Im Frühjahr 2024 war die mediale Aufregung groß. Mehrere Warnstreiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hatten den Bahnverkehr erheblich eingeschränkt und damit den Alltag von Millionen von Bahnkund*innen beeinträchtigt. Als dann auch noch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi zu Streiks an den Flughäfen und beim öffentlichen Nahverkehr aufrief, unterstellten manche den Gewerkschaften, ganz Deutschland lahmlegen zu wollen.
Nachdem die Arbeitskämpfe bei Bahn, Flughäfen und öffentlichem Nahverkehr durch neue Tarifverträge beendet wurden, hat sich auch die öffentliche Aufregung wieder gelegt. Es zeigte sich einmal mehr die Normalität einer gelebten Tarifautonomie in Deutschland: Auch wenn am Anfang einer Tarifauseinandersetzung die Positionen noch unversöhnlich gegenüberstehen, sind die Tarifvertragsparteien am Ende doch immer wieder in der Lage, einen Kompromiss zu finden.
Streiks sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Tarifautonomie in Deutschland.
Darüber, wie viel in Deutschland eigentlich gestreikt wird, gibt es neben der tatsächlichen auch eine „gefühlte“ Realität. Immer dann, wenn Streiks – wie zum Beispiel im Verkehrssektor oder in Kindertagesstätten – unmittelbar Auswirkungen auf viele Bürger*innen haben, erscheint die Streikhäufigkeit besonders hoch. Wenn dies nicht so ist, werden Arbeitskämpfe öffentlich kaum bemerkt, selbst wenn sie mit lang andauernden Arbeitsniederlegungen verbunden sind. Beispielsweise gab es in der jüngsten Tarifrunde des Einzelhandels in Tausenden Filialen und Geschäften Arbeitskampfmaßnahmen, ohne dass dies von einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurde.
Im Folgenden soll deshalb genauer betrachtet werden, wie sich das Streikgeschehen in Deutschland tatsächlich entwickelt hat, in welchen Bereichen vorwiegend gestreikt wird und was die wichtigsten Gründe für Arbeitsniederlegungen sind. Schließlich wird auch der Frage nachgegangen, ob in Deutschland im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarländern eher viel oder wenig gestreikt wird.
Entwicklung des Streikgeschehens
Die quantitative Erfassung von Streiks ist ein methodisch äußerst anspruchsvolles Unterfangen.
Zur quantitativen Messung des Arbeitskampfvolumens werden im Wesentlichen drei Indikatoren verwendet (Abbildung). Zum einen geht es um die Anzahl der Arbeitskämpfe, das heißt die Anzahl der betrieblichen oder branchenbezogenen Konflikte unabhängig von ihrer Dauer und Intensität. Darüber hinaus wird die Anzahl der an Streiks beteiligten Beschäftigten erfasst. Schließlich wird die Intensität der Arbeitskämpfe durch die ausgefallenen Arbeitstage gemessen, die durch Streiks (und Aussperrungen) verursacht werden.
Mit Blick auf die Anzahl der Arbeitskämpfe lässt sich über die vergangenen zwei Jahrzehnte eine relativ konstante Entwicklung beobachten, wonach in Deutschland pro Jahr zwischen 200 und 230 Arbeitskämpfe geführt werden. Die Anzahl der Arbeitskämpfe liegt damit im Durchschnitt deutlich höher als in früheren Jahrzehnten. Weniger Arbeitskämpfe gab es lediglich im Krisenjahr 2010 sowie im Corona-Jahr 2020. Zuletzt gab es eine deutliche Zunahme zu verzeichnen: Die Anzahl der Arbeitskämpfe stieg 2023 um fast 40 Prozent.
Bei der Anzahl der Streikenden sowie der durch Arbeitskämpfe verursachten Ausfalltage zeigen sich von Jahr zu Jahr deutlich größere Schwankungen, da diese insbesondere durch die Verhandlungszyklen und die Vertragslaufzeiten in den großen Tarifbranchen geprägt sind. Zwischen 2010 und 2023 gingen durch Streiks im Durchschnitt pro Jahr etwa 663000 Arbeitstage verloren. Demgegenüber lag das Arbeitskampfvolumen 2023 mit mehr als 1,5 Millionen Ausfalltagen mehr als doppelt so hoch, was im zurückliegenden Jahrzehnt ein Spitzenwert war, der lediglich durch das besonders streikintensive Jahr 2015 übertroffen wurde. Im längerfristigen Vergleich liegt das Arbeitskampfvolumen in den 2010er Jahren etwas höher als in den 1990er und 2000er Jahren, jedoch deutlich unterhalb des Streikniveaus der 1950er bis 1980er Jahre.
Die größten Schwankungen zeigen sich bei der Anzahl der Streikenden. Diese werden vor allem durch Warnstreikwellen in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst als den größten Tarifbranchen in Deutschland beeinflusst. Dass die Anzahl der Streikenden 2023 trotz eines deutlich größeren Arbeitskampfvolumens gegenüber dem Vorjahr sogar leicht zurückgegangen ist, liegt vor allem daran, dass in dem Jahr keine Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie als der mit Abstand größten Tarifbranche stattgefunden haben. Im Durchschnitt haben zwischen 2010 und 2023 etwa 683000 Beschäftigte pro Jahr an Arbeitskämpfen teilgenommen.
Allerdings hat in Deutschland derzeit nur eine Minderheit der Beschäftigten praktische Erfahrungen mit Arbeitsniederlegungen. Im Rahmen einer repräsentativen Erwerbspersonenbefragung des WSI von 2022 gab lediglich ein Sechstel (17 Prozent) aller Beschäftigten an, in ihrem Berufsleben zumindest einmal aktiv an einem Streik teilgenommen zu haben. Unter den Gewerkschaftsmitgliedern war es fast die Hälfte (49 Prozent).
Strukturmerkmale und Entwicklungstrends
Entgegen dem öffentlichen Bild handelt es sich bei der großen Mehrzahl der Arbeitskämpfe in Deutschland um eher kleinere, lokal begrenzte Konflikte im Rahmen betrieblicher Tarifverhandlungen. Dies ist das Ergebnis einer bereits seit Jahrzehnten andauernden Fragmentierung der deutschen Tarifvertragslandschaft, in der die Anzahl von Haustarifverträgen stetig zugenommen hat. Hinzu kommt eine wachsende Anzahl tarifloser Unternehmen, mit der Folge, dass heute nur noch etwa die Hälfte aller Beschäftigten in Deutschland einer Tarifbindung unterliegt.
Besonders intensive und langwierige Arbeitskämpfe werden vor allem in solchen Unternehmen geführt, in denen sich die Gewerkschaften im Rahmen von betrieblichen „Häuserkämpfen“ darum bemühen, Tarifflucht zu verhindern oder überhaupt erstmals einen Tarifvertrag durchzusetzen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der Online-Händler Amazon, bei dem Verdi seit mittlerweile über zehn Jahren immer wieder Streikaktionen organisiert, da sich das Unternehmen bis heute jeglichen Tarifverhandlungen verweigert.
Die große Mehrheit der Arbeitskämpfe um Tarifbindung wird aber in kleineren und mittleren Unternehmen geführt und erhält nur selten eine überregionale Aufmerksamkeit. Ausnahmen hierfür waren zum Beispiel der Arbeitskampf beim dänischen Windenergieanlagen-Hersteller Vestas, bei dem die IG Metall insgesamt 123 Tage gestreikt hat, bis das Unternehmen im Sommer 2023 schließlich bereit war, einen Haustarifvertrag zu unterzeichnen. Noch intensiver war der Arbeitskampf für einen Tarifvertrag bei der Schrott- und Recyclingfirma SRW Metalfloat. Dieser wurde im Frühjahr 2024 nach 180 Tagen mit Zustimmung der Streikenden von der IG Metall erfolglos abgebrochen, nachdem das Unternehmen jeden Kompromiss verweigert und am Ende eine Aussperrung verhängt hatte.
Neben der deutlichen Zunahme betrieblicher Arbeitskämpfe liegt ein weiteres wesentliches Strukturmerkmal bei den Streiks in Deutschland in der zunehmenden Tertiarisierung von Arbeitskämpfen:
Veränderungen gibt es auch bei den inhaltlichen Forderungen, für die in Deutschland gestreikt wird. Zwar geht es bei der Mehrzahl der Streiks nach wie vor um Lohnerhöhungen im Rahmen der regulären Tarifrunden. Vor dem Hintergrund historisch hoher Inflationsraten waren diese gerade in den jüngsten Tarifrunden einmal mehr das dominierende Thema.
Besonders entwickelt ist die Kooperation von Verdi und Fridays for Future. Beide treten für einen erheblichen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ein und teilen die Überzeugung, dass dieser nur gelingen kann, wenn die Arbeitsbedingungen von Bus- und Straßenbahnfahrer*innen deutlich verbessert werden, um dem Fachkräftemangel in dieser Branche entgegenzuwirken.
Schließlich hat sich auch die Art und Weise der Streikführung deutlich verändert. Unter dem Stichwort „beteiligungsorientierte Tarifpolitik“ vollziehen die Gewerkschaften zunehmend eine Abkehr von der traditionellen Stellvertreterpolitik und setzen stattdessen auf aktive Beteiligung ihrer Mitglieder.
Europäischer Vergleich
Ob in Deutschland insgesamt eher viel oder wenig gestreikt wird, lässt sich vor allem im Vergleich mit den europäischen Nachbarn beantworten. Der internationale Vergleich von Arbeitskämpfen steht jedoch vor einigen methodischen Problemen, da es keine einheitliche, auf harmonisierten Daten beruhende europäische Streikstatistik gibt. International vergleichende Datensätze über Streiks, wie sie von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)
Für den quantitativen Vergleich des internationalen Streikgeschehens wird in der Regel auf das relative Arbeitskampfvolumen Bezug genommen, was sich aus der Anzahl der arbeitskampfbedingten Ausfalltage im Verhältnis zur Anzahl der Beschäftigten eines Landes errechnet. Demnach zeigt sich auf den ersten Blick, dass in Deutschland vergleichsweise wenig gestreikt wird. Im europäischen Vergleich befindet sich Deutschland seit jeher bestenfalls im unteren Mittelfeld. Dies war schon in den 1970er und 1980er Jahren so und hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt. Während in den Jahren 2020 bis 2022 in Deutschland pro 1000 Beschäftigten im Durchschnitt 18 Arbeitstage durch Streiks ausgefallen sind, waren es in Frankreich 80, in Belgien 164 und in Finnland sogar 434 Ausfalltage. Auf der anderen Seite gibt es auch Länder, in denen im selben Zeitraum deutlich weniger bis überhaupt nicht gestreikt wurde. Hierzu gehören Österreich, die Schweiz, Dänemark, Schweden, Polen und Ungarn (Tabelle).
Zu den besonders streikintensiven Ländern in Europa gehören traditionell vor allem Frankreich, Spanien und Italien. Ein vergleichsweise hohes Streikaufkommen findet sich auch in Belgien sowie den nordeuropäischen Staaten mit Ausnahme Dänemarks und Schwedens, wo das Arbeitskampfvolumen seit den 2010er Jahren stark zurückgegangen ist. Die Republik Irland und das Vereinigte Königreich waren bis in die 1980er Jahre ebenfalls Streikhochburgen, danach ging das Streikvolumen dort deutlich zurück. Demgegenüber gehören Österreich und die Schweiz sowie die meisten osteuropäischen Länder zu den besonders streikarmen Ländern, wobei für Letztere jedoch nur sehr lückenhafte Daten vorliegen.
Insgesamt lässt sich in vielen Ländern seit den 1970er Jahren ein nahezu kontinuierlicher Rückgang des Streikvolumens feststellen. Erst in jüngerer Zeit ist in einigen Ländern wieder eine Zunahme der Streikaktivitäten zu beobachten, was vor allem mit der Intensivierung von Verteilungskonflikten im Zuge historisch hoher Inflationsraten zusammenhängt.
Die Bedeutung und der Umfang von Streiks werden in den einzelnen europäischen Ländern durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Wesentlich ist zunächst die Einbettung in die historisch gewachsenen nationalen Systeme der Arbeitsbeziehungen und die damit zusammenhängenden politischen Kulturen der Tarifvertragsparteien. Die Frage, ob Arbeitskonflikte eher kooperativ oder konfrontativ gelöst werden, hängt dabei nicht allein von den Gewerkschaften, sondern mindestens genauso stark von der Haltung der Arbeitgeber ab. Der in vielen europäischen Ländern beobachtbare Rückgang der Tarifbindung deutet zum Beispiel eher auf eine Radikalisierung aufseiten der Arbeitgeber, die sich durch Tarifflucht kooperativen Tarifvertragsbeziehungen entziehen.
Einen wesentlichen Einfluss auf das Streikgeschehen hat auch die Ausgestaltung des jeweiligen nationalen Streikrechts.
Anders als in Deutschland sind in vielen europäischen Ländern auch politische Streiks erlaubt und führen in der Praxis zu einem besonders hohen Streikaufkommen, wie zum Beispiel jüngst in Frankreich mit den Streiks gegen eine geplante Rentenreform oder in Finnland gegen die Einschränkung des Streikrechts.
Qualitätsnachweis einer demokratischen Gesellschaft
Wie das Bundesarbeitsgericht bereits 1980 in einem Grundsatzurteil festgestellt hat, kann die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie nur dann funktionieren, wenn „die sozialen Gegenspieler das Verhandlungsgleichgewicht mit Hilfe von Arbeitskämpfen herstellen und wahren können“. Ohne das Recht zum Streik wären Tarifverhandlungen nicht mehr als „kollektives Betteln“.
Im europäischen Vergleich bleibt Deutschland jedoch nach wie vor ein eher streikarmes Land. Arbeitskämpfe sind zwar konstitutiv für eine funktionierende Tarifautonomie. Im deutschen Kontext ist ihre Bedeutung aber begrenzt. So werden hierzulande fast ausschließlich zeitlich befristete Warnstreiks geführt, während der klassische unbefristete Erzwingungsstreik die absolute Ausnahme ist. Hinzu kommt ein vergleichsweise restriktives Streikrecht, wonach Arbeitskämpfe im Wesentlichen ein tarifpolitisches Instrument der Konfliktregulierung sind.
Vor diesem Hintergrund sind Forderungen nach einer Einschränkung des Streikrechts nicht nur überflüssig, sondern sogar eher kontraproduktiv, da sie ein austariertes tarifpolitisches System des Interessenausgleichs infrage stellen. Die Forderungen werden auch dann nicht plausibler, wenn sie „lediglich“ für die Bereiche der kritischen Infrastruktur, also etwa für das Verkehrs- oder das Gesundheitswesen, erhoben werden. Je nach Definition arbeiten heute zwischen 40 und 50 Prozent aller Beschäftigten in diesem „kritischen“ Bereich.
Im Kern zielen die Forderungen nach einer Einschränkung des Streikrechts darauf, die Machtposition der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu schwächen. Dies ist gleich in mehrfacher Hinsicht kurzsichtig. Zunächst ist keineswegs ausgemacht, dass eine Einschränkung des Streikrechts tatsächlich zu weniger Streiks führt. In bestimmten Fällen könnte sogar das Gegenteil eintreten, wenn die Arbeitgeber aufgrund der gestärkten Verhandlungsposition eine deutlich geringere Kompromissfähigkeit zeigen und damit Streiks provozieren. Mitunter besteht sogar die paradoxe Situation, dass eher schwache Gewerkschaften besonders konfliktorientiert agieren, da ihnen sonst keine Instrumente der Interessensdurchsetzung zur Verfügung stehen.
Eine Schwächung der Gewerkschaften ist darüber hinaus gerade vor dem Hintergrund des notwendigen sozial-ökologischen Umbaus unserer Gesellschaft besonders kontraproduktiv. Eine erfolgreiche Transformation wird nur unter der aktiven Beteiligung der Beschäftigten gelingen. Die Tarifpolitik kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten – jedoch nur dann, wenn sich beide Tarifvertragsparteien auf Augenhöhe begegnen.
Schließlich kann eine Beteiligung an Arbeitskämpfen bei den Beschäftigten auch das Zutrauen darin fördern, durch aktives Engagement die eigenen Arbeitsbedingungen verbessern zu können. Ähnlich wie bei der betrieblichen Mitbestimmung lässt sich auch für eine beteiligungsorientierte Tarifpolitik eine „demokratische Dividende“ erwarten,