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Das Streikrecht: Grundsätze und Grenzen

Michael Brenner

/ 15 Minuten zu lesen

Das Streikrecht ist grundgesetzlich in der Koalitionsfreiheit verankert und gibt Arbeitnehmern wie Arbeitgebern weitgehende Autonomie in Tarifkonflikten. Es unterliegt aber auch Grenzen. Zugleich sind staatliche Eingriffe in die Tarifautonomie untersagt.

Das Streikrecht findet seine verfassungsrechtliche Verankerung in Artikel 9 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetztes (GG), mithin im Recht der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“. Im Kontext dieser verfassungsrechtlich verbrieften Tarifautonomie – dem Recht zur eigenverantwortlichen „Ordnung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Gesamtvereinbarung“ – kommt dem Arbeitskampf eine zentrale Bedeutung zu, auch wenn dieser in Art. 9 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich erwähnt wird, ebenso wenig wie dessen Gegenstück, die Aussperrung. Mit Arbeitskampf beziehungsweise Streik ist die kollektive Arbeitsverweigerung von Arbeitnehmern gemeint, durch die die Mitglieder der dazu aufrufenden Gewerkschaft dem Arbeitgeber ihre Arbeitskraft vorenthalten und damit die Erfüllung ihres Arbeitsvertrages zeitweise verweigern. Das Ziel eines solchen Streiks besteht darin, Druck auszuüben, um eigene Forderungen durchzusetzen.

Auch wenn der Streik ein rechtlich und insbesondere auch verfassungsrechtlich anerkanntes Mittel des Arbeitskampfes ist, so ist er gleichwohl bestimmten rechtlichen Vorgaben und Grenzen unterworfen, die im Kontext der sowohl den Gewerkschaften als auch den Arbeitgebern zukommenden Koalitionsfreiheit zu beurteilen sind. Diese Grenzen sind indes nicht gesetzlich ausgestaltet; bis heute gibt es kein Gesetz, das die Organisation und Umsetzung von Streiks rechtlich näher einzäunt. Es sind vielmehr die Entscheidungen insbesondere des Bundesarbeitsgerichts (BAG), die die Richtlinien für Arbeitskämpfe aufgestellt und im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ziseliert haben, so etwa auch im Hinblick auf sogenannte Unterstützungsstreiks für Hauptarbeitskämpfe.

Streikrecht als Richterrecht

Das Arbeitskampfrecht in Deutschland ist im Wesentlichen durch Entscheidungen der Arbeitsgerichte und insbesondere des BAG gekennzeichnet. Während das Tarifvertragsgesetz (TVG) die Voraussetzungen der Tariffähigkeit bestimmt, ein mehr oder weniger rudimentäres Gerüst von formalen Anforderungen für die Wirksamkeit und die Wirkungen von Tarifverträgen enthält und damit die verfassungsrechtlich abgesicherte und richterrechtlich konkretisierte Normsetzungsbefugnis der Koalitionen definiert, ist das Arbeitskampfrecht bis heute gesetzlich nicht näher ausgeformt. So ist ein 1988 vorgelegter Entwurf eines Gesetzes zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte über das Entwurfsstadium nie hinausgekommen. Dies hatte und hat nach wie vor zur Folge, dass das BAG – und aus der übergeordneten Perspektive des Verfassungsrechts auch das Bundesverfassungsgericht – in den vergangenen Jahrzehnten ein überaus differenziertes Geflecht an Regelungen geschaffen hat, das faktisch den Rechtsrahmen für Arbeitskämpfe und damit auch für die Einleitung und Umsetzung von Streiks bildet. Zutreffend ist insoweit von Richterrecht mit gesetzesvertretender Qualität gesprochen worden.

Mit Blick hierauf drängt sich freilich die Frage auf, ob der Gesetzgeber insoweit seine Pflicht verletzt hat, im Arbeitskampf auftretende grundrechtsrelevante Fragen einem gesetzlich geregelten Ausgleich zuzuführen. Zumindest hat das BAG, jedenfalls nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, nicht dadurch gegen die Verfassung verstoßen, dass es die maßgeblichen Grundsätze des Arbeitskampfrechts entwickelt hat, ohne sich auf ein gesetzliches Regelungssystem stützen zu können. Da allerdings nicht damit zu rechnen ist, dass sich an dieser Situation in absehbarer Zeit etwas ändert, wird das Arbeitskampfrecht und damit zugleich die rechtliche Ausgestaltung des Streikrechts auch weiterhin maßgeblich durch die Gerichte ausgestaltet werden – eine Situation, die politisch und rechtlich als äußerst unbefriedigend erscheint.

Streiks und Aussperrungen

Der Streik ist das wichtigste arbeitnehmerische Kampfmittel, um gewerkschaftliche Ziele durchzusetzen. Als Streik wird die von Arbeitnehmern „gemeinsam und planmäßig durchgeführte Arbeitseinstellung“ verstanden, die darauf ausgerichtet ist, eine Veränderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu erreichen. Insoweit lässt sich dem Streik auch eine „dienende Funktion des Arbeitskampfrechts für die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien“ entnehmen. Zwar besteht während eines Streiks das Arbeitsverhältnis fort, doch sind seine Hauptpflichten suspendiert und werden neu verhandelt.

Von einem Streik, der den Schutz der Verfassung genießt, kann jedoch nur dann ausgegangen werden, wenn verschiedene Voraussetzungen erfüllt sind. Erforderlich ist zunächst, dass der Streik eine Maßnahme eines Arbeitnehmerkollektivs darstellt, die über das hinausgeht, was das Individualarbeitsrecht an Handlungsmöglichkeiten bereithält. Darüber hinaus ist der Streik durch die Verweigerung der Erfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten gekennzeichnet und muss in der Absicht erfolgen, Druck auf die Gegenseite auszuüben. Schließlich muss die Druckausübung darauf ausgerichtet sein, mit der Gegenseite eine Vereinbarung aus der Sphäre der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen abzuschließen.

Den Gegenpol zum Streik ist auf der Arbeitgeberseite die Aussperrung, die ebenso wie der Streik den Schutz der Verfassung genießt. Die Aussperrung zielt darauf, die Arbeitnehmer „an der Aufnahme und der Erbringung ihrer Arbeitsleistung unter Verweigerung der Entgeltzahlung“ zu hindern. Ebenso wie der Streik ist sie als Angriffs- wie als Verteidigungsmittel anerkannt: Nach Eröffnung eines Arbeitskampfes durch einen „Angriffsstreik“ ist auch die „Abwehraussperrung“ durch die Gegenseite durch die Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich geschützt. Vom Recht der Arbeitgeber zur Aussperrung ist insbesondere auch die sogenannte suspendierende Aussperrung umfasst – das heißt die Aussperrung ohne fortlaufende Gehaltszahlung –, freilich nur bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Verfassungsrechtlich ist diese nicht zu beanstanden: „Der Schutz umfasst jedenfalls Aussperrungen (…), die mit suspendierender Wirkung in Abwehr von Teil- oder Schwerpunktstreiks zur Herstellung der Verhandlungsparität eingesetzt werden.“

Gewerkschaften als Koalitionen

Vereinigungen, die zum Zweck der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gebildet werden, sind im Sinne von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Koalitionen. Dass sich derartige Koalitionen auf das Grundgesetz berufen und hieraus Rechte für sich ableiten können – insbesondere das Streikrecht der Gewerkschaften und das Aussperrungsrecht der Arbeitgeberverbände –, folgt daraus, dass die Koalitionsfreiheit neben der Individualgarantie auch in einer kollektiven Dimension grundrechtlichen Schutz gewährleistet. Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist insoweit ein „Doppelgrundrecht“. Die kollektive Koalitionsfreiheit ist umfassend; sie schließt als Koalitionsbestandsgarantie den prinzipiellen Bestand einer Koalition ebenso ein wie das Recht auf Bildung einer Koalition und das Recht auf koalitionsgemäße Betätigung. Auch die Organisations- und Personalhoheit sowie die Satzungsautonomie werden von der kollektiven Koalitionsfreiheit geschützt.

Um allerdings als Koalition gelten und damit das Streikrecht auf Arbeitnehmerseite und das Recht auf Aussperrung auf Arbeitgeberseite für sich in Anspruch nehmen zu können, müssen verschiedene – ungeschriebene – Merkmale erfüllt sein. Neben der Ausrichtung auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist die sogenannte Gegnerfreiheit eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass eine Vereinigung als Koalition gilt. Das bedeutet, dass der Koalition entweder nur Arbeitgeber oder Arbeitnehmer angehören dürfen; gemischte Zusammenschlüsse unterfallen nicht dem Koalitionsbegriff. Die Rechtfertigung für dieses Erfordernis ist darin zu sehen, dass nur eine homogene Vereinigung ihre Ziele auch nachhaltig verfolgen kann.

Darüber hinaus verlangt die Rechtsprechung die Wahrung des Grundsatzes der Gegner- oder Koalitionsunabhängigkeit; danach muss die Koalition selbstständig sein, der soziale Gegenspieler – im Falle der Gewerkschaften mithin ein Arbeitgeberverband – darf keinen Einfluss auf die Zielsetzung und die Durchsetzung der Koalition haben, auch nicht durch finanzielle Zuwendungen. Schließlich muss die Koalition überbetrieblich organisiert sein. Die Rechtfertigung für dieses Erfordernis wird darin gesehen, dass eine lediglich auf einen Betrieb ausgerichtete Gewerkschaft leichter eingeschüchtert werden kann. Indes zeigen Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit – wie insbesondere die Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) –, dass das Abstellen auf die Überbetrieblichkeit nur von bedingter Aussagekraft ist, da die Koalitionseigenschaft dieser Gewerkschaft jedenfalls nicht infrage gestellt wurde.

Schließlich muss eine Koalition im verfassungsrechtlichen Sinn in der Lage sein, „das Arbeitsleben (…) sinnvoll zu ordnen (…) und so letztlich die Gemeinschaft sozial zu befrieden“. Dies wird auch mit dem vom Staatsrechtler und ehemaligem Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz geprägten Begriff der Koalitionsmächtigkeit umschrieben. Gefordert ist demnach, dass eine Koalition durch eine ausreichende Anzahl von Arbeitnehmern oder Arbeitgebern gekennzeichnet sein und darüber hinaus ein gewisses Maß an „Durchsetzungsfähigkeit“ oder „Verbandsmacht“ aufweisen muss. Die Koalition muss mithin faktisch in der Lage sein, tatsächlich auf die Gegenseite einwirken und Druck ausüben zu können. In den Worten des BAG muss sie zur Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben „tauglich“, sprich so mächtig und leistungsfähig sein, dass sie in Verhandlungen mit der Gegenseite auf den Abschluss einer tariflichen Regelung mit Aussicht auf Erfolg einwirken kann.

Keine Voraussetzung des verfassungsrechtlichen Koalitionsbegriffes ist die Bereitschaft und Fähigkeit zum Arbeitskampf. Eine Koalition im verfassungsrechtlichen Sinn muss sich daher nicht zum Arbeitskampf bekennen. Sie ist vielmehr frei in der Wahl ihrer Koalitionsmittel und kann daher auch auf Arbeitskämpfe verzichten.

Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen

Der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG setzt voraus, dass die Koalition ihre Tätigkeit auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ausrichtet. Mit Blick auf das Streikrecht bedeutet dies, dass sich ein von einer Gewerkschaft ausgerufener Streik nur dann innerhalb des verfassungsrechtlichen Schutzbereichs bewegt, wenn er hierauf fokussiert ist. Der Koalitionszweck erfährt durch diese Beschränkung eine wesentliche Engführung, auch mit Blick auf die Möglichkeit, zu streiken.

Denn von einem auf die Wahrung und Förderung der Arbeitsbedingungen zielenden Streik ist nur dann auszugehen, wenn dieser auf Umstände zielt, die das Arbeitsverhältnis selbst und unmittelbar betreffen, mithin Umstände in Rede stehen, die sich unmittelbar auf die Arbeitsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beziehen. Regelmäßig fallen hierunter Regelungen über das Arbeitsentgelt und die Arbeits- und Urlaubszeiten, aber auch Bestimmungen über den Arbeitsschutz und die Befristung von Arbeitsverträgen. Demgegenüber sind von den „Wirtschaftsbedingungen“ allgemeine wirtschafts- und sozialpolitische Verhältnisse umfasst, allerdings nur, wenn sie für die Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bedeutsam sind. Dies gilt etwa für Regelungen über Sozialeinrichtungen, Fragen neuer Arbeitstechniken oder Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Um als Koalition anerkannt zu werden, ist es mithin eine grundlegende Voraussetzung, dass beide Ziele – Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen – gemeinsam verfolgt werden. Fehlt es hieran, weil sich die Vereinigung auf eines der beiden Ziele konzentriert, so liegt keine Koalition im Sinne von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG vor. Es gilt daher, auf die gesamte Verbandsarbeit abzustellen und eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

Verschiedene Formen des Streiks

Auch wenn das Ziel eines Streiks stets darin besteht, durch eine gemeinsame und planmäßige Arbeitseinstellung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern ein bestimmtes Kampfziel durchzusetzen, so lassen sich durchaus verschiedene Ausformungen des Streiks identifizieren. Letztlich folgt dies aus der Erkenntnis, dass Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG das Recht der Koalitionen umfasst, über die Wahl der Mittel selbst zu entscheiden; einen geschlossenen Katalog der zulässigen Arbeitskampfmittel gibt es nicht. Unabhängig davon, in welcher Form gestreikt wird, muss ein Streik stets von dem in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG genannten Zweck getragen sein – der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Zusätzlich ist ein Streik durch das Ultima-ratio-Prinzip beschränkt, das vom BAG als eine Ausformung des Grundsatzes der Erforderlichkeit qualifiziert wurde: „Arbeitskampfmaßnahmen sind erst erforderlich, wenn ohne sie ein Tarifabschluss im Wege der Verhandlungen nicht zu erreichen ist.“

Unterscheiden lässt sich zunächst zwischen dem Angriffs- und dem Abwehrstreik sowie zwischen dem Flächen- und dem Schwerpunktstreik. Während Angriffsstreiks auf die Verbesserung von Arbeitsbedingungen zielen, sollen mit Abwehrstreiks antizipierte Verschlechterungen abgewendet werden. Flächenstreiks betreffen ganze Wirtschaftszweige, Schwerpunktstreiks zielen hingegen auf einzelne strategisch wichtige Punkte, um Druck auf Arbeitgeber auszuüben. Auch Warnstreiks sind eine zulässige Ausformung des Streikrechts; dies gilt selbst dann, wenn diese durch die Streiktaktik der sogenannten Neuen Beweglichkeit gekennzeichnet sind, also durch eine große Zahl kurzfristiger Arbeitsniederlegungen.

Lange umstritten war die Frage, ob Unterstützungsstreiks zulässig sind. Ein solcher Streik ist dadurch gekennzeichnet, dass durch die Streikenden Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt wird, dieser jedoch nicht von dem Ziel getragen ist, eigene Forderungen durchzusetzen; vielmehr soll mit dem Streik erreicht werden, dass der Arbeitgeber auf Dritte einwirkt. Das BAG erachtete diese Art des Streiks zunächst für nicht durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gedeckt, meldete dann aber Zweifel an dieser Auffassung an und bejahte schließlich unter Bezugnahme auf das Europarecht dessen Verfassungsmäßigkeit, da insoweit ein hinreichender mittelbarer Tarifbezug vorliege – eine Auffassung, die dann auch vom Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebilligt wurde.

Das Recht zum Streik kommt insbesondere auch Berufsgruppen-, Spezialisten- oder Spartengewerkschaften zu, die für ihre Mitglieder einen Tarifvertrag in einem Betrieb durchsetzen wollen. Würde diesen das Recht zum Arbeitskampf verweigert werden, hätten sie keine Möglichkeit, eine Blockade des Arbeitgebers zu überwinden – mit der Folge, dass ein Tarifvertrag nicht zustande käme. Ebenfalls den Schutz der Verfassung genießen Boykottaktionen, Betriebsblockaden, Betriebsbesetzungen und organisierte Behinderungen der Produktion. Auch sogenannte Flashmob-Aktionen sind vom BAG für grundsätzlich zulässig erachtet worden; denn die verfassungsrechtlich geschützte Freiheit der Koalitionen umfasst auch das Recht, die Kampfmittel an sich wandelnde Umstände anzupassen.

Grenzen des Streikrechts

Nicht vom Schutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG umfasst sind hingegen sogenannte wilde Streiks, mithin nicht von einer Gewerkschaft organisierte beziehungsweise geführte Streiks. Abgestellt wird insoweit auf die Organisatoren des Streiks, nicht hingegen auf die Streikziele. Der Schutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG greift also nur dann, wenn es sich um gewerkschaftlich getragene, auf Tarifverhandlungen bezogene Aktionen handelt – woraus sich eine Abhängigkeit von den Gewerkschaften ergibt. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass ein wilder Streik von einer tariffähigen Koalition durch Erklärung übernommen werden kann, sodass aus dem zunächst rechtswidrigen ein zulässiger Streik wird.

Auch politische Streiks genießen nicht den Schutz des Grundgesetzes, da ihre Kampfziele nicht koalitionskonform und damit verfassungsrechtlich unzulässig sind. Anders als Arbeitskämpfe sind politische Streiks darauf ausgerichtet, Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung zu bestimmten Regelungen oder Entscheidungen zu zwingen, also auf den Staat als politischen Entscheidungsträger Druck auszuüben. Von dieser Konstellation zu unterscheiden ist indes ein gegen den Staat in seiner fiskalischen Eigenschaft als Arbeitgeber gerichteter Streik, wenn ein Tarifvertragsabschluss zwischen dem staatlichen Arbeitgeber und der Gewerkschaft erzwungen werden soll; hierbei handelt es sich nicht um einen politischen Streik.

Schließlich ist es auch Beamten untersagt, zu streiken, ebenso wie Soldaten und Richtern. Das insoweit geltende Streikverbot folgt aus der Treuepflicht des Beamten, die ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums ist und als eines seiner Herzstücke angesehen wird. Für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, deren Arbeitsverhältnisse durch Tarifverträge geregelt sind, ist das Streikrecht hingegen nicht ausgeschlossen.

Auch reguläre Arbeitskämpfe – Streiks wie Aussperrungen – sind indes gewissen Grenzen unterworfen. Unstreitig ist dabei, dass im Rahmen eines Arbeitskampfes nicht gegen allgemeine Gesetze verstoßen werden darf. Darüber hinaus darf kein Arbeitskampf gegen die Friedenspflicht eines geltenden Tarifvertrages oder gegen eine bestehende Schlichtungsvereinbarung verstoßen. Die wichtigsten Grenzen eines Arbeitskampfes und damit von Streiks bestehen indes in den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit. Ein Arbeitskampf darf demnach nur geführt werden, wenn das mit ihm verfolgte Ziel nicht durch den Einsatz milderer Mittel erreicht werden kann; insoweit gilt das erwähnte Ultima-ratio-Prinzip. Darüber hinaus erfordert das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, dass ein Arbeitskampf „nicht mit ruinösen Absichten oder Wirkungen gegenüber der Gegenseite geführt wird“. Mit anderen Worten: Es muss auf die Interessen der Gegenseite Rücksicht genommen werden, was insbesondere bedeutet, dass während der Dauer eines Streiks Notdienste und Erhaltungsmaßnahmen in dem von einem Streik betroffenen Betrieb sichergestellt sein müssen. In der Praxis geschieht dies regelmäßig durch Notdienst- und Erhaltungsvereinbarungen.

Parität der Kampfmittel und staatliche Verpflichtung zur Neutralität

Auch wenn der Staat in Tarifauseinandersetzungen nicht unmittelbar eingreifen darf, so hat er doch dafür Sorge zu tragen, dass zwischen den Tarifvertragsparteien „Waffengleichheit“ besteht. Da sich das Streikrecht und das Aussperrungsrecht als wichtigste Kampfmittel von Gewerkschaften und Arbeitgebern in einem unmittelbaren Zusammenhang gegenüberstehen, obliegt es dem Staat, unter paritätsrechtlichen Aspekten sicherzustellen, dass das Verhältnis der beiden Parteien zueinander durch Ausgewogenheit gekennzeichnet ist. Indes ist dieses Verhältnis nicht statisch festgezurrt und „in einer für alle Zeiten unveränderlichen Form rechtlich festgeschrieben“. Umso mehr ist es Aufgabe des Gesetzgebers, die rechtlichen Vorgaben für Streik und Aussperrung permanent anzupassen, sodass die Koalitionsparität dauerhaft gesichert ist. Mit Blick hierauf wäre es beispielsweise ein Verstoß gegen den Paritätsgedanken, die suspendierende Abwehraussperrung zu verbieten.

Das Recht der Tarifvertragsparteien, sich koalitionsmäßig zu betätigen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eigenverantwortlich auszuhandeln und Kampfmaßnahmen einzusetzen, wird aber insbesondere durch die Verpflichtung des Staates zur Neutralität überlagert. Der Staat ist insoweit gehalten, die Freiheit des koalitionsmäßigen Auseinandersetzungsprozesses zu respektieren, da diese zum grundrechtlich geschützten Kernbereich der Tarifvertragsfreiheit gehört. Aus diesem Grund ist es dem Staat verwehrt, in den Arbeitskampf einzugreifen und beispielsweise Zwangsschlichtungen anzuordnen. Würde er dies tun, so käme dies nicht nur einer Verletzung, sondern einer Aufhebung der verfassungsrechtlich garantierten Grundstruktur des koalitionsgemäßen Auseinandersetzungsverfahrens gleich. Dieses Eingriffs- oder Interventionsverbot schließt unmittelbare Eingriffe in den Tarifkonflikt ebenso aus wie dessen staatliche Zwangsschlichtung.

Die Frage, ob der Staat im Falle von länger andauernden Tarifkonflikten durch Gesetz bestimmen kann, dass die Funktionsfähigkeit der sogenannten kritischen Infrastruktur jenseits von Notdienst- und Erhaltungsvereinbarungen zumindest in einem für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens erforderlichen Maße sichergestellt werden muss, ist immer wieder Gegenstand politischer Diskussionen. Namentlich im Zusammenhang mit Streiks der Lokführergewerkschaft GDL wurde sie in den vergangenen Jahren regelmäßig öffentlich aufgeworfen. Verfassungsrechtlich dürfte hiergegen nichts einzuwenden sein.

Fazit

Das in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verankerte Modell, wonach den Koalitionen verfassungsrechtlich garantiert wird, sich eigenverantwortlich und gegebenenfalls auch unter Zuhilfenahme von Streik und Aussperrung über die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen verständigen zu können, sichert diesen das Recht, ohne staatliche Einflussnahme eine „im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe“ wahrnehmen zu können. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe ist für die Koalitionen die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheit. Da aber auch Freiheit stets rechtlich eingebunden ist, unterliegen Tarifauseinandersetzungen gewissen Grenzen, die von den Tarifvertragsparteien einzuhalten sind. Wo diese Grenzen liegen, wird angesichts eines fehlenden rechtlichen Rahmens durch die Arbeitsgerichte festgelegt, die in den vergangenen Jahrzehnten ein dicht gewobenes Regelungsgeflecht für tarifliche Auseinandersetzungen entwickelt haben, das sicherstellt, dass Arbeitskämpfe in geordneten Bahnen verlaufen.

Abgesichert und überlagert wird die Koalitionsfreiheit durch die Verpflichtung des Staates zur Neutralität in Tarifangelegenheiten. Da diese staatliche Eingriffe in Tarifauseinandersetzungen zwingend ausschließt, gilt es immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass allfällige Aufrufe und Appelle bei einer länger andauernden Tarifauseinandersetzung, der Staat müsse jetzt handeln und für ein schnelles Ende dieser Auseinandersetzung sorgen, aus der Perspektive des Verfassungsrechts zwangsläufig verpuffen und in die Leere gehen müssen. Ein Eingreifen in das tarifpolitische Kräftespiel zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ist dem Staat verfassungsrechtlich untersagt, und das mit gutem Grund: Es ist ausschließlich Aufgabe dieser beiden tarifpolitischen Kontrahenten, sich über ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu verständigen. Dass sich dieses Modell des Aushandelns bewährt hat, wird eindrucksvoll durch den sozialen Frieden unter Beweis gestellt, den wir in Deutschland seit über 70 Jahren erleben dürfen und der ohne Zweifel zu einem guten Teil der in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG niedergelegten Tarifautonomie zuzuschreiben sein dürfte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wolfram Höfling, Art. 9, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG, München 202410, Rn. 87.

  2. Vgl. Peter Badura, Staatsrecht, München 20187, Rn. C 101.

  3. Vgl. insbesondere §§4, 5, 7 und 9 TVG.

  4. Vgl. Rolf Birk et al., Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte, Tübingen 1988.

  5. Vgl. Fritz Ossenbühl, §100, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts (HStR), Bd. V, Heidelberg 20073, Rn. 53, 56.

  6. Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 84, 212 (226f.); 88, 103 (115f.).

  7. Vgl. Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAGE) 1, 291 (303f.); 76, 196 (201); BAG, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 2018, 1081, Rn. 40; Rupert Scholz, Art. 9, in: Günter Dürig/Roman Herzog/ders. (Hrsg.), GG, Stand 2024, Rn. 322; Badura (Anm. 2).

  8. Michael Kemper, Art. 9, in: Peter M. Huber/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), GG, München 20248, Rn. 147.

  9. Vgl. BAGE 23, 292 (310); BAG, NZA 2005, 1402 (1404); NZA 2018, 1081, Rn. 40.

  10. Vgl. Thomas von Danwitz, §116, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. V, Tübingen 2013, Rn. 74.

  11. BAGE 81, 213 (220) m.w.N.

  12. Vgl. BAGE 48, 195 (200).

  13. BVerfGE 84, 212 (225).

  14. Vgl. exemplarisch Rupert Scholz, §175, in: HStR, Bd. VIII, 20103, Rn. 91ff.

  15. Vgl. BVerfG (K), Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2014, 1874f.

  16. Vgl. BVerfGE 18, 18 (28); 58, 233 (247); 100, 214 (223).

  17. Vgl. Nils Schaks, §127, in: Klaus Stern/Helge Sodan/Markus Möstl (Hrsg.), Staatsrecht, Bd. IV, München 20222, Rn. 30.

  18. Vgl. BVerfGE 4, 96 (106f.); 50, 290 (367f.); 58, 233 (247).

  19. BVerfGE 18, 18 (28).

  20. BVerfGE 58, 233 (249f.).

  21. In diesem Sinne BAG, Juristenzeitung 1977, 470f.; BAG Arbeitsrechtliche Praxis (AP), §2 TVG Nr. 30, 32; AP, §97 Arbeitsgerichtsgesetz 1953 Nr. 3.

  22. Vgl. BVerfGE 18, 18 (27ff.); 50, 290 (368). Anderer Auffassung früher BAGE 4, 351 (352); 12, 184ff.

  23. Vgl. BVerfGE 94, 268 (283).

  24. Vgl. Thorsten Kingreen/Ralf Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, Heidelberg 202440, Rn. 853.

  25. Vgl. Kemper (Anm. 8), Rn. 102.

  26. Vgl. BVerfG (K), NJW 1995, 3377 (3378).

  27. Vgl. BVerfGE 58, 233 (247); 84, 212 (224); 148, 296 (344); Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts 167, 202 (205).

  28. Vgl. von Danwitz (Anm. 10).

  29. BAGE 58, 364 (383); BAG, AP GG Art. 9, Arbeitskampf, Nr. 161, Bl. 6.

  30. Vgl. BAGE 46, 322 (351).

  31. Vgl. BAGE 48, 160 (168ff.); NZA 1988, 474 (474f.); BAGE 104, 155 (169); 123, 135 (137f.).

  32. Vgl. BVerfGE 148, 296 (359f.), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2018, 1121; EGMR (IV. Sektion), Neue Juristische Online-Zeitschrift 2015, 1744 (1747f.).

  33. So mit Recht Kemper (Anm. 8), Rn. 205.

  34. Vgl. von Danwitz (Anm. 10), Rn. 75.

  35. Vgl. BAG, NZA 2009, 1347 (1351ff.). Anderer Auffassung noch BAG, AP GG Art. 9, Arbeitskampf, Nr. 108, Bl. 10 (zu Betriebsblockaden und -besetzungen).

  36. So schon BAGE 15, 174 (191ff.); 15, 202 (205).

  37. Vgl. BVerfGE 148, 296 (359), NVwZ 2018, 1121, unter Verweis auf BVerfG (K), NJW 2014, 1874.

  38. Kritisch insoweit etwa Schaks (Anm. 17), Rn. 44.

  39. Vgl. BAGE 81, 213 (220) m.w.N.

  40. Vgl. nur Höfling (Anm. 1), Rn. 113; Hans D. Jarass, Art. 9, in: ders./Bodo Pieroth (Hrsg.), GG, München 202418, Rn. 40; Kemper (Anm. 8), Rn. 202.

  41. Vgl. Wolfgang Linsenmaier, Art. 9 GG, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, München 202222, Rn. 119.

  42. Vgl. Scholz (Anm. 7), Rn. 323, 375.

  43. Vgl. BVerfGE 148, 296 (346f.), 296 (361ff.), NVwZ 2018, 1121.

  44. Vgl. Scholz (Anm. 14), Rn. 129, Zitat ebd.

  45. Vgl. ebd., Rn. 134, Zitat ebd.

  46. Vgl. Kemper (Anm. 8), Rn. 170.

  47. Vgl. BVerfGE 44, 322 (340).

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ist Professor für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.