Arbeitskämpfe haben die merkwürdige Eigenschaft, schnell zum öffentlich begleiteten Drama zu werden, aber noch schneller wieder in Vergessenheit zu geraten. Wer erinnert sich zum Beispiel noch an den mehr als hundert Tage währenden Streik beim Verpackungshersteller Neupack, der vor zehn Jahren bundesweit Aufsehen erregte? Oder daran, dass im Frühjahr 2024, anlässlich vieler Streiks in systemrelevanten Bereichen, von manchen Medien schon die „Streikrepublik Deutschland“ ausgerufen wurde?
Freilich gibt es im kollektiven Gedächtnis von Beschäftigten und Gewerkschaften durchaus Arbeitskämpfe, die auf Dauer einen stabilen Platz in Geschichtserzählungen behalten. Um diese soll es hier gehen, das heißt eigentlich nicht um eine Geschichte der „Wegmarken“ in einem emphatischen Sinne, sondern um eine Geschichte der Erinnerung an besonders wichtige Ereignisse. Dabei muss zugleich auch gefragt werden, warum jene Ereignisse als „wichtig“, „bedeutend“, „einschneidend“ gesetzt wurden – und nur insofern kann hier, in aller Kürze, auch auf die Frage eingegangen werden, welche charakteristischen sozialen Konflikte in bestimmten historischen Streiks artikuliert und bearbeitet wurden. Und nur insofern ist die vorliegende Darstellung etwas anderes als lediglich eine willkürliche Sammlung. Es wird im Folgenden auch jeweils (sehr) kurz begründet, warum dieser oder jener Streik als „Wegmarke“ gelten mag – während Tausende weitere Arbeitskämpfe keine Erwähnung finden. Ich beschränke mich dabei – um es einigermaßen eingrenzen zu können – auf die Arbeitskämpfe in Deutschland seit 1945.
Novemberstreik von 1948
Die Streikgeschichte nach Kriegsende war zunächst durch Forderungen nach Entnazifizierung und Umgestaltung der ökonomischen DNA der Gesellschaft bestimmt, danach durch Kämpfe um die konkrete Ausrichtung von Institutionen und Gesetzen und schließlich durch eine Orientierung auf das Ringen um Anteile am gesellschaftlichen Reichtum. Freilich kann man diese drei Phasen nicht klar abgrenzen, und mitunter spielen in einzelnen Arbeitskämpfen auch mehrere Aspekte eine Rolle.
Die Arbeitskämpfe unmittelbar nach dem 8. Mai 1945 waren von der chaotischen und zugleich relativ offenen gesellschaftlichen Situation geprägt. Viele Betriebe wurden zunächst spontan weitergeführt, oft unter dem Eindruck der vorläufigen Abwesenheit der Eigentümer.
Während in allen Besatzungszonen eine überregionale Organisierung zunächst nicht existierte, wurde die lokale Selbstorganisation in der sowjetischen Zone rasch „von oben“ eingehegt. Während dort 1946 der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) gegründet wurde, verzögerte sich in den drei westlichen Besatzungszonen der Aufbau der Gewerkschaften – vor allem vor dem Hintergrund der Befürchtung, alles andere könne eine kommunistische beziehungsweise linkssozialistische Ausprägung dieser Organisationen verstärken.
In den Westzonen waren Streiks in dieser ersten Konstituierungsphase einer neuen Arbeiter:innenbewegung einerseits mit Forderungen nach einer umfassenden Entnazifizierung der Unternehmen verknüpft, andererseits richteten sich die Aktionen gegen die schlechte Versorgungslage und die Ungleichverteilung von Gütern nach sozialen Klassen sowie zwischen Stadt und Land. Mit der Gründung der Bundesrepublik begann sich dieses soziale Motiv in der westdeutschen Streikgeschichte stärker auszuprägen.
Die ökonomische Politik der Alliierten auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen war zunächst recht stark an einer Zerschlagung der NS-Kriegswirtschaft sowie in unterschiedlichem Maße an Demontagen orientiert. Erst um 1950 veränderte sich diese Politik in Richtung einer Entwicklung des westlichen Teils Deutschlands als Exportmarkt und Produktionsschwerpunkt, der nur vor dem Hintergrund des sich herausbildenden geopolitischen Ost-West-Konflikts zu verstehen ist. Es entstand auf dieser Grundlage aber nicht sofort eine expandierende Ökonomie mit einem dynamischen Arbeitsmarkt. Im Gegenteil, vielmehr war die soziale Situation bis in die 1950er Jahre hinein stark durch Hunger und existenzielle Unterversorgung mit Gütern, Dienstleistungen und Wohnraum geprägt. Zugleich trugen unter anderem die massenhaften Migrationsbewegungen aus dem Osten zu einer Unterschichtung von Arbeitsmärkten bei, die ohnehin von im europäischen Vergleich niedrigen Löhnen geprägt waren.
In dieser Situation war der „Novemberstreik“ von 1948 ein Versuch der Gewerkschaften, die soziale Unruhe, die seit 1946 zu zahlreichen Arbeitskämpfen mit starken politischen Impulsen geführt hatte, sowohl zuzuspitzen als auch in „geordnete“ institutionelle Bahnen zu lenken.
Am 12. November 1948 fand dann ein länger vorbereiteter Generalstreik statt, an dem sich fast 80 Prozent der Beschäftigten der beiden Zonen beteiligt haben sollen und dessen Ziel explizit die Kanalisierung des Unmuts über die ökonomische Lage war. Dieser Arbeitskampf wird heute insofern als einer der Meilensteine in der Geschichte der Nachkriegs-Arbeiter:innenbewegung gesehen, als dass er auch unter der bis Mitte der 1960er Jahre CDU-geführten Bundesregierung zu einer Politik beitrug, die wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen akzeptierte, etwa in Gestalt einer Rentenreform, und den institutionellen Einfluss der Gewerkschaften hinnahm.
Zeitungsstreik und Werftarbeiterstreik
Gleichzeitig verstärkte sich unter dem Eindruck der Arbeiter:innenproteste die Tendenz, die Gewerkschaftsbewegung institutionell einzuhegen. So wurden mit dem Tarifvertragsgesetz von 1949 sowie dem Montanmitbestimmungsgesetz und dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 die Spielräume für Arbeitskämpfe de facto deutlich eingeschränkt.
Während der „Zeitungsstreik“ eine Wegmarke der bundesdeutschen Arbeitskampfgeschichte markiert, die eine eindeutige Niederlage für die Demokratieforderungen der Arbeiter:innenbewegung bedeutete, war der Ende 1956 begonnene Streik in den norddeutschen Werften das Gegenteil: In ihm wurde letztlich versucht, eine Gleichstellung von Arbeiter:innen mit Angestellten in der Frage der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu erwirken – eine unzweifelhaft „tarifierbare“, aber zugleich doch „durch die Blume“ an den Gesetzgeber gerichtete Forderung. Die Mobilisierung war vor dem Hintergrund einer moralischen Ökonomie der „Gleichheit“ von Arbeiter-Bürgern extrem stark: So gelang es auch der IG Metall als zuständiger Einzelgewerkschaft nicht, die Bewegung zu stoppen, selbst als man bereits zur der Auffassung gelangt war, dass der Streik „überzogen“ sei.
Im Ergebnis führte der Arbeitskampf, der erst im Februar 1959 endete, zur schrittweisen Durchsetzung jener Gleichstellungsforderung und damit zur Etablierung eines Prinzips, das auch viele Jahre danach noch zum Kern des historischen Bewusstseins der Gewerkschaftsbewegung gehören sollte. Wie stark dieses Prinzip verankert ist, zeigte sich etwa Ende der 1990er Jahre, als die Bundesregierung unter Helmut Kohl unter anderem wohl auch deshalb abgewählt wurde, weil sie die gesetzlichen Lohnfortzahlungsregelungen infrage stellte.
Generalstreik und Aufstand in der DDR
In der sowjetischen Besatzungszone wurden die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung in der frühen Nachkriegszeit nicht nur schneller aufgebaut, sondern auch schneller zentralisiert als im Westen. Damit ergab sich zunächst ein latenter Konflikt zwischen staatlicher Politik, der offiziellen Linie des FDGB und einer gewissen Selbstständigkeit von Belegschaften auf lokaler Ebene.
Als im Juni 1953 die Arbeitsnormen um zehn Prozent erhöht wurden, während gleichzeitig Angehörige der Mittelschichten entlastet werden sollten, kam es zu einer Aufstandsbewegung. Die ersten Streiks des 17. Juni waren betriebliche Aktionen, die – ohne Unterstützung der Gewerkschaften – symbolträchtig auf der Baustelle der Stalinallee in Ost-Berlin begannen, der neuen Prachtstraße der Hauptstadt der DDR. Es folgte ein massiver Generalstreik in über 700 Städten und Gemeinden, der sich zu Demonstrationen gegen die SED-Dominanz in der Politik und gegen die sowjetische Besatzungsmacht ausdehnte. Während die Staatsmacht die Normerhöhung teilweise zurücknahm, wurde der Aufstand schließlich militärisch niedergeschlagen, mit mindestens 55 Todesopfern.
Eine Folge des Aufstands war, dass die schockierte SED-Führung einerseits eine Art Appeasement-Politik mit sozialen Kompromissen machte, also faktisch eine gewisse lokale Machtposition von Belegschaften hinnahm, andererseits jegliche Regung einer selbstständigen Arbeiter:innenbewegung rigide auch auf lokaler Ebene durch einen flächendeckenden Kontroll- und Repressionsapparat unterband.
Aus unterschiedlichen Gründen kam es in beiden deutschen Staaten in den 1960er Jahren zu einer Art Regression, die im Lichte des ökonomischen Aufschwungs zu einem Rückzug ins Lokale führte. Während diese Entwicklung in der DDR auf eine – nach Sozialistengesetzen und Faschismus – dritte Zerschlagung der eigenständigen Arbeiter:innenorganisationen hinauslief, kam es in der Bundesrepublik zu einem Dualismus: Die mit einem gewissen Einfluss auf die Politik ausgestatteten Gewerkschaften waren mit einer Tendenz zur „Lohnpolitik auf eigene Faust“ konfrontiert.
Wilde Streiks (am Ende) des Wirtschaftswunders
Wesentliche Ziele der früheren Arbeiter:innenbewegung – eine massive Erhöhung der Rente und des sozialen Einkommens, die Verkürzung der Arbeitszeit auf eine Fünf-Tage- und eine Vierzig-Stunden-Woche – wurden auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Booms zwischen 1960 und 1966 kampflos erreicht, durch staatliche Politik oder zentrale Verhandlungen der Sozialpartner.
Wilde Streiks gegen betriebliche Arbeitsverhältnisse, ein zu hohes Arbeitstempo, mangelhafte Infrastrukturen und, last but not least, für „übertarifliche“ Löhne, entwickelten sich bis Mitte der 1960er Jahre vor allem in den industriellen Kernbereichen zu einem festen Ritual. In der ersten Rezession um 1966 zeigte sich diese neue Streikkultur – kurze, diskrete, nichtgewerkschaftliche Arbeitsniederlegungen – in Abwehraktionen gegen Massenentlassungen. Mit der anziehenden Inflation im kurzen Boom nach 1968 kam es schließlich auch zu einem öffentlich sichtbaren Ausbruch jener wilden Streiks. Konkreter Anlass war dabei der Protest gegen Lohnverluste angesichts der Laufzeit von Tarifverträgen in der Stahlindustrie. Wurde in der Krise Arbeitsplatzsicherheit im Tausch für Lohnzurückhaltung versprochen, führte dies ab Mitte 1968 zu einem raschen Verfall der Löhne.
Die sogenannten Septemberstreiks begannen am 2. September 1969 an den Standorten der Hoesch AG in Dortmund. Die Arbeitenden zogen zum Gebäude der Firmenleitung im Hauptwerk, wo sie eine permanente Versammlung abhielten und von wo sie später zu einer Demonstration in die Innenstadt zogen. Die Forderung nach einer linearen Lohnerhöhung um 30 Pfennig pro Stunde für alle Beschäftigten wurde innerhalb kurzer Zeit von der Firmenleitung akzeptiert – ein Erfolg, der bundesweit viele andere Belegschaften zu ähnlichen Aktionen inspirierte.
Die Streiks weiteten sich auf die gesamte Montanindustrie, auf den Bergbau sowie später auch punktuell auf weitere Sektoren wie Werften, Metall- und Elektroindustrie und sogar auf einzelne Einrichtungen des öffentlichen Dienstes aus. Dabei beteiligten sich auch einzelne Betriebe, die stark von migrantischer Arbeit geprägt waren.
Anders als in der DDR kam es im September 1969 im Westen zu einer „dreifachen“ Bewegung. Die Septemberstreiks sind erstens im Kontext der Politisierung zu verstehen, die durch die neue Jugendbewegung angestoßen worden war (obgleich die Ziele von Arbeiter:innen und Jugendbewegungen divergierten). Zweitens kam es zu einer Diffusion gewerkschaftlicher Aktionen, die eine neue Generation gewerkschaftlicher Aktivist:innen hervorbrachte, die mit einer starken Kritik an institutionellen Kompromissen der Arbeitsmarktparteien sozialisiert worden waren. Und drittens zeigte sich im Streik-Aufbruch um 1970 eine Vielstimmigkeit, innerhalb derer sich neue Generationen und Gruppen Gehör verschafften, so etwa in der „Lehrlingsbewegung“, der betrieblichen neuen Frauenbewegung und in Streikbewegungen migrantischer Arbeiter:innen, die nach und nach an Sichtbarkeit gewannen und die nach 1970 häufiger und massiver wurden.
Mit den Streiks bei Pierburg in Neuss und bei Ford in Köln erreichte diese Entwicklung ihren Zenit. Bei Pierburg streikten bis zum Sommer 1973 überwiegend „Gastarbeiter:innen“ erfolgreich für ein Ende der sogenannten Leichtlohngruppen und schmiedeten dabei ein lokales Bündnis mit der neuen Frauenbewegung, linken Gruppen sowie am Ende auch den Facharbeitern beim Automobilzulieferer.
Nach dem Boom
Mit dem Ende der hohen Wachstumsraten gerieten um 1974 insbesondere ehemals strategische Industrien wie Rohstoffversorgung, Montanindustrie und Werften in die Krise. Bis in die 1990er Jahre kam es zu umfangreichen Restrukturierungen, Massenentlassungen und Betriebsschließungen, insbesondere in jenen Bereichen, die zuvor tragende Säulen von Arbeitskämpfen gewesen waren. Zunehmend richteten sich – angefangen mit einer Betriebsbesetzung in einem Zementwerk im ostwestfälischen Erwitte 1975 und bis zur Besetzung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen 1987 – Arbeitskämpfe gegen solche Maßnahmen.
Während Besetzungsaktionen, Ideen für eine Umstellung der Produktion (etwa von Rüstungsgütern auf zivile Produkte) und häufig eine sehr breite Unterstützung in den Lokalgesellschaften charakteristisch für diese Streiks waren, so waren sie in ihren Auswirkungen jedoch faktisch auf eine Abmilderung der sozialen Folgen von Schließungen reduziert. Nach der Ablösung der sozial-liberalen durch die christdemokratisch-liberale Koalition kam es ab 1983 zu einer staatlichen Offensive gegen die Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung. Insbesondere die Deregulierung von Beschäftigungsverhältnissen führte hierbei im Zusammenspiel mit der wachsenden Erwerbslosigkeit zu einem starken Anstieg prekärer Arbeit.
In dieser Situation griffen die Gewerkschaften auf der Suche nach tarifpolitisch wirksamen und gleichzeitig politisch durchgreifenden Perspektiven das Motiv der Arbeitszeitverkürzung wieder auf. Dies geschah in verschiedenen Einzelgewerkschaften in unterschiedlichen Formen, etwa als Forderung nach einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit oder als Ausgleich für Belastungen in Schichtarbeit.
Tatsächlich hatte die technische Rationalisierung in der kurzen Zeit von 1980 bis 1983 nach einer Zählung der IG Metall jeden zehnten Arbeitsplatz ersetzt, in der Druckindustrie soll es in der gleichen Zeit sogar jeder fünfte Beschäftigte gewesen sein.
Die IG Druck und Papier (Drupa) bestreikte vom 12. April bis zum 5. Juli 1984 die Druckindustrie. Dabei kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen vor den Werkstoren, mit zahlreichen Verletzten beim Versuch, die Auslieferung von Zeitungen zu verhindern – im Falle der Frankfurter Societäts-Druckerei konnte eine Notausgabe der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ nur per Hubschrauber ausgeflogen werden.
Im Ergebnis erreichten beide Gewerkschaften eine Verkürzung der Arbeitszeiten, allerdings bei einer gleichzeitig vor allem im Metallbereich erheblichen Flexibilisierung der täglichen Arbeitszeit. Während die Drupa eine Verkürzung der Arbeitszeit ad personam erreichte, konnte die IG Metall am Ende lediglich eine Verkürzung der Arbeitszeit im Betriebsdurchschnitt durchsetzen. Die Bilanz der Streiks um die 35-Stunden-Woche ist in allen Bereichen, später auch im Einzelhandel und anderswo, ambivalent geblieben: Dem Meilenstein der gewonnenen Zeitsouveränität durch eine kürzere wöchentliche Arbeitszeit stand eine oft ungünstige und gesundheitsschädliche Verteilung derselben gegenüber.
So kann die unterschiedliche Ausgestaltung von Arbeitszeiten in den Betrieben als Schritt hin zu einer Schwächung der überbetrieblichen gewerkschaftlichen Solidarität gesehen werden. „Nach dem Boom“ bekamen Betriebsräte auf dem Papier mehr Einfluss, während sie zugleich aufgrund des Drucks auf die Exportindustrien weniger lokale Stärke entwickeln konnten – eine „Verbetrieblichung“ tarifpolitischer Entscheidungen auf der Grundlage sich zuungunsten der Gewerkschaften verschiebender ökonomischer Verhältnisse.
Durch den Fall der Mauer 1989 und die Bildung eines gesamtdeutschen Staates wurden 1990 die institutionellen Rahmungen der industriellen Beziehungen auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen. Danach kam es in den östlichen Bundesländern zu einem Abriss der industriellen Basis, in einer im Vergleich zu den 1970er und 1980er Jahren im Westen wesentlich höheren Geschwindigkeit. Während die Erwerbslosigkeit schon in den ersten Jahren nach der „Wende“ ungeahnte Höhen erreichte, versuchten die im Osten neu konstituierten Gewerkschaften unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) die Privatisierungs- und Abwicklungspolitik der Treuhandgesellschaft, die das ehemalige sogenannte Volkseigentum verwaltete, eine Zeit lang durch Massenproteste zu verhindern oder wenigstens abzumildern.
Es ist nicht einfach, aus heutiger Sicht eine Bilanz dieser Aktionen zu ziehen, die die Transformation der Ökonomie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in eine postindustrielle Landschaft mit geringer Tarifbindung und fast „laborartigen“ Niedriglohnbereichen letztlich nicht verhindern konnten. Ein Höhepunkt der Entsolidarisierung zwischen Ost und West war dabei der Metallarbeiterstreik in den östlichen Bundesländern 2003, bei dem für gleiche Arbeitszeiten in Ost und West gekämpft wurde. Dies wurde jedoch von den Betriebsräten großer Automobilwerke im Westen aktiv behindert, da durch den Ausstand im Osten auch die Endmontage in den westlichen Bundesländern still stand. Im Resultat führte das zu einer der schwersten Niederlagen in der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung nach dem Boom: Erstmals in ihrer Nachkriegsgeschichte musste die IG Metall einen Streik ergebnislos abbrechen.
Schluss: Die neuen Streiks
Mit dieser Geschichte ist die Funktion von Streiks als „Wegmarken“ der Arbeitsgeschichte und als Indikator betrieblicher sozialer Konflikte freilich nicht beendet. Es kommt vielmehr seit etwa fünfzehn Jahren zu einer Diversifizierung und auch Erneuerung der Streikkultur, nicht nur, aber auch nicht zuletzt in der Bundesrepublik.
Während industrielle Sektoren noch immer eine gewisse Rolle im Gesamtbild der Streiks spielen, nimmt gleichzeitig die Konfliktträchtigkeit der Arbeitsverhältnisse im Bereich von privaten Dienstleistungen, aber auch in der bezahlten Sorgearbeit zu. So greifen etwa Streiks in Kindertagesstätten oder in Krankenhäusern die alte Forderung nach gleichen Bedingungen in vergleichbaren Arbeitsfeldern wieder auf. Zugleich nehmen sie das Motiv der Entlastung, der besseren Personalbemessung und damit auch die Perspektive einer Verbesserung der Qualität von Pflege, Betreuung und sonstigen Dienstleistungen (etwa in der Verkehrsinfrastruktur) in den Blick.
Was die „neuen Streiks“ dabei am Ende für eine Arbeiter:innenbewegung bedeuten, die seit den 1990er Jahren immer weiter durch Tarifflucht und Mitgliederverluste geschwächt erscheint, bleibt offen. Es könnte durchaus sein, dass eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung vor allem vermittels jener neuen „Wegmarken“ geschehen könnte, die die gegenwärtigen Arbeitskämpfe setzen.