Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wegmarken der deutschen Streikgeschichte seit 1945 | Streik | bpb.de

Streik Editorial Wie viel Streik darf’s sein? - Essay Schon wieder Streik? Arbeitskämpfe in Deutschland im europäischen Vergleich Das Streikrecht: Grundsätze und Grenzen Wegmarken der deutschen Streikgeschichte seit 1945 Frauen im Streik. Zur Feminisierung von Arbeitskämpfen Streikschäden vermeiden. Was bringt die Schlichtung? Wo streiken nicht hilft. Arbeitskritik im Niedriglohnsektor

Wegmarken der deutschen Streikgeschichte seit 1945

Peter Birke

/ 17 Minuten zu lesen

Viele Streiks geraten schnell ins Rampenlicht, werden aber oft genauso schnell wieder vergessen. Gleichwohl gibt es einige Arbeitskämpfe in der ost-, west- und gesamtdeutschen Geschichte, die auf Dauer im kollektiven Gedächtnis geblieben sind.

Arbeitskämpfe haben die merkwürdige Eigenschaft, schnell zum öffentlich begleiteten Drama zu werden, aber noch schneller wieder in Vergessenheit zu geraten. Wer erinnert sich zum Beispiel noch an den mehr als hundert Tage währenden Streik beim Verpackungshersteller Neupack, der vor zehn Jahren bundesweit Aufsehen erregte? Oder daran, dass im Frühjahr 2024, anlässlich vieler Streiks in systemrelevanten Bereichen, von manchen Medien schon die „Streikrepublik Deutschland“ ausgerufen wurde? Dass Arbeitsniederlegungen wie Walfische sind, die eindrucksvoll auftauchen, um danach sofort in der Tiefe des Meeres zu verschwinden, hat auch mit den sie begleitenden Diskursen zu tun. Arbeitskämpfe galten und gelten in der Öffentlichkeit oft als „Ärgernis“, manchmal gar als „Gefahr“, in jedem Fall aber als „Verlust“, was sich etwa in der noch immer geltenden Kategorie der „Ausfalltage“ zeigt, die durch das Statistische Bundesamt gezählt werden. Dass Arbeitskämpfe dazu beitragen können, Verbesserungen durchzusetzen, Arbeits- und Lebensverhältnisse menschengerechter und ökologischer zu gestalten, existenzsichernde Löhne durchzusetzen und anderes mehr, ist dabei oft kein Thema.

Freilich gibt es im kollektiven Gedächtnis von Beschäftigten und Gewerkschaften durchaus Arbeitskämpfe, die auf Dauer einen stabilen Platz in Geschichtserzählungen behalten. Um diese soll es hier gehen, das heißt eigentlich nicht um eine Geschichte der „Wegmarken“ in einem emphatischen Sinne, sondern um eine Geschichte der Erinnerung an besonders wichtige Ereignisse. Dabei muss zugleich auch gefragt werden, warum jene Ereignisse als „wichtig“, „bedeutend“, „einschneidend“ gesetzt wurden – und nur insofern kann hier, in aller Kürze, auch auf die Frage eingegangen werden, welche charakteristischen sozialen Konflikte in bestimmten historischen Streiks artikuliert und bearbeitet wurden. Und nur insofern ist die vorliegende Darstellung etwas anderes als lediglich eine willkürliche Sammlung. Es wird im Folgenden auch jeweils (sehr) kurz begründet, warum dieser oder jener Streik als „Wegmarke“ gelten mag – während Tausende weitere Arbeitskämpfe keine Erwähnung finden. Ich beschränke mich dabei – um es einigermaßen eingrenzen zu können – auf die Arbeitskämpfe in Deutschland seit 1945.

Novemberstreik von 1948

Die Streikgeschichte nach Kriegsende war zunächst durch Forderungen nach Entnazifizierung und Umgestaltung der ökonomischen DNA der Gesellschaft bestimmt, danach durch Kämpfe um die konkrete Ausrichtung von Institutionen und Gesetzen und schließlich durch eine Orientierung auf das Ringen um Anteile am gesellschaftlichen Reichtum. Freilich kann man diese drei Phasen nicht klar abgrenzen, und mitunter spielen in einzelnen Arbeitskämpfen auch mehrere Aspekte eine Rolle.

Die Arbeitskämpfe unmittelbar nach dem 8. Mai 1945 waren von der chaotischen und zugleich relativ offenen gesellschaftlichen Situation geprägt. Viele Betriebe wurden zunächst spontan weitergeführt, oft unter dem Eindruck der vorläufigen Abwesenheit der Eigentümer. Es entstand dabei eine Gelegenheitsstruktur, in der Arbeiter:innenkomitees, teils unter expliziter Bezugnahme auf die Tradition der Betriebsräte in der Weimarer Republik, und neu gegründete Gewerkschaften mitunter lokale Gestaltungsspielräume entwickeln konnten. Allerdings sind diese Spielräume im Rückblick eher im Sinne einer „Selbstverwaltung in der Not“ zu verstehen. Zwar wurden Motive des historischen Kampfs gegen den Nationalsozialismus aufgenommen, eine politische Zuspitzung, die die demokratische Grundordnung der Westzonen beziehungsweise die Grundordnung der Ostzone hätte nachhaltig beeinflussen können, erwuchs daraus jedoch nicht.

Während in allen Besatzungszonen eine überregionale Organisierung zunächst nicht existierte, wurde die lokale Selbstorganisation in der sowjetischen Zone rasch „von oben“ eingehegt. Während dort 1946 der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) gegründet wurde, verzögerte sich in den drei westlichen Besatzungszonen der Aufbau der Gewerkschaften – vor allem vor dem Hintergrund der Befürchtung, alles andere könne eine kommunistische beziehungsweise linkssozialistische Ausprägung dieser Organisationen verstärken.

In den Westzonen waren Streiks in dieser ersten Konstituierungsphase einer neuen Arbeiter:innenbewegung einerseits mit Forderungen nach einer umfassenden Entnazifizierung der Unternehmen verknüpft, andererseits richteten sich die Aktionen gegen die schlechte Versorgungslage und die Ungleichverteilung von Gütern nach sozialen Klassen sowie zwischen Stadt und Land. Mit der Gründung der Bundesrepublik begann sich dieses soziale Motiv in der westdeutschen Streikgeschichte stärker auszuprägen.

Die ökonomische Politik der Alliierten auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen war zunächst recht stark an einer Zerschlagung der NS-Kriegswirtschaft sowie in unterschiedlichem Maße an Demontagen orientiert. Erst um 1950 veränderte sich diese Politik in Richtung einer Entwicklung des westlichen Teils Deutschlands als Exportmarkt und Produktionsschwerpunkt, der nur vor dem Hintergrund des sich herausbildenden geopolitischen Ost-West-Konflikts zu verstehen ist. Es entstand auf dieser Grundlage aber nicht sofort eine expandierende Ökonomie mit einem dynamischen Arbeitsmarkt. Im Gegenteil, vielmehr war die soziale Situation bis in die 1950er Jahre hinein stark durch Hunger und existenzielle Unterversorgung mit Gütern, Dienstleistungen und Wohnraum geprägt. Zugleich trugen unter anderem die massenhaften Migrationsbewegungen aus dem Osten zu einer Unterschichtung von Arbeitsmärkten bei, die ohnehin von im europäischen Vergleich niedrigen Löhnen geprägt waren.

In dieser Situation war der „Novemberstreik“ von 1948 ein Versuch der Gewerkschaften, die soziale Unruhe, die seit 1946 zu zahlreichen Arbeitskämpfen mit starken politischen Impulsen geführt hatte, sowohl zuzuspitzen als auch in „geordnete“ institutionelle Bahnen zu lenken. Konkret begann die Streikbewegung als Reaktion auf die nach der Währungsreform in der amerikanischen sowie der britischen Zone stark steigenden Preise bei Gütern des alltäglichen Bedarfs. Vor dem Hintergrund einer Inflation, die vor allem die Einkommen der abhängig Beschäftigten rasch entwertete, kam es im Sommer 1948 zu einer ganzen Reihe unorganisierter Proteste, etwa auf Wochenmärkten, sowie zu lokalen Streiks, die teilweise, wie in Stuttgart am 28. Oktober 1948, zu Massendemonstrationen mit Hunderttausenden Teilnehmenden wurden. Diese eskalierten gar zu Straßenschlachten mit der Polizei, in die schließlich das alliierte Militär eingriff.

Am 12. November 1948 fand dann ein länger vorbereiteter Generalstreik statt, an dem sich fast 80 Prozent der Beschäftigten der beiden Zonen beteiligt haben sollen und dessen Ziel explizit die Kanalisierung des Unmuts über die ökonomische Lage war. Dieser Arbeitskampf wird heute insofern als einer der Meilensteine in der Geschichte der Nachkriegs-Arbeiter:innenbewegung gesehen, als dass er auch unter der bis Mitte der 1960er Jahre CDU-geführten Bundesregierung zu einer Politik beitrug, die wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen akzeptierte, etwa in Gestalt einer Rentenreform, und den institutionellen Einfluss der Gewerkschaften hinnahm.

Zeitungsstreik und Werftarbeiterstreik

Gleichzeitig verstärkte sich unter dem Eindruck der Arbeiter:innenproteste die Tendenz, die Gewerkschaftsbewegung institutionell einzuhegen. So wurden mit dem Tarifvertragsgesetz von 1949 sowie dem Montanmitbestimmungsgesetz und dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 die Spielräume für Arbeitskämpfe de facto deutlich eingeschränkt. Die Gewerkschaften erhielten zwar ein „Streikmonopol“, zugleich aber wurden Streiks durch Urteile des Bundesarbeitsgerichts nach und nach an die Friedenspflicht und die Laufzeiten und Regelungsinhalte von Tarifverträgen gebunden. Große Teile der organisierten Arbeiter:innenbewegung kritisierten Anfang der 1950er Jahre sowohl die paritätische Mitbestimmung in ihrer Reduzierung auf die Montanindustrie als auch die Festlegung von Betriebsräten auf eine schiedlich-friedliche Zusammenarbeit mit dem Management. Insbesondere gegen das Betriebsverfassungsgesetz in der damals vorgesehenen Form kam es zu Proteststreiks, etwa in den Zeitungsverlagen, was nicht nur hohe Schadensersatzforderungen nach sich zog, sondern auch das Verbot „politischer“ – das heißt gegen ein Bundes- oder Landesgesetz gerichteter – Streiks.

Während der „Zeitungsstreik“ eine Wegmarke der bundesdeutschen Arbeitskampfgeschichte markiert, die eine eindeutige Niederlage für die Demokratieforderungen der Arbeiter:innenbewegung bedeutete, war der Ende 1956 begonnene Streik in den norddeutschen Werften das Gegenteil: In ihm wurde letztlich versucht, eine Gleichstellung von Arbeiter:innen mit Angestellten in der Frage der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu erwirken – eine unzweifelhaft „tarifierbare“, aber zugleich doch „durch die Blume“ an den Gesetzgeber gerichtete Forderung. Die Mobilisierung war vor dem Hintergrund einer moralischen Ökonomie der „Gleichheit“ von Arbeiter-Bürgern extrem stark: So gelang es auch der IG Metall als zuständiger Einzelgewerkschaft nicht, die Bewegung zu stoppen, selbst als man bereits zur der Auffassung gelangt war, dass der Streik „überzogen“ sei.

Im Ergebnis führte der Arbeitskampf, der erst im Februar 1959 endete, zur schrittweisen Durchsetzung jener Gleichstellungsforderung und damit zur Etablierung eines Prinzips, das auch viele Jahre danach noch zum Kern des historischen Bewusstseins der Gewerkschaftsbewegung gehören sollte. Wie stark dieses Prinzip verankert ist, zeigte sich etwa Ende der 1990er Jahre, als die Bundesregierung unter Helmut Kohl unter anderem wohl auch deshalb abgewählt wurde, weil sie die gesetzlichen Lohnfortzahlungsregelungen infrage stellte.

Generalstreik und Aufstand in der DDR

In der sowjetischen Besatzungszone wurden die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung in der frühen Nachkriegszeit nicht nur schneller aufgebaut, sondern auch schneller zentralisiert als im Westen. Damit ergab sich zunächst ein latenter Konflikt zwischen staatlicher Politik, der offiziellen Linie des FDGB und einer gewissen Selbstständigkeit von Belegschaften auf lokaler Ebene. Angesichts der Tatsache, dass die ökonomische Entwicklung im Osten noch sehr lange durch Reparationen eingeschränkt war, sowie vor dem Hintergrund relativ starker oppositioneller Bewegungen am Ende der offen stalinistischen Herrschaft spitzte sich der Kampf um existenzsichernde Ressourcen ab 1950 zu.

Als im Juni 1953 die Arbeitsnormen um zehn Prozent erhöht wurden, während gleichzeitig Angehörige der Mittelschichten entlastet werden sollten, kam es zu einer Aufstandsbewegung. Die ersten Streiks des 17. Juni waren betriebliche Aktionen, die – ohne Unterstützung der Gewerkschaften – symbolträchtig auf der Baustelle der Stalinallee in Ost-Berlin begannen, der neuen Prachtstraße der Hauptstadt der DDR. Es folgte ein massiver Generalstreik in über 700 Städten und Gemeinden, der sich zu Demonstrationen gegen die SED-Dominanz in der Politik und gegen die sowjetische Besatzungsmacht ausdehnte. Während die Staatsmacht die Normerhöhung teilweise zurücknahm, wurde der Aufstand schließlich militärisch niedergeschlagen, mit mindestens 55 Todesopfern.

Eine Folge des Aufstands war, dass die schockierte SED-Führung einerseits eine Art Appeasement-Politik mit sozialen Kompromissen machte, also faktisch eine gewisse lokale Machtposition von Belegschaften hinnahm, andererseits jegliche Regung einer selbstständigen Arbeiter:innenbewegung rigide auch auf lokaler Ebene durch einen flächendeckenden Kontroll- und Repressionsapparat unterband.

Aus unterschiedlichen Gründen kam es in beiden deutschen Staaten in den 1960er Jahren zu einer Art Regression, die im Lichte des ökonomischen Aufschwungs zu einem Rückzug ins Lokale führte. Während diese Entwicklung in der DDR auf eine – nach Sozialistengesetzen und Faschismus – dritte Zerschlagung der eigenständigen Arbeiter:innenorganisationen hinauslief, kam es in der Bundesrepublik zu einem Dualismus: Die mit einem gewissen Einfluss auf die Politik ausgestatteten Gewerkschaften waren mit einer Tendenz zur „Lohnpolitik auf eigene Faust“ konfrontiert.

Wilde Streiks (am Ende) des Wirtschaftswunders

Wesentliche Ziele der früheren Arbeiter:innenbewegung – eine massive Erhöhung der Rente und des sozialen Einkommens, die Verkürzung der Arbeitszeit auf eine Fünf-Tage- und eine Vierzig-Stunden-Woche – wurden auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Booms zwischen 1960 und 1966 kampflos erreicht, durch staatliche Politik oder zentrale Verhandlungen der Sozialpartner. Gleichzeitig breiteten sich lokale Streiks aus, obwohl sie im Rahmen des Ost-West-Konflikts durchaus eine heikle Angelegenheit waren. In der Bundesrepublik war nicht nur die KPD verboten worden, sondern es kam auch zu pauschalen Zuschreibungen, Streiks seien „durch kommunistische Rädelsführer angestiftet“. So nahm der Anteil der „wilden“ – das heißt nicht von einer Gewerkschaft organisierten und insofern nicht streikrechtskonformen – Arbeitsniederlegungen an der Gesamtheit der Arbeitskämpfe ab Ende der 1950er Jahre rasch und zwischen 1968 und 1973 sogar sprunghaft zu.

Wilde Streiks gegen betriebliche Arbeitsverhältnisse, ein zu hohes Arbeitstempo, mangelhafte Infrastrukturen und, last but not least, für „übertarifliche“ Löhne, entwickelten sich bis Mitte der 1960er Jahre vor allem in den industriellen Kernbereichen zu einem festen Ritual. In der ersten Rezession um 1966 zeigte sich diese neue Streikkultur – kurze, diskrete, nichtgewerkschaftliche Arbeitsniederlegungen – in Abwehraktionen gegen Massenentlassungen. Mit der anziehenden Inflation im kurzen Boom nach 1968 kam es schließlich auch zu einem öffentlich sichtbaren Ausbruch jener wilden Streiks. Konkreter Anlass war dabei der Protest gegen Lohnverluste angesichts der Laufzeit von Tarifverträgen in der Stahlindustrie. Wurde in der Krise Arbeitsplatzsicherheit im Tausch für Lohnzurückhaltung versprochen, führte dies ab Mitte 1968 zu einem raschen Verfall der Löhne.

Die sogenannten Septemberstreiks begannen am 2. September 1969 an den Standorten der Hoesch AG in Dortmund. Die Arbeitenden zogen zum Gebäude der Firmenleitung im Hauptwerk, wo sie eine permanente Versammlung abhielten und von wo sie später zu einer Demonstration in die Innenstadt zogen. Die Forderung nach einer linearen Lohnerhöhung um 30 Pfennig pro Stunde für alle Beschäftigten wurde innerhalb kurzer Zeit von der Firmenleitung akzeptiert – ein Erfolg, der bundesweit viele andere Belegschaften zu ähnlichen Aktionen inspirierte.

Die Streiks weiteten sich auf die gesamte Montanindustrie, auf den Bergbau sowie später auch punktuell auf weitere Sektoren wie Werften, Metall- und Elektroindustrie und sogar auf einzelne Einrichtungen des öffentlichen Dienstes aus. Dabei beteiligten sich auch einzelne Betriebe, die stark von migrantischer Arbeit geprägt waren. Bis zum 19. September waren mindestens 140000, vermutlich aber eher 200000 Beschäftigte für kürzere oder längere Zeit im Streik. Dennoch waren die Lohnverbesserungen für Streikende nur der Anstoß für eine flächendeckende Konzession der Unternehmen, bei denen für über acht Millionen Beschäftigte ein außertariflicher Lohnausgleich erreicht wurde.

Anders als in der DDR kam es im September 1969 im Westen zu einer „dreifachen“ Bewegung. Die Septemberstreiks sind erstens im Kontext der Politisierung zu verstehen, die durch die neue Jugendbewegung angestoßen worden war (obgleich die Ziele von Arbeiter:innen und Jugendbewegungen divergierten). Zweitens kam es zu einer Diffusion gewerkschaftlicher Aktionen, die eine neue Generation gewerkschaftlicher Aktivist:innen hervorbrachte, die mit einer starken Kritik an institutionellen Kompromissen der Arbeitsmarktparteien sozialisiert worden waren. Und drittens zeigte sich im Streik-Aufbruch um 1970 eine Vielstimmigkeit, innerhalb derer sich neue Generationen und Gruppen Gehör verschafften, so etwa in der „Lehrlingsbewegung“, der betrieblichen neuen Frauenbewegung und in Streikbewegungen migrantischer Arbeiter:innen, die nach und nach an Sichtbarkeit gewannen und die nach 1970 häufiger und massiver wurden.

Mit den Streiks bei Pierburg in Neuss und bei Ford in Köln erreichte diese Entwicklung ihren Zenit. Bei Pierburg streikten bis zum Sommer 1973 überwiegend „Gastarbeiter:innen“ erfolgreich für ein Ende der sogenannten Leichtlohngruppen und schmiedeten dabei ein lokales Bündnis mit der neuen Frauenbewegung, linken Gruppen sowie am Ende auch den Facharbeitern beim Automobilzulieferer. Bei Ford kam es zum Streik, als das Unternehmen nach dem Sommer eine Wiedereinstellung Hunderter Arbeiter verweigerte, die, wie seit vielen Jahren üblich, längere Urlaubsreisen unternahmen, um beispielsweise in die Türkei und zurück zu kommen. Mit der Aktion wurden auch die Bandgeschwindigkeit und die gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen sowie die mangelhafte Repräsentanz der Migrant:innen im Betriebsrat des Werks öffentlich angeprangert. Im Mittelpunkt stand jedoch wiederum die Forderung nach einer linearen Lohnerhöhung. Anders als bei Pierburg gelang es der Werksleitung, mithilfe von Streikbrechern und Polizei die Besetzung des Betriebs zu beenden und die „Rädelsführer“ zu entlassen. So bedeutete der Ford-Streik letztlich eine zweifache Niederlage: Es gelang nicht, die Forderungen durchzusetzen, und der Streik war zugleich ein Meilenstein einer restriktiven Ausländerpolitik, die sich noch im selben Jahr in einem Anwerbestopp zeigte.

Nach dem Boom

Mit dem Ende der hohen Wachstumsraten gerieten um 1974 insbesondere ehemals strategische Industrien wie Rohstoffversorgung, Montanindustrie und Werften in die Krise. Bis in die 1990er Jahre kam es zu umfangreichen Restrukturierungen, Massenentlassungen und Betriebsschließungen, insbesondere in jenen Bereichen, die zuvor tragende Säulen von Arbeitskämpfen gewesen waren. Zunehmend richteten sich – angefangen mit einer Betriebsbesetzung in einem Zementwerk im ostwestfälischen Erwitte 1975 und bis zur Besetzung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen 1987 – Arbeitskämpfe gegen solche Maßnahmen.

Während Besetzungsaktionen, Ideen für eine Umstellung der Produktion (etwa von Rüstungsgütern auf zivile Produkte) und häufig eine sehr breite Unterstützung in den Lokalgesellschaften charakteristisch für diese Streiks waren, so waren sie in ihren Auswirkungen jedoch faktisch auf eine Abmilderung der sozialen Folgen von Schließungen reduziert. Nach der Ablösung der sozial-liberalen durch die christdemokratisch-liberale Koalition kam es ab 1983 zu einer staatlichen Offensive gegen die Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung. Insbesondere die Deregulierung von Beschäftigungsverhältnissen führte hierbei im Zusammenspiel mit der wachsenden Erwerbslosigkeit zu einem starken Anstieg prekärer Arbeit.

In dieser Situation griffen die Gewerkschaften auf der Suche nach tarifpolitisch wirksamen und gleichzeitig politisch durchgreifenden Perspektiven das Motiv der Arbeitszeitverkürzung wieder auf. Dies geschah in verschiedenen Einzelgewerkschaften in unterschiedlichen Formen, etwa als Forderung nach einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit oder als Ausgleich für Belastungen in Schichtarbeit. 1984 spitzte sich die Forderung nach einer Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Wochenstunden zu einem langen Arbeitskampf in der Metall- und Elektroindustrie sowie in der Druckindustrie zu. Ein Hauptargument der beteiligten Gewerkschaften war der technische Wandel, die Automatisierung und Roboterisierung sowie die Einführung neuer, „schlanker“ Firmenorganisiationen – durch das „Teilen“ der Arbeitszeit sollten Entlassungen und Erwerbslosigkeit verhindert werden.

Tatsächlich hatte die technische Rationalisierung in der kurzen Zeit von 1980 bis 1983 nach einer Zählung der IG Metall jeden zehnten Arbeitsplatz ersetzt, in der Druckindustrie soll es in der gleichen Zeit sogar jeder fünfte Beschäftigte gewesen sein. Im Laufe der Auseinandersetzung kamen allerdings weitere Motive hinzu: die Humanisierung der Arbeit, der Gewinn von Lebenszeit, mehr Zeit für Sorgearbeit sowie die Entwicklung einer allgemeinen gesellschaftlich-politischen Alternative zur neoliberal geprägten Ausrichtung eines Teils der Kohl-Regierung.

Die IG Druck und Papier (Drupa) bestreikte vom 12. April bis zum 5. Juli 1984 die Druckindustrie. Dabei kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen vor den Werkstoren, mit zahlreichen Verletzten beim Versuch, die Auslieferung von Zeitungen zu verhindern – im Falle der Frankfurter Societäts-Druckerei konnte eine Notausgabe der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ nur per Hubschrauber ausgeflogen werden. Die IG Metall streikte zwischen dem 14. Mai und dem 4. Juli in den Tarifbezirken Baden-Württemberg und Hessen, wobei in beiden Branchen eine flexible Taktik wechselnder Streiks dazu führte, dass Lieferketten unterbrochen und zahlreiche nichtstreikende Betriebe de facto in den Arbeitskampf einbezogen wurden.

Im Ergebnis erreichten beide Gewerkschaften eine Verkürzung der Arbeitszeiten, allerdings bei einer gleichzeitig vor allem im Metallbereich erheblichen Flexibilisierung der täglichen Arbeitszeit. Während die Drupa eine Verkürzung der Arbeitszeit ad personam erreichte, konnte die IG Metall am Ende lediglich eine Verkürzung der Arbeitszeit im Betriebsdurchschnitt durchsetzen. Die Bilanz der Streiks um die 35-Stunden-Woche ist in allen Bereichen, später auch im Einzelhandel und anderswo, ambivalent geblieben: Dem Meilenstein der gewonnenen Zeitsouveränität durch eine kürzere wöchentliche Arbeitszeit stand eine oft ungünstige und gesundheitsschädliche Verteilung derselben gegenüber.

So kann die unterschiedliche Ausgestaltung von Arbeitszeiten in den Betrieben als Schritt hin zu einer Schwächung der überbetrieblichen gewerkschaftlichen Solidarität gesehen werden. „Nach dem Boom“ bekamen Betriebsräte auf dem Papier mehr Einfluss, während sie zugleich aufgrund des Drucks auf die Exportindustrien weniger lokale Stärke entwickeln konnten – eine „Verbetrieblichung“ tarifpolitischer Entscheidungen auf der Grundlage sich zuungunsten der Gewerkschaften verschiebender ökonomischer Verhältnisse.

Durch den Fall der Mauer 1989 und die Bildung eines gesamtdeutschen Staates wurden 1990 die institutionellen Rahmungen der industriellen Beziehungen auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen. Danach kam es in den östlichen Bundesländern zu einem Abriss der industriellen Basis, in einer im Vergleich zu den 1970er und 1980er Jahren im Westen wesentlich höheren Geschwindigkeit. Während die Erwerbslosigkeit schon in den ersten Jahren nach der „Wende“ ungeahnte Höhen erreichte, versuchten die im Osten neu konstituierten Gewerkschaften unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) die Privatisierungs- und Abwicklungspolitik der Treuhandgesellschaft, die das ehemalige sogenannte Volkseigentum verwaltete, eine Zeit lang durch Massenproteste zu verhindern oder wenigstens abzumildern. Die Proteste waren zwar massiv, blieben insgesamt jedoch episodisch. Einige Belegschaften, etwa im Kalibergbau im Thüringischen Bischofferode 1993, versuchten durch Besetzungen, Hungerstreiks und politische Initiativen den Abbau von Arbeitsplätzen, der oft zugunsten von Westkonzernen geschah, zu verhindern.

Es ist nicht einfach, aus heutiger Sicht eine Bilanz dieser Aktionen zu ziehen, die die Transformation der Ökonomie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in eine postindustrielle Landschaft mit geringer Tarifbindung und fast „laborartigen“ Niedriglohnbereichen letztlich nicht verhindern konnten. Ein Höhepunkt der Entsolidarisierung zwischen Ost und West war dabei der Metallarbeiterstreik in den östlichen Bundesländern 2003, bei dem für gleiche Arbeitszeiten in Ost und West gekämpft wurde. Dies wurde jedoch von den Betriebsräten großer Automobilwerke im Westen aktiv behindert, da durch den Ausstand im Osten auch die Endmontage in den westlichen Bundesländern still stand. Im Resultat führte das zu einer der schwersten Niederlagen in der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung nach dem Boom: Erstmals in ihrer Nachkriegsgeschichte musste die IG Metall einen Streik ergebnislos abbrechen.

Schluss: Die neuen Streiks

Mit dieser Geschichte ist die Funktion von Streiks als „Wegmarken“ der Arbeitsgeschichte und als Indikator betrieblicher sozialer Konflikte freilich nicht beendet. Es kommt vielmehr seit etwa fünfzehn Jahren zu einer Diversifizierung und auch Erneuerung der Streikkultur, nicht nur, aber auch nicht zuletzt in der Bundesrepublik.

Während industrielle Sektoren noch immer eine gewisse Rolle im Gesamtbild der Streiks spielen, nimmt gleichzeitig die Konfliktträchtigkeit der Arbeitsverhältnisse im Bereich von privaten Dienstleistungen, aber auch in der bezahlten Sorgearbeit zu. So greifen etwa Streiks in Kindertagesstätten oder in Krankenhäusern die alte Forderung nach gleichen Bedingungen in vergleichbaren Arbeitsfeldern wieder auf. Zugleich nehmen sie das Motiv der Entlastung, der besseren Personalbemessung und damit auch die Perspektive einer Verbesserung der Qualität von Pflege, Betreuung und sonstigen Dienstleistungen (etwa in der Verkehrsinfrastruktur) in den Blick. Es kommt dabei nicht nur zu einer Neuzusammensetzung der Streikenden im Sinne einer Verschiebung hin zum Dienstleistungssektor (Tertiarisierung) und einer Feminisierung, sondern auch dazu, dass Streiks als Antworten auf ein erweitertes Spektrum gesellschaftlicher Herausforderungen gelesen werden können, etwa in der „Verkehrswende“ in Bezug auf die sozial-ökologische Transformation.

Was die „neuen Streiks“ dabei am Ende für eine Arbeiter:innenbewegung bedeuten, die seit den 1990er Jahren immer weiter durch Tarifflucht und Mitgliederverluste geschwächt erscheint, bleibt offen. Es könnte durchaus sein, dass eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung vor allem vermittels jener neuen „Wegmarken“ geschehen könnte, die die gegenwärtigen Arbeitskämpfe setzen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe etwa Berlin direkt, 17.3.2024, Externer Link: http://www.zdf.de/politik/berlin-direkt/streik-bahn-flugverkehr-streikrecht-verfassung-100.html.

  2. Vgl. Heiner Dribbusch, Streik. Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000, Hamburg 2023, S. 85.

  3. Vgl. Stefan Berger et al. (Hrsg.), Gewerkschaften im Gedächtnis der Demokratie, Bielefeld 2022.

  4. Vgl. neben vielen anderen Lutz Niethammer et al. (Hrsg.), Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und die Reorganisierung der Arbeiterbewegung in Deutschland, Wuppertal 1976.

  5. Vgl. Hermann Weber, Der FDGB in der SBZ/DDR 1945 bis 1950, in: IG Chemie-Papier-Keramik (Hrsg.), Gewerkschaften in der SBZ/DDR 1945 bis 1950. Anspruch und Wirklichkeit, Hannover 1996, S. 15–23.

  6. Vgl. Peter Birke/Heiner Dribbusch, Bewegtes „Wirtschaftswunder“. Gewerkschaften und Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik zwischen 1945 und 1980, in: Technoseum – Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim (Hrsg.), Durch Nacht zum Licht? Geschichte der Arbeiterbewegung, 1863–2013, Mannheim 2013, S. 245.

  7. Die Stuttgarter Ereignisse gehören, ähnlich wie die General- und Flächenstreiks in Süddeutschland Anfang 1948, an denen viele Millionen teilnahmen, zu den kaum beforschten Ereignissen der frühen Nachkriegszeit. Vgl. Jörg Roesler, Die Wiederaufbaulüge der Bundesrepublik, Berlin 2008, S. 31–70.

  8. Vgl. Michael Kittner, Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart, München 2005, S. 603–629.

  9. Vgl. Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt/M. u.a. 2007, S. 67ff.

  10. Vgl. Marc von Lüpke, Als Kohl die Lohnfortzahlung kappte, in: Mitbestimmung 5/2018, Externer Link: http://www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-als-kohl-die-lohnfortzahlung-kappte-5904.htm.

  11. Vgl. Weber (Anm. 5).

  12. Vgl. Renate Hürtgen, Niedergang und Neuanfang einer autonomen Arbeiterbewegung in der DDR. Das Streikgeschehen von den 1950er Jahren bis 1989, in: Technoseum (Anm. 6), S. 287–307, hier S. 290ff.

  13. Streiks in der DDR waren nach 1953 immer seltener und nur von kurzer Dauer. Vgl. die Auflistung von Arbeitsniederlegungen im Jahr 1970 bei Hürtgen (Anm. 12), S. 299.

  14. Vgl. Birke (Anm. 9), S. 93–100.

  15. Zur Streikstatistik siehe ebd., S. 130, S. 160, S. 276.

  16. Hierzu und zum Folgenden vgl. ebd., S. 218ff.

  17. Vgl. Simon Goeke, „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960–1980, Paderborn 2020, S. 87–94.

  18. Vgl. Dieter Braeg, Wilder Streik – das ist Revolution! Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Berlin 2012.

  19. Vgl. Francesca Barp, Auf eigene Faust. 50 Jahre Streiksommer 1973, 11.9.2023, Externer Link: http://www.soziopolis.de/auf-eigene-faust.html.

  20. Vgl. Knud Andresen et al. (Hrsg.), Arbeiten um zu leben! Zur Geschichte und Aktualität des Kampfes um Arbeitszeiten, Düsseldorf 2024 (i.E.).

  21. Vgl. Rüdiger Hachtmann, Gewerkschaften und Rationalisierung: Die 1970er-Jahre – ein Wendepunkt?, in: Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 181–209.

  22. Vgl. Claus-Jürgen Göpfert, Frankfurt: Ein Hubschrauber als Streikbrecher, in: Frankfurter Rundschau, 5.1.2023.

  23. Vgl. Ingrid Artus, Krise des deutschen Tarifsystems: Die Erosion der Flächentarifverträge in Ost und West, Wiesbaden 2012.

  24. Vgl. Bernd Gehrke, Der vergessene Widerstand gegen die Treuhand, 18.9.2021, Externer Link: http://www.marx21.de/der-vergessene-widerstand-gegen-die-treuhand.

  25. Vgl. Massimo Perinelli/Felix Axster/Pablo Dominguez Andersen, Streik-Revue 73/93/23. Wilder Streik! Hungerstreik! Megastreik! Über getrenntes Erinnern und gemeinsame Erfahrungen, 30.11.2023, Externer Link: http://www.rosalux.de/news/id/51286/streik-revue-73-93-23.

  26. Vgl. Dribbusch (Anm. 2).

  27. Vgl. Ingrid Artus et al. (Hrsg.), Sorge-Kämpfe, Auseinandersetzungen um Arbeit in sozialen Dienstleistungen, Berlin–Hamburg 2017.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autor/-in: Peter Birke für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist promovierter Historiker und habilitierter Soziologe und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut der Georg-August-Universität Göttingen.