Im August 1944, als sowjetische Truppen auf die deutsche Ostgrenze vorrückten, veröffentlichte die Zeitung der Roten Armee einen Artikel von Ilja Ehrenburg, dem tonangebenden sowjetischen Autor der Kriegsjahre. Darin erinnerte Ehrenburg seine Leser an den höheren Sinn des Krieges, den sie führten: "Unser Marsch nach Deutschland folgt auf drei finstere Jahre, folgt auf die Ukraine, Weißrussland, die Asche unserer Städte, das Blut unserer Kinder. Wehe dem Land der Mörder! An der deutschen Grenze stehen nicht nur unsere Truppen. Die Schatten der Opfer stehen dort. Wer pocht an Preußens Tore? Die Toten, Ermordeten, im Gas Erstickten, im Feuer Umgekommenen, die Alten von Trostinez, die Kinder von Babi Jar, die Märtyrer von Slawuta, der Staub und die Asche aus den Öfen, in denen die Deutschen Millionen wehrloser Menschen verbrannt haben. (…) Wohin ziehen diese Schatten? Nach Königsberg, nach Berlin. Und die Lebenden folgen den Toten. Nichts hält uns jetzt noch auf: Kummer und Zorn rauben uns den Schlaf. Wehe dem Land der Verbrecher! Wehe Deutschland!"
In Darstellungen des Zweiten Weltkrieges figuriert Ehrenburg oft als glühender Propagandist, dessen Aufrufe an die Soldaten der Roten Armee, Deutsche zu töten, die exzessive Gewalt des deutsch-sowjetischen Krieges anheizten.
Millionen Menschen wurden Augenzeugen deutscher Gräueltaten auf sowjetischem Boden oder erfuhren von ihnen – aus Ehrenburgs Artikeln, politischen Seminaren in der Roten Armee oder Briefen von Familienangehörigen, die die deutsche Besatzung erlebt hatten. Sowjetische Kommentatoren verwiesen auf den Charakter der deutschen Gewaltakte, um die eigenen Kriegsanstrengungen moralisch zu rechtfertigen: Die "sowjetische Menschheit" war aufgerufen, die "faschistische Barbarei" um jeden Preis zu bekämpfen. Dieses – mit detaillierten Informationen über deutsche Gewaltverbrechen unterfütterte – Narrativ trug entscheidend dazu bei, sowjetische Bürger zum Kampf gegen NS-Deutschland zu mobilisieren. Viele sahen dadurch auch das stalinistische System entlastet, das selbst ein ungeheures Ausmaß an politischer Gewalt zu verantworten hatte.
Das sowjetisch geprägte moralische Vokabular des Antifaschismus beeinflusste während des Krieges zunehmend auch im Westen die Einstellung gegenüber NS-Deutschland. Weltweit kursierten Zeitungsberichte oder Filme, die das Leid in der Sowjetunion dokumentierten und in der Bevölkerung eine Welle der Sympathie mit dem Land auslösten. So konnte auch ein normativer Topos mit dezidiert kommunistischem Charakter – der leidenschaftliche Kampf gegen die Bedrohung der Menschheit durch die deutschen Faschisten – im Westen Fuß fasste. Historiker weisen darauf hin, dass die Anti-Hitler-Allianz von einem tiefen Gefühl der moralischen Überlegenheit gegenüber NS-Deutschland zusammengehalten wurde, was letztlich eine Voraussetzung für den Sieg der Alliierten 1945 war. Diese wichtige Erkenntnis wird jedoch durch die vorgefasste Überzeugung getrübt, die Moral sei im Westen beheimatet gewesen und dort definiert worden.
Eine neue Dimension der Gewalt
Der Polenfeldzug mit seiner ungeheuren Zahl an Todesopfern erwies sich im Nachhinein nur als Auftakt zum deutschen Krieg gegen die Sowjetunion, in dessen Verlauf die NS-Gewalt im Zweiten Weltkrieg völlig neue Dimensionen und Formen annehmen sollte. Beim Einmarsch in Polen wandten sich zumindest einige deutsche Heerführer gegen den SS-Terror, weil sie sich an die Konventionen des Völkerrechts gebunden sahen.
Über die Anweisung hinaus, sowjetische Kommissare abzusondern und zu exekutieren, hatten die Nationalsozialisten nur undeutliche Vorstellungen vom Wesen des jüdisch-bolschewistischen Feindes. Sie wurden von den deutschen Sondereinheiten auf breiter Front mörderisch in die Tat umgesetzt. Wenn die Soldaten ein sowjetisches Haus betraten, stellten sie den verängstigten Bewohnern als erstes die Frage: "Jude, Kommunist?" Wer zu einer dieser Gruppen gehörte, wurde abgeführt und hingerichtet. Interne Berichte der Einsatzgruppen zeigen, dass beide Begriffe ineinander verschwammen: Die gleichen erschossenen Personen wurden einmal als "Kommunisten", dann wieder als "jüdische Kommunisten" oder "Juden und andere kommunistische Elemente" eingestuft. Die weit verbreitete Ansicht, Juden und Bolschewisten seien austauschbar oder Juden seien zumindest so hartnäckige Unterstützer des bolschewistischen Systems, dass "grundsätzlich jeder Jude" als Partisan gelten müsse (wie Himmler seinen Einsatztruppen in Białystok einschärfte), veranlasste die SS schließlich im August 1941, komplette jüdische Siedlungen zu vernichten, einschließlich der Frauen, Kinder und Alten.
Mit fast dem gleichen Vernichtungseifer, den sie gegenüber Juden zeigten, töteten die Deutschen auch sowjetische Kriegsgefangene. Ihre systematische Auslöschung war ein integraler Bestandteil der NS-Strategie gegenüber der Sowjetunion. Dabei spielte nicht nur das Motiv eine Rolle, durch den Hungertod Millionen "unnützer Esser" loszuwerden. Sowjetische Kriegsgefangene galten (auch nach der bereits erfolgten Absonderung und Exekution der Kommissare) weithin als "Bolschewisten" – mit allen Konsequenzen, die diese Bezeichnung mit sich brachte. Die deutschen Militärposten waren ausdrücklich angewiesen, den Waffengebrauch an gefangenen Rotarmisten mit "besonderer Schärfe" zu üben.
Um deutsche Soldaten zu Akteuren des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs zu machen, bedurfte es über die Barbarossa-Befehle vom Frühjahr 1941 hinaus der ständigen Indoktrinierung. Sie erfolgte über Operationsbefehle wie die Weisung, die Feldmarschall Walter von Reichenau am 10. Oktober 1941 an die in der Ukraine stationierten Soldaten der 6. Armee erließ. Reichenau erinnerte die deutschen Soldaten "im Osten" an ihren politischen Auftrag, "das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien". Sein Befehl forderte ausdrücklich die Vernichtung von feindlichen männlichen Soldaten, weiblichen Soldaten ("entartete Weiber") und mutmaßlichen Partisanen als Täter von "artfremder Heimtücke und Grausamkeit".
Dokumentation der Gräueltaten
Drei Monate, nachdem Reichenau diesen Befehl erteilt hatte, präsentierte die "Prawda" ihn ihren Lesern und nannte ihn "so monströs und zynisch, dass alle Sowjetmenschen und die gesamte zivilisierte Welt davon wissen müssen".
In den ersten Monaten nach dem Einmarsch waren auf sowjetischer Seite nur vereinzelte Berichte über deutsche Gräueltaten gegen Zivilisten bekannt. Im November 1941 berichteten die Medien über die Erschießung von etwa 52.000 Kiewer Juden – Männer, Frauen und Kinder – in der Schlucht von Babi Jar/Babyn Jar (russ./ukr.).
Seit Anfang 1942 veröffentlichte die Politische Verwaltung der Roten Armee Broschüren, in denen die Gewaltverbrechen der "deutschen faschistischen Invasoren" detailliert dargelegt wurden. Im Frühjahr 1943 fand ein neuer Ausdruck Eingang in diese Broschüren: die "Massenvernichtung der sowjetischen Zivilbevölkerung". Die Autoren hoben hervor, dass die Deutschen die "physische Ausrottung planmäßig und in großem Maßstab" betrieben.
Neben den Kriegsverbrecherprozessen in Krasnodar und andernorts gab es zahlreiche weitere Anlässe, bei denen die Bürger der Sowjetunion über die "deutsch-faschistischen Gräueltaten" ins Bild gesetzt und aufgeklärt wurden. In befreiten Städten und Dörfern beriefen Politoffiziere der Roten Armee die Soldaten zu Versammlungen bei freiliegenden Leichen von Opfern oder in der Nähe ehemaliger Gestapo-Gefängnisse ein. Überlebende aus der Gegend, die selbst Zeugen von NS-Gräueln geworden waren, berichteten, Agitatoren hielten Vorträge über die Schreckenstaten der Deutschen. Auf dem Höhepunkt dieser "Rachekundgebungen" gelobten die versammelten Soldaten feierlich, den Feind mit doppeltem Einsatz zu bekämpfen. Der Anblick deutscher Massaker an Zivilisten übte auf die anwesenden Soldaten eine enorme Mobilisierungskraft aus. Er rüttelte sogar Rekruten auf, die Stalin ablehnend gegenübergestanden oder mangelnde Kampfbereitschaft gezeigt hatten. Angesichts solcher Gräueltaten wurde der moralische Sinn des Kriegs noch einmal gesteigert: "Da mit jedem Tag der Besatzung mehr Frauen vergewaltigt, mehr Städte zerstört und mehr Mitbürger gedemütigt und ermordet wurden", fühlten sich die Soldaten verpflichtet, schnell nach Westen vorzurücken, um Leben zu retten.
In befreiten Städten beriefen sowjetische Amtsträger als eine der ersten Maßnahmen die gesamte örtliche Bevölkerung zu politischen Treffen ein. Sie sollten den Gegensatz von faschistischer Unmenschlichkeit und sowjetischer Menschlichkeit bekräftigen – ein zentrales Motiv im fortdauernden ideologischen Kampf der Sowjetunion gegen den Faschismus. Ein Funktionär aus Melitopol, der im Februar 1944 von der Moskauer Historikerkommission befragt wurde, beschrieb die aufwühlende Wirkung einer öffentlichen Versammlung, die er wenige Tage nach der Befreiung der Stadt im September 1943 einberufen hatte. Nach seiner Eröffnungsrede sprachen mehrere Priester und Offiziere der Roten Armee. Die letzten Redner waren vier Partisanen – "zwei [Partei-]Genossen und zwei Mädchen aus Melitopol, die hierhergekommen sind, die Stadt verteidigt haben, ihre Familien sind erschossen worden. Das war ein einziges Geflenne, keine Versammlung. So ein Grauen, du stehst einfach nur starr vor Schreck."
Solche Treffen fanden überall in den befreiten Gebieten statt, auch in den baltischen Republiken und den westlichen Regionen der Ukraine und Weißrusslands, die die Sowjetunion im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts annektiert hatte. Hier war die Erinnerung an die sowjetische Besatzung und Gewalt in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs noch frisch. Umso wichtiger war es, die von der Sowjetunion beanspruchte "Befreierrolle" durch Berichte von Überlebenden des NS-Terrors zu untermauern. Dass die Deutschen während ihrer Herrschaft über sowjetische Gebiete nie ähnliche Maßnahmen erwogen haben, ist bezeichnend – solche Appelle waren mit ihrem Kolonialisierungsprojekt nicht vereinbar. Wie der Reichenau-Befehl zeigt, sollten sowjetische Zivilisten nicht als Bürger angesprochen, sondern durch Furcht vor deutschen Repressalien gefügig gemacht werden.
Sowjetische Fotografen und Filmteams trugen entscheidend dazu bei, die Beweise für die Gräueltaten in die moralische Erzählung vom Kampf des sowjetischen Humanismus gegen die faschistische Unmenschlichkeit einzubinden und diese Geschichte einem breiten Publikum zu vermitteln. Die Kamerateams, die den Vormarsch der Roten Armee nach Westen im Bild festhielten, erhielten die ausdrückliche Anweisung: "Filmen Sie die bestialischen Taten und Verheerungen der Deutschen, auch die furchtbarsten und belastendsten, ohne jegliche ästhetischen Rücksichten. Die Kameraleute sollten sich beim Drehen dieses Materials einzig von der Pflicht leiten lassen, die Niedertracht und die brutalen Verbrechen festzuhalten, die die Deutschen auf unserem Boden verübt haben und für die sie eines Tages werden zahlen müssen."
Dieses Filmmaterial wurde unter anderem in Alexander Dowschenkos bekanntem Dokumentarfilm "Der Kampf um unsere Sowjet-Ukraine" verwendet, den der Regisseur ursprünglich "Brennende Ukraine" genannt hatte. Im Mittelpunkt des Films steht das unaussprechliche Leid, das die Ukraine und ihre Bewohner durch die Deutschen erfahren haben. Während die Kamera über ein geöffnetes Massengrab in Charkow mit den sterblichen Überresten von 14.000 Opfern des NS-Terrors schwenkt, stimmt ein Sprecher einen feierlichen Appell an: "Schaut her, ihr Lebenden! Wendet euch nicht ab von unseren furchtbaren Gruben. Wir können nicht mehr vergessen oder verschwiegen werden. Wir sind viele. Wir sind eine gewaltige Schar in der Ukraine. Vergesst uns nicht. Nehmt Rache an Deutschland für unsere Qualen."
Rezeption im Westen
Der Ruf des Sprechers in Dowschenkos Film erreichte Zuschauer auf der ganzen Welt. Während des Krieges wurden sowjetische Dokumentarfilme über die NS-Gewalt in alliierten Ländern gezeigt und machten dort tiefen Eindruck. Der Film "Moscow Strikes Back" über den ersten Befreiungsfeldzug im Dezember 1941 und Januar 1942 kam im August 1942 in die US-Kinos und gewann 1943 einen Oscar. Der Film zeichne im Wesentlichen ein "Bild der brutalen Kriegsverheerungen, der monströsen Schändung der Menschheit, die die Nazis weltweit entfesselt haben", schrieb ein Kritiker der "New York Times". "Wer ihn sieht, wird unweigerlich tiefe, unversöhnliche Empörung verspüren." Ein anderer Rezensent hielt fest: "Man möchte aus dem Kinosessel aufspringen und sich den Kämpfern auf der Leinwand anschließen, um die Entartung und sinnlose Grausamkeit des Nationalsozialismus ein für alle Mal vom Antlitz der Erde zu tilgen."
Die britische und die US-Regierung förderten die Sympathie der Bevölkerung für den sowjetischen Verbündeten, indem sie Hinweise auf den gewalttätigen Charakter des stalinistischen Staates relativierten oder ihnen sogar aktiv entgegentraten. So gab das britische Informationsministerium ein Handbuch mit dem Titel "Arguments to Counter the Ideological Fear of Bolshevism" heraus, in dem Journalisten nahegelegt wurde, Begriffe wie "Roter Terror" als Hirngespinste der Nationalsozialisten zu betrachten.
Gleichzeitig blieben die westlichen Regierungen argwöhnisch gegenüber propagandistischen Bestrebungen, besonders wenn es um Gräueltaten ging. Bereits 1940 waren Berichte, die polnische und jüdische Aktivisten zu deutschen Verbrechen in Umlauf gebracht hatten, bei US-Regierungsvertretern auf Skepsis gestoßen. Sie befürchteten, wie schon während des Ersten Weltkrieges, durch Propaganda erneut in den Krieg hineingezogen zu werden.
Im April 1943 versuchte die deutsche Regierung, sich diese Vorbehalte zunutze zu machen: Sie startete eine Kampagne, um die Welt über das "wahre Gesicht des barbarischen Bolschewismus" zu unterrichten. In einem russischen Wald bei dem Dorf Katyn hatten die Deutschen die sterblichen Überreste von mehr als 4.000 polnischen Offizieren entdeckt, die 1940 von sowjetischen Sicherheitskräften ermordet worden waren. Propagandaminister Joseph Goebbels begrüßte die Entdeckung als "sehr gute Gelegenheit, die Reinwaschungsversuche am Bolschewismus, wie sie in England und den USA betrieben werden, auf das drastischste zu widerlegen".
Entdeckung der Todeslager
Hatte die reihenweise Entdeckung von Massengräbern in den befreiten Gebieten Russlands und der Ukraine nach dem Sieg bei Stalingrad die bisherigen, auf 1941 und 1942 zurückgehenden sowjetischen Vorstellungen von NS-Verbrechen bereits weit übertroffen, wurde mit dem Einzug der Roten Armee in Polen 1944 erneut eine bis dahin undenkbare Dimension deutscher Gräueltaten offenbar. Der Dokumentarfilmregisseur Roman Karmen notierte angesichts des Todeslagers in Majdanek, im Vergleich zu der dort praktizierten, brutal effizienten "Vernichtung von Menschen in fließbandartigem Tempo und Ausmaß" sei die von den Deutschen in Russland angewandte Tötung mittels Gaswagen bloß eine "kleingewerbliche Mordweise". Karmen hob ein "schockierendes Detail" hervor: Die Deutschen hatten die Knochen und die Asche der Opfer benutzt, um Kohl zu düngen, den sie auf nahegelegenen Feldern anbauten. Ein wesentliches Merkmal des Lagers Majdanek sah er in dessen "europaweiter Bedeutung": Zugladungen von Menschen aus Dänemark, Norwegen, der Tschechoslowakei und Frankreich waren "hierhergebracht worden, nur um vernichtet zu werden". Karmens Dokumentarfilmaufnahmen setzen diese Skriptnotizen bis ins Detail um: Die Kamera zeigt in Großaufnahme die Pässe der Insassen – Franzosen, Italiener, Griechen, Polen. Dass der Film Europa als Opfer von NS-Gewalt darstellte, sollte zweifellos die Stellung der Roten Armee als Befreier des Kontinents unterstreichen (und den gegenteiligen Behauptungen von deutscher Seite entgegenwirken). Aber in Karmens Aufzeichnungen wird überall auch ein ethisches Anliegen deutlich: "Die ganze Welt, alle künftigen Generationen, müssen wissen, was sich hinter dem Stacheldraht der gesamteuropäischen Todesfabrik der Deutschen abgespielt hat."
Die sowjetischen Entdeckungen und Aufrufe stießen in der übrigen Welt jedoch auf ein geteiltes Echo. Als der Korrespondent Alexander Werth im August 1944 einen ausführlichen Bericht über die Auffindung des Lagers Majdanek an die BBC schickte, lehnten die Redakteure in London ihn ab, weil sie eine propagandistische Inszenierung der Sowjets vermuteten.
Im Februar 1945 bekamen es die FHO-Experten abermals mit einer Flut sowjetischer Berichte zu tun. Diesmal ging es um das Todeslager Auschwitz, das die Rote Armee einige Wochen zuvor befreit hatte. Die zahlreichen detaillierten Informationen über die Geschichte und Funktionsweise des Lagers, die von namentlich benannten Überlebenden berichtet wurden, machten es den deutschen Lesern offenbar schwer, an ihrem Zweifel festzuhalten: Die Nachrichtenoffiziere verzichteten diesmal auf eine eigene distanzierende Kommentierung und ließen die sowjetischen Dokumente für sich sprechen. Unter den übersetzten Materialien war ein Leitartikel einer Zeitung für Rotarmisten, in dem festgestellt wurde, dass die Deutschen in Auschwitz etwa sechs Millionen Menschen verbrannt hatten ("Töten, Brennen, Vergiften – das sind die deutschen Berufe"). Darin wurden die Leser direkt angesprochen: "Genosse! Du hast viel gesehen auf deinem glorreichen Wege des Vormarsches von Stalingrad – überall findet man blutige Spuren deutscher Greueltaten. Du hast viel gesehen und auch viel erlebt, Auschwitz aber ist das grausamste Zeugnis deutscher Greueltaten."
Beim Lesen der Feindberichte achteten die FHO-Offiziere besonders auf Ehrenburgs Publikationen. Ihr Dossier für 1944/45 enthält mehrere unkommentierte, vollständige Übersetzungen seiner Artikel, darunter auch den am Beginn dieses Beitrags zitierten Text vom August 1944. Die FHO-Leute griffen Ehrenburg als Autor heraus, der aus ihrer Sicht allein für die feindliche Gräuelpropaganda verantwortlich zeichnete. Hätten sie breitflächiger gelesen, wären sie in den sowjetischen Feldzeitungen der letzten Kriegsphase auf eine wahre Flut soldatischer Trauer-, Empörungs- und Rachebekundungen gestoßen, die eine Fülle an detaillierten Belegen persönlich miterlebter oder erlittener Schrecken enthielten. Unter den Briefschreibern waren langjährige Soldaten, die auf ihrem Marsch nach Westen auf immer neue Spuren von Verbrechen der Deutschen gestoßen waren. Andere waren aus deutscher Gefangenschaft entkommen und berichteten vom Alltag in den NS-Lagern, und wieder andere hatten die deutsche Besatzung überlebt und sich erst vor kurzem der Roten Armee angeschlossen.