu bestreiken.
Das zentrale Thema der Streiks ist der Pflegenotstand. Am Berliner Universitätsklinikum Charité wurde 2015 der erste Tarifvertrag für eine Entlastung erstreikt – anfänglich noch gegen das Widerstreben der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), die zweifelte, ob eine Tarifforderung nach Personalvorgaben gesetzeskonform sei.
Ein weiterer Schwerpunkt der Streiks waren und sind die häufig ausgegründeten Servicebereiche der Krankenhäuser, etwa für Reinigung und Bettentransporte. Hier ging und geht es vor allem um den Kampf gegen Niedriglöhne und die Wiederanbindung an das Tarifniveau des öffentlichen Dienstes. Oft unterstützen zivilgesellschaftliche Bündnisse die Streikbewegungen und tragen den Druck aus den Betrieben auf die Straße und in die Parlamente. Der Fachbereich, der unter anderem die Krankenhäuser umfasste, stellte bei Verdi zwischen 2005 und 2021 die meisten Streikanträge. Er repräsentierte in diesem Zeitraum „rund 30 Prozent aller von Verdi geführten Arbeitskämpfe“.
Eine wichtige Wegmarke in der jüngeren Geschichte der Arbeitskämpfe in den Sozial- und Erziehungsdiensten, oft verkürzt als „Kita-Streiks“ bezeichnet, ist das Jahr 2008, als sich die Erzieherinnen in tariflichen Warnstreiks des öffentlichen Dienstes höchst mobilisierungsfähig zeigten. Verdi und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nahmen den Schwung auf und organisierten 2009 den ersten „Kita-Streik“ für einen verbesserten Gesundheitsschutz und eine Reform der Eingruppierungsregeln. Ziel war (und ist) die grundlegende Aufwertung von weiblicher Sorgearbeit. Während in den Krankenhäusern überwiegend dezentrale Haustarifverträge erstritten wurden, gehören die kommunalen Sozial- und Erziehungsdienste zum Flächentarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD).
2015 folgte eine neue Tarifrunde, mit Forderungen nach Aufwertung und neuer Streiktaktik. Die mehrwöchigen bundesweiten Flächenstreiks belasteten die gewerkschaftlichen Streikkassen erheblich. Trotz massenhafter Beteiligung reichte der ökonomische und politische Druck erneut nicht aus, um die Blockadehaltung der kommunalen Arbeitgeberverbände zu brechen – zumal die direkten Streikfolgen nicht die Kommunen, sondern die Eltern der (nicht) betreuten Kinder trugen. Deren Solidarität mit dem Streik war indes begrenzt. Die Enttäuschung vieler Streikender äußerte sich in langen Querelen um die Annahme des tariflichen Schlichtungsergebnisses. Eine Streikdelegiertenversammlung und eine Mitgliederbefragung lehnten dieses mehrheitlich ab, bevor es leicht modifiziert mit knapper Mehrheit akzeptiert wurde.
Im Frühjahr 2022, mitten in der Corona-Pandemie, ging der Kampf um Aufwertung in die dritte Runde, ergänzt um Forderungen nach Entlastung, wieder mit flexiblen Tagesstreiks und diesmal reduzierter Basisdemokratie.
Fazit
Streiks in Krankenhäusern und Kitas sind zwei prominente Beispiele für die aktuelle Feminisierung von Arbeitskämpfen. Sie verändern das Bild „des Streikenden“ in der Öffentlichkeit und zeigen ein gestiegenes Selbstbewusstsein, eine neue Anspruchshaltung von Frauen im Erwerbsleben. Ausgestattet mit guten Qualifikationen, gezwungen und gewillt, nicht nur sich selbst, sondern häufig auch Kinder und manchmal auch den Partner zu ernähren, sowie emanzipiert in den Gewerkschaften, fordern sie nicht nur gleichen Lohn für gleiche Arbeit, sondern eine grundlegende Aufwertung von Frauenarbeit.
Die feminisierten Streiks haben häufig jedoch schwierige Durchsetzungsbedingungen. Es bedarf neuer, kreativer Streiktaktiken und oft auch Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen, um politischen Druck zu entfalten. Damit tragen die neuen Frauenstreiks auch zur Revitalisierung der Gewerkschaften und Erneuerung der Arbeiter*innenbewegung bei. Und sie weisen über die Gewerkschaften hinaus, denn sie sprechen grundlegende Fragen an: Warum zahlen wir Menschen, die Autos bauen, mehr als jenen, denen wir unsere Kinder anvertrauen? Wie viel ist einer Gesellschaft eine gute Gesundheitsversorgung und Bildung wert? Warum ist der soziale Sektor so stark unterfinanziert? Sind Profite wichtiger als Menschenleben? Wo fließt die gesellschaftliche Wertschöpfung hin – wenn offenbar nicht in die Taschen der „Corona-Heldinnen“ in Supermärkten, Krankenhäusern und Altenheimen? Warum ist das so, und wie ließe sich das ändern? Die Feminisierung der Arbeitskämpfe bedeutet längst noch nicht die Herstellung von Geschlechtergleichheit, geschweige denn die Organisierung unserer Ökonomie und Gesellschaft nach fairen, humanen und solidarischen Prämissen. Aber sie ist eine Etappe auf dem Weg dorthin.