Vor knapp 30 Jahren, im Dezember 1991, wurden die sogenannten Vereinbarungen von Minsk in Beloweschskaja Puschtscha unterzeichnet. Darin wurde der Vertrag zur Gründung der UdSSR von 1922 außer Kraft gesetzt und damit ihr Ende besiegelt. Viele Unionsrepubliken wurden zu unabhängigen Staaten. An dem Erbe der Sowjetunion trägt das heutige Russland immer noch schwer. Blicke zurück und auf die aktuelle Geschichtspolitik zeigen, warum dies so ist.
Gleichheit und Brüderlichkeit aller Völker?
Anfang des 20. Jahrhunderts war das russische Imperium ein Vielvölkerreich mit über 181 Millionen Menschen. Weniger als 20 Prozent von ihnen lebten in Städten, die zentralen Regionen waren überfüllt. Die Bauern besaßen den Boden nicht, den sie bewirtschafteten. Die Modernisierung Russlands verlief widerspruchsvoll, die judenfeindliche Politik gipfelte immer wieder in Pogromen, und ungelöste nationale Fragen einer überwiegend nicht-russischen Bevölkerung (57 Prozent) setzten das Zarenreich unter Druck. Die Unabhängigkeitsbewegungen, die sich nach seinem Zusammenbruch infolge der Revolutionen 1917 bildeten, wurden rasch von der bolschewistischen Regierung unterdrückt, das russische Imperium in den alten Grenzen wiederhergestellt – mit Ausnahme Finnlands, der baltischen Staaten und Polens, das auch dank der sowjetischen Niederlage im polnisch-sowjetischen Krieg 1920 unabhängig blieb.
Dass Bildung und Erhalt der Union gelangen, war nicht allein das Ergebnis des bolschewistischen Terrors. Die Unabhängigkeitsbewegungen scheiterten auch an der großen Kluft zwischen der armen Bevölkerungsmehrheit und nationalen Eliten. Geopolitische, soziale und psychologische Gründe spielten hier eine Rolle, viele Völker fühlten sich traditionell zugehörig zu Russland. Die kommunistischen Führer versprachen das Recht auf Selbstbestimmung für alle Nationen und Gleichheit und Brüderlichkeit aller Völker. Von dieser neuen Ideologie ging eine große Faszination aus. Eingehalten wurden diese Versprechungen nie. Die Bolschewiki verstärkten vielmehr den imperialen und zentralistischen Charakter der Staatsmacht. Die freie Föderation, die Union unabhängiger Republiken, war reine Fiktion.
In der Stalinzeit ab den 1920er Jahren begannen Säuberungen unter den nationalen Eliten. Davon waren nicht nur die vom Bürgerkrieg verschont gebliebenen Vertreter der alten Eliten, sondern auch die neuen sowjetischen Kader betroffen. Jeder, der der brutalen Industrialisierung und vor allem der Zwangskollektivierung im Wege zu stehen schien, sollte "weggefegt" werden. So begann die Ausrottung der "bürgerlichen Nationalisten", die sich durch die ganze Sowjetzeit hinzog.
Teil der Stalinschen repressiven Politik waren auch Deportationen nach dem Nationalitätenprinzip. Vor allem der Zweite Weltkrieg bot einen Vorwand, um ganze Völker zu vertreiben: Wolgadeutsche und Tschetschenen, Balkaren und Inguschen, Kalmücken und Krimtataren wurden des Vaterlandsverrats beschuldigt und deportiert, Hunderttausende aus ihren angestammten Gebieten gerissen und entwurzelt. Die Zwangsumsiedlung in fremde Gebiete mit ungewohnten Klimaverhältnissen kostete unzählige Opfer, zerriss viele Familien und richtete Menschen physisch und seelisch zugrunde. Die insgesamt zwölf deportierten Völker der Sowjetunion lebten in der Verbannung, unter ständiger Obhut der Sicherheitsorgane. Das führte zu anhaltenden Spannungen und noch Jahrzehnte später zu schweren Konflikten. Erst nach Stalins Tod wurden einige Völker "rehabilitiert" und erhielten die Erlaubnis, in ihre ehemaligen Siedlungsgebiete zurückzukehren. Den Krimtataren und Wolgadeutschen blieb bis zum Ende der 1980er Jahre die Rückkehr untersagt, ihre autonomen Republiken wurden nie wiederhergestellt.
Wurde in der sowjetischen Propaganda offiziell stetig die "Völkerfreundschaft", die Gemeinschaft der sowjetischen Völker und die multinationale sowjetische Kultur beschworen und öffentlich zelebriert, war inoffiziell spätestens seit Anfang der 1930er Jahre die "Russifizierung" zum Ziel geworden. Immer stärker wurde das russische Volk in die Rolle des "Großen Bruders" gedrückt. Den Russen erging es dabei nicht besser als den anderen Völkern der UdSSR, auch sie litten unter Repressalien. Manche Historiker sprechen von einer "inneren Kolonisierung"
Der sowjetische Mensch – ein Phantom
Neben der "Völkerfreundschaft" war die Beschwörung des "sowjetischen Menschen" und der Sowjetunion als der "Gemeinschaft der sowjetischen Menschen" einer der wichtigsten Bestandteile sowjetischer Propaganda. Aber hat es diesen homo sovieticus jemals gegeben, oder war dieser nur ein Phantom, eine ideologische Projektion, mit imaginären Charakterzügen versehen?
Bis in die 1950er Jahre hinein bezeichneten sich viele Bürger der UdSSR als sowjetische Menschen in einem positiven Sinne, manchmal jedoch auch aus Angst, dass man sie als "antisowjetisch" markieren würde. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde diese symbolische Figur, die an die glückliche kommunistische Zukunft glaubt, an die Völkerfreundschaft, treu dem Sowjetstaat und der Kommunistische Partei ergeben, immer weniger überzeugend und akzeptiert. Denn der reale "sowjetische Mensch", den das System produzierte, war oft eine lumpenisierte, entwurzelte, ihrer Mikroheimat längst verlustig gegangene, in Baracken aufgewachsene Person. Er oder sie wusste selbst nicht, wie man sich bezeichnen sollte, und nicht zufällig verschwand aus dem russischen Sprachgebrauch die Anrede. "Genosse"
Jahrzehnte der Gewalt und der Angst haben tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Typische Eigenschaften bildeten sich heraus: das "Doppeldenken" im Orwellschen Sinne, ein intellektueller Konformismus, das Misstrauen gegenüber jeglichem "Anderssein", die Unfähigkeit, frei und unabhängig zu denken, die Nachgiebigkeit gegenüber der Propagandalüge, die Isoliertheit der Menschen, der Mangel an menschlicher Solidarität – das sind in vieler Hinsicht Resultate der Verfolgungen, Deportationen und Zwangsumsiedlungen, Resultate des Terrors, dessen Ziel in der Aufsplitterung und Atomisierung der Gesellschaft, der Umwandlung in eine Masse bestand, die sich einfach lenken lässt.
Und deshalb lauteten die wichtigen Fragen der Perestroika-Zeit, die die Gesellschaft damals bewegten: Wer ist schuld daran, dass wir so geworden sind? Und gibt es überhaupt dieses "Wir"? "Sowjetmensch" und "Sowjetvolk" bekamen eine deutlich negative Konnotation. Auch an die kommunistische Ideologie glaubte man immer weniger. Es war die Phase einer Suche nach Selbstidentifikation und eines brennenden Interesses an der sowjetischen Vergangenheit, vor allem an dem, was verborgen und Jahrzehnte lang geheim gehalten war. Gefordert wurde, die einst verbotenen Werke aus Literatur, Film und Kunst der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hinzu kamen Aufrufe, die historische Wahrheit ans Licht zu bringen, die Geheimarchive zu öffnen. Der Türspalt in das schwarze Zimmer der Vergangenheit wurde immer breiter, und was man dort sah und fand, war erschreckend. Die Liste wurde immer länger: die Geheimprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt, Beweise für die Ermordung von über 20.000 polnischen Offizieren und Polizisten in Katyn und anderswo 1940; Erschießungslisten für Zehntausende Menschen, von Stalin selbst unterschrieben; gefälschte Ermittlungsunterlagen gegen mehr als vier Millionen Opfer des politischen Terrors und vieles andere – all das wurde den Bürgern Russlands als Zeitzeugnisse nach und nach enthüllt und stellte die Legitimität des kommunistischen Regimes infrage.
Identitätssuche und historische Verantwortung
Die Last dieser Vergangenheit, eine tiefe Wirtschaftskrise, wieder aufgeflammte nationale und ethnische Konflikte, der missglückte Putsch von Anti-Perestroika-Kräften gegen Gorbatschow im August 1991 – das alles beschleunigte die politischen Prozesse und vor allem den Zerfall der Sowjetunion. Im Dezember 1991 löste sich die jahrzehntelang unerschütterlich scheinende Sowjetunion auf, und die Welt erlebte die Geburt von 15 neuen Staaten. Aber der scheinbar leichte, fast blutlose und schnelle Zerfall der UdSSR, der, wie es damals schien, niemand nachtrauerte, führte letztendlich zu den schwerwiegendsten Folgeerscheinungen der Perestroika für Russland.
Bis Anfang der 1990er Jahre blieb das gesellschaftliche Ideal, das man anstrebte, eine gewisse, auf die russischen Gegebenheiten zugeschnittene Form der Demokratie, die auch allen Völkern Freiheit und Unabhängigkeit bringen sollte. Aber bald stellte sich heraus, dass nicht nur der Reformprozess, sondern auch die Auflösung der Sowjetunion viel schwieriger und schmerzhafter verlief, als man es sich vorstellt hatte. Die Konflikte im Kaukasus und Mittelasien brachten massenhaft Umsiedler, Flüchtlinge nach Russland, wo niemand auf sie wartete. Bald spannten sich auch die Beziehungen zu den unabhängig gewordenen ehemaligen Sowjetrepubliken an oder zu denen, die nach Unabhängigkeit strebten.
Der Einmarsch russischer Truppen in Tschetschenien im Dezember 1994 hat gezeigt, dass es eine der gefährlichsten Versuchungen für Russland ist, wieder in die Rolle der imperialen Großmacht zu schlüpfen. Russland zog in den Krieg, gegen Unabhängigkeitsbestrebungen der Tschetschenen, mit den alten Argumenten von Staatsinteresse und Staatsbedrohung. Im Kern war dieser Krieg ein Ergebnis der Abkehr von den Ideen von Freiheit und Demokratie Es ging nicht um den Erhalt der Russländischen Föderation an sich. Es ging vielmehr um Machterhalt um jeden Preis. Dieser, wie es damals schien, "kleine" Krieg dauerte mehrere Jahre lang und hatte verheerende politische und moralische Nachwirkungen in Russland.
All das, und der tägliche Kampf ums Überleben in der neuen Realität, hat die russische Gesellschaft dazu gebracht, sich von demokratischen Zukunftsideen zu lösen. Es führte auch zu einem dramatischen Identitätsverlust für die Bevölkerung des größten Teilstücks der ehemaligen sowjetischen Zivilisation, der Russländischen Föderation: Das einstige "Sowjetvolk" war obsolet geworden, doch einen Ersatz dafür hatte niemand parat.
Dieser Verlust machte sich umso stärker bemerkbar, als sich in den ehemaligen sowjetischen Republiken, in den baltischen Staaten, in Georgien, in der Ukraine, eine Geschichtspolitik zu entwickeln begann, in denen Russland einzig als Stalinsches Imperium und als "Täterland" dargestellt wurde. In diesen neuen Nationalstaaten entstanden Formen der historischen und politischen Reflexion, die es ermöglichten, die "eigenen" Leiden ausschließlich als Ergebnis "fremden" bösen Willens darzustellen. Wenn das eigene Volk nur Opfer war, der Nachbar der Täter, gab es politisch wie gesellschaftlich nichts zu verantworten.
In Russland lehnten viele die, wie es ihnen erschien, aufgezwungenen Schuldgefühle ab. Viele waren und sind bis heute daher nicht in der Lage, den Grad der historischen Verantwortung der Sowjetunion gegenüber den Nachbarländern Russlands anzuerkennen. Auch das Bewusstsein über das Ausmaß der Katastrophe, die Russland selbst ereilt hat, ist unterentwickelt. Die Frage nach der historischen Verantwortung blieb ungelöst, und es gab keinen Druck mehr von gesellschaftlicher Seite, die kommunistische Herrschaft aufzuarbeiten. Die historischen Rollen Lenins, Stalins und ihrer Mitstreiter blieben ohne Urteil, es gab keine Entscheidungen des Parlaments zu diesen Fragen. Der sogenannte Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion, der 1992, mitten in der Wirtschaftskrise, begann, endete de facto ohne Ergebnis. Es gab keine Durchleuchtung und keine echte Reform der Staatssicherheitsorgane, geschweige denn Lustrationen.
Neue Geschichtspolitik
Als die Putin-Zeit Ende des 20. Jahrhunderts begann, wurde schnell deutlich, dass sich der Staat auf der Suche nach einem "eigenen" russischen Weg vom westlichen Demokratiemodell verabschiedet und die nationale Idee immer intensiver an alten sowjetischen Mythen über die erfolgreiche stalinistische Modernisierung oder die Umwandlung des Landes in eine Supermacht ausrichtet. Die Demokratiebewegung der Perestroika-Zeit, die Mobilisierung einer ganzen Gesellschaft, die in der Befreiung der Länder Osteuropas aus der sowjetischen Einflusssphäre endete, der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kalten Kriegs wurden als Niederlagen gesehen, der Zerfall der Sowjetunion als Störfall.
Die Politik schränkte Freiheit und Demokratie ein, demokratische Verfahren wurden bloß imitiert, Gerichte waren abhängig vom Staat, freie gesellschaftliche Aktivität wurde behindert. Dies lief auf eine Art Wiederbelebung sowjetischer Praktiken hinaus und verlangte insofern geradezu nach einer Rehabilitierung der sowjetischen Vergangenheit. Es zeichnete sich eine Entwicklung ab, die noch einige Jahre zuvor in der Zeit der Perestroika undenkbar gewesen wäre. Die Idee vom Großen Russland verschmolz im kollektiven Bewusstsein allmählich mit der Sowjetzeit, insbesondere mit der Stalin-Ära. Anstelle einer ernsthaften, landesweiten Diskussion und Aufarbeitung erstand ein nur leicht veränderter sowjetischer, patriotisch begründeter Großmachtmythos wieder auf, der die Geschichte des Landes als eine Abfolge ruhmreicher heroischer Leistungen zeigt. Dieser Prozess wurde zum Bestandteil einer neuen, systematischen staatlichen Geschichtspolitik.
Eine wichtige Rolle in den Bemühungen um ein positives Bild von der sowjetischen Geschichte spielte die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg", der mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann. Er war das einzige Ereignis in dieser Geschichte, in dessen grundsätzlicher Bewertung sich die öffentliche Meinung immer einig war, und Ursprung von Nationalstolz. Aber anstelle von vielschichtigen, vorwiegend tragischen Erinnerungen an den Krieg setzte die offizielle Geschichtspolitik die Erinnerung an den Sieg. Die Frage, um welchen Preis dieser Sieg errungen wurde, kam nicht vor, ebenso wenig die Fehler der sowjetischen Führung, die zu den Katastrophen von 1941/42 geführt hatten, zu den militärischen Verlusten, zu Millionen Soldaten, die in die Kriegsgefangenschaft geraten waren, Zwangsarbeiter, die von den Besatzern gewaltsam zur Arbeit nach Deutschland verschleppt wurden. Dies alles passte schlecht in das holzschnittartige Bild der nationalen Geschichte, dass der Bevölkerung präsentiert wurde.
In diesem Zusammenhang tauchte am geschichtlichen Horizont vieler Russen nun die Figur Stalins wieder auf, der nicht als Lenker und Organisator des Massenterrors gesehen wurde, sondern als weiser Staatsmann, großer Modernisierer und vor allem als Sieger im Krieg. Dass Stalin für ganz verschiedene soziale Gruppen immer mehr zum Symbol wurde, war kein Zufall. Seine Gestalt entpuppte sich als überaus standhaft, lebendig und vielschichtig. Stalin verkörperte das russische Imperium und dies – so paradox es auch ist – noch mehr als der letzte russische Zar. Er war Symbol für eine Atommacht, vor der sich der Westen fürchtete, ein Symbol für Isolationismus und antiwestliche Propaganda, für Traditionalismus und paternalistische Herrschaft, für die Alternativlosigkeit einer quasi sakralen Macht. Die Menschen in Russland waren immer weniger bereit, Stalin als "Staatsverbrecher" anzuerkennen – weil dies auch das Urteil über den sowjetischen Staat als verbrecherisch nach sich gezogen hätte.
Im Großen und Ganzen erwies sich diese Konstruktion einer nationalen Identität als erfolgreich. Der neuen (alten) Geschichtsrhetorik, unter anderem durch massive Propaganda im Fernsehen unter das Volk gebracht, gelang es im kollektiven Bewusstsein, eine Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Zusammen mit der Idee eines neuen Patriotismus und Nationalstolzes lebten die alten sowjetischen Stereotype wieder auf: die Vorstellung vom Westen als – heute wie früher – Feind und Quelle allen Unglücks für Russland, von einem Westen, der das Land in den 1990er Jahren fast in die Knie gezwungen hätte; von einer "fünften Kolonne", die im Auftrag dieses Feindes agierte; von der Feindseligkeit der Nachbarländer, und vieles andere mehr. Die Bestrebungen, Russland wieder zur Großmacht zu machen, verschmolzen mit imperialen Visionen: Bereits 2005 nannte Putin in einer Ansprache an die Föderale Versammlung den Zusammenbruch der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts".
Zukunft der Erinnerung
In den vergangenen Jahren konnte aber auch eine Gegenströmung wahrgenommen werden. Die Wirtschaftskrise und die überbordende Korruption führten zur Unzufriedenheit mit der Funktionsfähigkeit des Staates, der Justiz und der Polizei. Gleichzeitig wurde für viele immer deutlicher, dass eine Modernisierung ohne endgültige Abrechnung mit dem Stalinismus, ohne Fortsetzung dessen, was in den 1990er Jahren abgebrochen wurde, nicht möglich sein wird. Die jüngsten Ereignisse in Russland zeigen eine Spaltung der Gesellschaft – zwischen dem modernen, gebildeten und demokratisch eingestellten Teil und den traditionalistischen, konservativen und machterhaltenden Kräften. Ein Konsens über die Bewertung der sowjetischen Vergangenheit, über die Rolle Stalins scheint heute unmöglich. Am eindrücklichsten zeigt sich dies an der Unfähigkeit der russischen Gesellschaft, eine kollektive Identität zu entwickeln. Es existiert keine Vorstellung von der Zukunft. In welchem Russland werden wir leben, einem vermeintlich stabilen, das sich "von den Knien erhebt" (so ein Leitmotiv Putins) und seinen eigenen Weg geht? Wie sähe dieser Weg überhaupt aus? Die Ideologen im Kreml sind nicht in der Lage, dies zu beantworten – und genau deshalb spielt die sowjetische Vergangenheit im heutigen Russland eine solch immense Rolle. Historisch gesehen, ist es eine Sackgasse, aber wie hoch der Preis für Russland sein wird, sich aus dieser Sackgasse zu befreien, weiß heute niemand.