Mit dem Sturz des zarischen Regimes im März 1917 begann für die jüdische Bevölkerung im Russischen Imperium eine neue Epoche. Die Provisorische Regierung hatte als eine ihrer ersten Maßnahmen die Aufhebung der diskriminierenden Gesetze gegenüber Jüdinnen und Juden verfügt. Nicht zuletzt aufgrund der verschiedenen Beschränkungen, die ihnen unter dem autokratischen Regime auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Bildung und der Religion auferlegt waren, trauerte eine Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Russland weder dem Zaren noch dem Ancien Régime nach. Auch hatten die Zaren in dem Ruf gestanden, mit dem aggressiven Antisemitismus in Russland zu sympathisieren, wie er nicht zuletzt in den antijüdischen Pogromen 1881/82 und 1903 bis 1905/06 besonders gewalttätig in Erscheinung getreten war.
Auf der anderen Seite blieb in den ersten Monaten nach dem Sturz des Zaren völlig unklar, was die Zukunft für die jüdische Bevölkerung bringen würde. Viele hatten sich zum Zeitpunkt von Erstem Weltkrieg und Revolution bereits von Russland abgewandt und waren unter anderem in die Vereinigten Staaten, in das Vereinigte Königreich, Südafrika, Argentinien und Palästina ausgewandert; weitere Hunderttausende folgten ihnen bis zum Beginn der 1920er Jahre. Zwischen 1870 und den frühen 1920er Jahren verließen fast drei Millionen Juden Osteuropa, der Großteil von ihnen emigrierte aus dem Russischen Imperium beziehungsweise aus Sowjetrussland und dem Ende 1918 wiedergegründeten Polen.
Unter dem bolschewistischen Regime
Für die Politik der neuen Machthaber gegenüber den Juden spielte eine nicht unerhebliche Rolle, dass die Bolschewiki die Besonderheit des osteuropäischen Judentums als einer sowohl ethnisch-nationalen als auch religiös-kulturell geprägten Bevölkerungsgruppe nicht verstanden beziehungsweise ideologisch nicht einordnen konnten. Der Religionsphilosoph Martin Buber hat in diesem Kontext einmal von der "atypischen" Existenzform der Juden gesprochen, die im engeren Sinne weder als ethnische Gruppe noch als Nationalität, sondern als eine aufgrund ihres historischen Sonderschicksals "eigentümliche dynamische Verbindung von Nation und Religion" zu fassen sei.
Trotz unterschiedlicher ideologischer Standpunkte waren sich Lenin und Stalin in ihrem grundsätzlichen Ziel der Assimilation der jüdischen Bevölkerung einig. Die politische Situation verlangte jedoch zunächst ein differenziertes, zum Teil widersprüchlich anmutendes Vorgehen gegenüber der jüdischen Minderheit. Einerseits verwehrte das Regime den Juden den Status einer Nation sowie eine autonome nationale Kultur und bekämpfte ihre Religion und Tradition; andererseits förderte der Sowjetstaat in den 1920er Jahren die Verbreitung der jiddischen Sprache und den Aufbau einer proletarischen jüdisch-säkularen Kultur. Letzteres war freilich nur eine vorübergehende, taktisch motivierte Maßnahme und diente der ideologischen Durchdringung der jüdischen Bevölkerung mit den Ideen des Sozialismus. Das eigentliche Ziel bolschewistischer Judenpolitik, also die vollständige Assimilation und Integration der Juden in die neu zu schaffende Sowjetgesellschaft, wurde zu keinem Zeitpunkt ernsthaft infrage gestellt. Von ihrem grundsätzlich antireligiösen Standpunkt abgesehen, betrachteten die bolschewistischen Führer die jüdische Religion als ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zur Assimilation. Zugleich waren sie davon überzeugt, dass die Religion im Zuge des politischen und sozioökonomischen Umbaus der sowjetischen Gesellschaft rasch an Bedeutung verlieren würde. Nachdem sich die Erfolge mit Blick auf das "Verschwinden" der jüdischen Religion aber nicht so schnell und umfassend einstellten, wie das die Sowjetführung erwartet hatte, verfolgte das stalinistische Regime seit dem Ende der 1920er Jahre eine Politik, die von einer bis dahin beispiellosen Verschärfung der Repressionen gegen jüdische religiöse Institutionen und Bräuche gekennzeichnet war.
Wie sich die etwa 2,7 Millionen Juden ihrerseits gegenüber dem bolschewistischen Regime positionierten und wie sie auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagierten, hing maßgeblich von Faktoren wie ihrer sozioökonomischen Stellung, dem Bildungsstand, ihrem Lebensalter und nicht zuletzt von ihrer religiösen und weltanschaulichen Haltung ab. Mit Blick auf die 1920er und 1930er Jahre lässt sich die heterogene jüdische Bevölkerung in der Sowjetunion zumindest in drei größere Gruppen unterscheiden, die in einem mitunter schwierigen und konflikthaften Verhältnis zueinander standen und deren führende Repräsentanten sich auf ideologisch-weltanschaulicher Ebene häufig scharf attackierten.
Als größte Gruppe lassen sich die mehr oder weniger stark assimilierten Sowjetbürger jüdischer Herkunft verstehen, die sich aus eigener Überzeugung oder aufgrund der Lebensumstände kulturell assimiliert hatten und in der jeweiligen russischen, ukrainischen oder weißrussischen Mehrheitsbevölkerung kaum mehr als Juden auszumachen waren; viele von ihnen lebten in größeren Städten, waren mit nicht-jüdischen Sowjetbürgern verheiratet und hatten eine nur schwach ausgeprägte oder gar keine Beziehung zur jüdischen Religion und Kultur.
Eine zweite, mit Blick auf ihre zahlenmäßige Bedeutung kleinere Strömung bildeten die Juden, die jüdische Tradition und Religion auch unter den Bedingungen des Sowjetregimes als wesentlichen Bestandteil ihres Alltags betrachteten und im Rahmen der Möglichkeiten pflegten; aufgrund der antireligiösen Politik der Bolschewiki mussten sie religiöse Aktivitäten in der Regel im Verborgenen praktizieren.
Eine dritte Gruppierung schließlich umfasste diejenigen Juden, die sich als Anhänger des bolschewistischen Regimes von jüdischer Tradition und Religion losgesagt hatten und eine säkulare jiddische Sowjetkultur propagierten.
Nachdem praktisch alle Institutionen der sowjetisch-jiddischen Kultur unter dem stalinistischen Regime geschlossen worden waren, darunter auch die rund 1100 säkularen jüdischen Schulen, und viele ihrer Vertreter vor allem im Zuge der stalinistischen "Säuberungen" von Staats- und Parteiorganen repressiert worden waren, war diese Strömung Ende der 1930er Jahre faktisch ihrer Existenzgrundlage beraubt und zur Bedeutungslosigkeit innerhalb der Sowjetgesellschaft verdammt worden.
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hatte sich das Judentum nach nicht einmal einem Vierteljahrhundert Sowjetherrschaft von Grund auf verändert. Als eine überdurchschnittlich gut gebildete, in großen Teilen städtisch-moderne und in die neu entstandene Sowjetgesellschaft integrierte Bevölkerungsgruppe hatten die Juden in beachtlichem Maße an dem gesellschaftlichen Umbau unter dem bolschewistischen Regime partizipiert.
Weltkrieg und Holocaust
Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust bildeten auch für die Juden auf sowjetischem Territorium die entscheidende Zäsur in dem an Umbrüchen und exzessiver Gewalt reichen 20. Jahrhundert. Mit der gewaltsamen Besetzung und dem "Anschluss" Ostpolens, der baltischen Staaten sowie der Nordbukowina und Bessarabiens zwischen 1939 und 1941 als Konsequenz aus der im deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag ("Hitler-Stalin-Pakt") vom August 1939 beziehungsweise in dessen geheimem Zusatzprotokoll fixierten territorialen Aufteilung Mitteleuropas gerieten schätzungsweise zwei Millionen Juden neu unter sowjetische Herrschaft.
Ein Sieg der Sowjetunion gegen das Deutsche Reich war für die sowjetischen Juden in den Kriegsjahren faktisch die einzige Hoffnung auf Überleben. Entsprechend stark engagierten sich die Juden in der Armee und im Widerstand, und verbanden das Schicksal des Sowjetregimes eng mit ihrem eigenen.
Enttäuschte Nachkriegshoffnungen
Nach vier Jahren Vernichtungskrieg und brutaler Besatzungsherrschaft durch das nationalsozialistische Deutschland, in deren Kontext verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 20 und 30 Millionen Sowjetbürger ums Leben kamen und kaum zu beziffernde materielle Verluste entstanden, sehnte sich eine körperlich ausgezehrte und psychisch erschöpfte Bevölkerung vor allem nach Frieden, dem Ende von Leid und Entbehrungen sowie nach einer Normalisierung der Lebensverhältnisse.
Angesichts der tief greifenden Krisensituation in der Nachkriegszeit musste das sowjetische Regime in seinen Berichten über die Lage im Land eine insgesamt schlechte Stimmung in der Bevölkerung konstatieren, die sich zumindest potenziell gegen die Machthaber wenden konnte, auch wenn Stalin selbst, dessen Popularität als "großer Führer" durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreicht hatte, nicht infrage gestellt wurde. Vom Glanz der Siegermacht strahlte in der Nachkriegszeit allerdings wenig in den Alltag der Menschen.
Eine Mischung aus Hoffnungen auf ein besseres Leben nach den zerstörerischen Erfahrungen von Krieg und Vernichtung und dem Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit angesichts des erlebten Leids und Verlustes prägte grundsätzlich auch die Stimmungen in der jüdischen Bevölkerung. Zugleich unterschieden sich die Hoffnungen beziehungsweise Erwartungen der Juden aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren aber von denen der Mehrheitsgesellschaft. So entwickelte sich in der jüdischen Bevölkerung ungeachtet der unterschiedlichen Einstellungen zum bolschewistischen Regime und der Bewertung der Rolle von jüdischer Kultur und Religion ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das für die Nachkriegsjahre bestimmend werden sollte.
Wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion hatten sich auf Initiative oder zumindest mit Unterstützung der Sowjetführung eine Reihe zumeist prominenter und einflussreicher Vertreter der sowjetisch-jüdischen Intelligenz zu einem Antifaschistischen Komitee zusammengeschlossen. Unter den 63 Gründungsmitgliedern des Jüdischen Komitees befanden sich bekannte Schriftsteller wie Wassili Grossman, Abraham Sutzkewer und Ilja Ehrenburg, Musiker, Schauspieler, Regisseure, Dramaturgen, Kritiker, Künstler, Journalisten, führende Wissenschaftler und Ärzte sowie hochrangige Militärs und Politiker.
Das Jüdische Antifaschistische Komitee, dessen Tätigkeit von zahlreichen jüdischen Partnerorganisationen im Ausland maßgeblich unterstützt wurde, existierte bis zu seiner gewaltsamen Auflösung durch die Organe der Staatssicherheit im November 1948, hatte aber bereits mit Kriegsende seine ursprüngliche Funktion verloren. Obwohl dieser einzigen jüdischen Organisation in der Sowjetunion vonseiten der Sowjetführung eine primär propagandistische Funktion zugedacht war, konnte das Jüdische Komitee angesichts der katastrophalen Lage der Mehrheit der sowjetischen Juden nicht tatenlos gegenüber dem Ansturm von Hilfesuchenden bleiben und wurde zunehmend in die Rolle eines "Anwaltes der sowjetischen Juden" gedrängt.
In Tausenden von Briefen während des Krieges und unmittelbar danach wurde das Jüdische Antifaschistische Komitee von Juden aus allen Teilen der UdSSR über die katastrophale Lage der jüdischen Bevölkerung informiert und dazu aufgefordert, materielle und moralische Unterstützung für jüdische Sowjetbürger zu leisten, die sich infolge von Krieg, Holocaust und antijüdischen Übergriffen vonseiten der sowjetischen Bevölkerung in einer psychisch wie materiell ausweglosen Situation befanden.
Antisemitische Kampagnen
Zwei Initiativen aus den Reihen des Jüdischen Antifaschistischen Komitees sollten in den folgenden Jahren schließlich das Schicksal dieses für die sowjetischen Juden in jenen Jahren so wichtigen Organs besiegeln und dem stalinistischen Regime als Anlass für eine antisemitische Orientierung seiner Politik dienen: zum einen der Stalin gegenüber in einem Memorandum formulierte Vorschlag der Vorsitzenden des Komitees zur Gründung einer jüdischen Republik auf der Krim und zum anderen die von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman in Angriff genommene Herausgabe einer Dokumentensammlung über den Genozid an der jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion, die später als "Schwarzbuch" bekannt wurde.
Die antisemitische Wende in der Politik der Sowjetführung – das heißt der Zeitpunkt, ab dem das stalinistische Regime dazu überging, den Antisemitismus in der Bevölkerung nicht nur passiv zu tolerieren, sondern ihn seinerseits als Mittel der aktiven Herrschaftsausübung einzusetzen – hatte sich allem Anschein nach um 1947/48 vollzogen und war in den Kampagnen gegen den "Kosmopolitismus" mehr oder minder offen zum Ausdruck gekommen. Aber während die Ermordung des Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Solomon Michoels, im Januar 1948 von getarnten Mitarbeitern des sowjetischen Geheimdienstes in geheimer Mission erledigt wurde und auch die Auflösung des Komitees, die Inhaftierung, das Verhören und die Verurteilung seiner Mitglieder zwischen 1948 und 1952 im Verborgenen abgewickelt wurden, entfalteten die Kampagnen gegen "Kosmopolitismus" und "Zionismus" in der sowjetischen Öffentlichkeit einen Grad antisemitischer Hetze und Repression, der in der Sowjetgesellschaft bislang nicht vorstellbar gewesen war.
Verschwinden jüdischen Lebens und Sehnsucht nach Emigration
Aus der Perspektive der jüdischen Bevölkerung gab es auch nach Stalins Tod keine Rückkehr zur "Normalität" der Vorkriegsjahre. Das sowjetische Regime hatte den Antisemitismus in Gestalt des Antizionismus in seine Ideologie inkorporiert, und die Juden fanden sich vor dem Scherbenhaufen ihrer gescheiterten Integration in die Sowjetgesellschaft wieder. Das galt vor allem für diejenigen Sowjetbürger, die eine jüdische Identität hatten und ihr Judentum in der einen oder anderen Weise praktizierten und für die Sowjetgesellschaft als Juden zu erkennen waren. Sie waren von nun an mit dem Makel des "wurzellosen Kosmopolitismus" behaftet und vermochten nicht mehr von sich abzustreifen, dass sie notorisch als eine dem Sowjetvolk fremde und an ihm angeblich "schmarotzende" Minderheit wahrgenommen wurden. Auch wenn sie in den folgenden Jahrzehnten in der Regel nicht mehr, wie noch in der späten Stalin-Zeit, um ihr Leben zu fürchten hatten, gehörte die aus solchem Stigma resultierende Diskriminierung in allen ihren Spielarten fortan zum jüdischen Alltag in der UdSSR. Den Juden ihrerseits blieben damit im Grunde auch nur noch zwei Optionen: entweder eine möglichst unauffällige, das heißt nicht mehr als "jüdisch" auszumachende Existenz als Sowjetbürger oder die Hoffnung auf Emigration aus der Sowjetunion.
Jüdisches Leben, sei es in religiöser Hinsicht oder im Sinne einer säkularen jiddischen oder auch jüdisch-nationalen Kultur, konnte sich unter den gegebenen Bedingungen auch in den 1960er und 1970er Jahren kaum mehr in nennenswertem Umfang entwickeln. Das galt auch für die Jahre des sogenannten Tauwetters unter Nikita Chruschtschow, der mit seiner berühmten Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 zwar beherzt die Entstalinisierug der sowjetischen Gesellschaft auf den Weg gebracht hatte, dessen Reformeifer aber klare Grenzen kannte. So überrascht es mit Blick auf die vorangegangenen Jahrzehnte auch kaum, dass Juden in politischen Funktionen, etwa in den lokalen Sowjets oder auf Unionsebene, stark unterrepräsentiert waren. Jiddischsprachige Publikationen in der Sowjetunion blieben im Wesentlichen auf wenige Bücher und eine Zeitschrift begrenzt.
Unter diesen Umständen gewann der Wunsch nach Emigration, vor allem nach Israel, für viele Juden stetig an Bedeutung. Bereits in den 1940er Jahren hatte es in der jüdischen Bevölkerung den kaum verdeckten Wunsch der Ausreise nach Palästina gegeben. Das war nicht zuletzt bei dem Besuch der ersten israelischen Botschafterin Golda Meir in Moskau im Oktober 1948 deutlich geworden, als sich geschätzt 5.0000 sowjetische Juden vor der Moskauer Choralsynagoge versammelten und die Vertreterin des neu gegründeten jüdischen Staates euphorisch begrüßten. Einige hatten sich danach an führende Staats- und Parteiorgane oder das Jüdische Antifaschistische Komitee mit der Bitte um Ausreise gewandt.
Die Ausreise aus der Sowjetunion blieb lange Zeit ein Tabu und wurde, auch als man sie theoretisch erlaubte, sehr restriktiv gehandhabt. Unter Chruschtschow wurden die Restriktionen diesbezüglich nur wenig gelockert, und die Genehmigung einer Ausreise blieb die Ausnahme. Von 1954 bis 1964 konnten nur 1542 Juden die Sowjetunion auf direktem Weg in Richtung Israel verlassen.