Mittlerweile ist es 30 Jahre her, dass der sowjetische Staat zu existieren aufhörte. Mit ihm endeten auch der Kalte Krieg und die bipolare Aufteilung der Welt in einen durch Moskau weitgehend dominierten sozialistischen Block und westliche liberale Staaten, die ihre konkurrierenden Gesellschaftsmodelle mithilfe von Entwicklungsprogrammen, wirtschaftlichen Kooperationen, Bildungsaustausch und militärischen Einsätzen in damals als "Dritte Welt" und "blockfreie Staaten" bezeichneten Regionen zu etablieren suchten. Auf die euphorische Rede vom "Ende der Geschichte", die den umfassenden Sieg des Liberalismus postulierte,
Mittlerweile ist eine ganze Generation ohne eigene Erfahrung mit dem Staatsozialismus aufgewachsen. Doch die Sowjetunion bleibt präsent. Denn auch die Nachgeborenen, nicht nur ihre vor 1991 aufgewachsenen Eltern und Großeltern, wurden durch die Sowjetunion und ihren Zusammenbruch geprägt. So halten sich positive Bezugnahmen etwa auf die entscheidende Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, auf die Breschnew-Zeit oder gar auf Stalin als erfolgreichen Manager der sowjetischen Modernisierung. Dies sind Abschnitte in der Geschichte, die trotz der Millionen Opfer, die Krieg und Terror forderten, und der Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der späten Sowjetunion nicht nur in Russland mit Erfolgen, Sicherheit und globalem Status in Verbindung gebracht werden. Entsprechend fand die Deklaration des ehemaligen KGB-Offiziers Wladimir Putin, der Zusammenbruch der Sowjetunion stelle die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts dar,
Trotz der Berichte über diese Zustände irritierte Putins Aussage im Westen. Hier wird der Zerfall der multiethnischen Sowjetunion keineswegs als Tragödie, sondern als Befreiung angesehen, und positive Erinnerungen an die Sowjetzeit als fehlgeleitete, da vergessliche, verharmlosende "Nostalgie" gefasst.
Chronologie und Politik
Die Begriffe des "Sowjetischen" und des "Postsowjetischen" scheinen zunächst schlicht eine Chronologie zu umreißen – 70 Jahre Sowjetunion einerseits, das "Danach" andererseits. Doch jenseits dieser Zeitfolge signalisieren diese Attribute auch etwas anderes: Sie sind so politisch aufgeladen wie analytisch, sie stehen in einer spezifischen Tradition und verzeichnen ihre eigenen Konjunkturen. So markierte das Attribut des Postsowjetischen in der Berichterstattung der 1990er Jahre zunächst einen Übergang, der – eingeläutet durch die Auflösung des politischen Systems und den Denkmalsturm auf Statuen sowjetischer Führer, dann veralltäglicht in durch den Westen inspirierten Namen neuer, nun in privater Hand befindlicher Geschäfte
Das Amalgam aus sowjetischen Erwartungen, sowjetischer Sprache und sowjetischen Verhaltensweisen einerseits und postsowjetischen Adaptionsleistungen und Praktiken andererseits fiel vor allem AnthropologInnen bald ins Auge. So hatte etwa Caroline Humphrey bereits in den 1980er Jahren Feldforschungen auf einer nach Karl Marx benannten Kolchose im ostsibirischen Burjatien vorgenommen. Sie stellte Mitte der 1990er Jahre fest, dass das Sowjetische nicht einfach ad acta gelegt war, trotz Kritik an der Politik des sowjetischen Staates und der Existenz sowjetischer Arbeitslager, die nicht zuletzt die gewaltsame Kollektivierung und Zwangsansiedlung von Burjaten im Stalinismus deutlich machten. Auch die Loyalität zum russischen Staat stand keineswegs infrage. Vielmehr fand Humphrey heraus, dass die zur Gruppe der mongolischen Völker gehörenden BurjatInnen eine als "rückständig" verstandene Identifikation als MongolInnen ablehnten. Denn sie gehörten zu den Gruppen, die vor 1991 vor allem als nicht-sesshafte, traditionelle Strukturen fortschreibende, abergläubische und somit antimoderne Gemeinschaft imaginiert wurden. Doch laut desselben staatlich beförderten Diskurses konnten sie ihre Rückständigkeit überwinden, indem sie die emanzipatorisch und aufklärerisch gefassten Modernisierungsvisionen des multiethnischen Sowjetstaates verinnerlichten. Die Langzeiteffekte dieser Vorstellungen spiegelten sich nach 1991 darin wider, dass BurjatInnen sich nicht als solche, sondern in Anlehnung an überethnische, staatsbürgerliche Kategorien identifizierten – waren sie vorher SowjetbürgerInnen, sahen sie sich nun als RussländerInnen.
Nach 2000 wurde dann verschiedentlich das Ende der postsowjetischen Zeit ausgerufen, meist in Zusammenhang mit den Versuchen Russlands, sich als geopolitischer Hegemon zu reetablieren, und einer Abkehr von einer Reformpolitik im postsowjetischen Raum, die auf eine Demokratisierung im westlichen Sinne ausgerichtet war.
Spätestens hier entpuppt sich das Postsowjetische als ein politischer und, wie das Sowjetische, ein politisierter Begriff. Während er in Russland mit Chaos assoziiert blieb, implizierte er im Westen den Abschied vom Staatssozialismus als einer "anderen" Ordnung. In dieser Perspektive waren Russland und andere ehemalige Sowjetrepubliken nach 1991 auf dem "richtigen" Weg. Demokratie und Recht sollte in der postsowjetischen Ära endlich zum Durchbruch verholfen werden, hatte die Vorannahme gelautet. Solche Vorannahmen schwingen dann auch in der Feststellung mit, dass mit dem Ende der 1990er Jahre viele Staaten im postsowjetischen Raum von diesem "richtigen" Weg immer mehr abwichen. Die kritische Berichterstattung zur zunehmend autoritär und auf eine Führungsfigur fokussierte Politik in diesen Staaten, Menschenrechtsverletzungen, Korruption und ökonomischer Raubbau an Gesellschaft und Umwelt sowie die Verweise auf Russlands Großmachtambitionen enthielten immer eine doppelte Referenz, die nun stärker sichtbar wurde: Sie setzte die liberale westliche Demokratie und die von ihr propagierten Werte als universalen Referenzrahmen, für den Staaten im postsowjetischen Raum mit ihrer Abweichung von dieser Ordnungsvorstellung wieder als Kontrast, als das "Andere" dienten. Dieses "Andere" wurde als Bedrohung gelesen, nicht zuletzt aufgrund der geopolitischen Konsequenzen russischer Großmachtambitionen. Deren Verunsicherungspotenzial wird ausgeglichen durch eine umso bestimmtere Beharrung auf dem "eigenen" Modell, der eigenen Identität. Der Begriff des Postsowjetischen markiert somit nicht einfach einen Zeitabschnitt, sondern verweist auch auf die jeweilige politische Position und dahinterstehende Identitätskonstruktionen.
Die Tradition des "Anderen" als Resonanzraum des (Post-)Sowjetischen
Hierfür lieferte eine Tradition Bilder und Zuschreibungen, die nicht erst in der Zeit des Kalten Krieges Verbreitung gefunden hatten. Als Beispiel können Karikaturen dienen, die im Westen die russische Politik kommentierten und zugleich positionierten. So wurde Putin im Kontext der russischen Invasion in Georgien 2008 als Krake dargestellt, der nicht nur den Kaukasus, sondern auch das Baltikum, die Ukraine und Belarus in den Würgegriff nahm. Einen Oktopus mit Putins Kopf zierte auch die Titelseite einer Ausgabe des "Economist" zur russischen Einflussnahme auf den US-Präsidentschaftswahlkampf 2016.
Identitätskonstruktion mittels Abgrenzung zum "Anderen" ist kein Alleinstellungsmerkmal des westlichen Russlanddiskurses. Das antike Rom wie die italienische Renaissance produzierten ähnliche Bilder von den "Barbaren" nördlich der Alpen. Der Historiker Larry Wolff hat untersucht, wie sich diese Nord-Süd-Polarisierung der (Un-)Zivilisiertheit mit der französischen Aufklärung in einen Ost-West-Gegensatz verlagerte, mit dem die Beschreibung von Dunkelheit und Barbarei im "Osten" die neue Ära der westlichen Vernunft in ein umso helleres Licht tauchte.
Nach 1917 fungierte dann die Sowjetunion als Projektionsfläche unterschiedlichster politischer Bewegungen und den Zyklen ihrer Identitätskonstruktionen: Intellektuelle aus Asien und Afrika sahen sich in ihrem Kampf gegen die westliche Kolonialpolitik durch die Unterstützung der in Moskau ansässigen Kommunistischen Internationale (Komintern) bestärkt.
Die zyklische Reproduktion solcher identitätsrelevanten Bilder und Bezugnahmen auf Russland und die Sowjetunion bilden den Resonanzraum, in dem wir die Attribute "sowjetisch" und "postsowjetisch" im politischen Sinne weiterhin verwenden. Sie kommen besonders in Krisen zum Zuge, wie etwa während der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014. Jenseits des Mobilisierungseffektes innerhalb der russischen Gesellschaft schufen sie auch Klarheit und Einheit im "Westen". Dieser war sich zu dem Zeitpunkt unschlüssig über seine Rolle im eskalierenden Bürgerkrieg in Syrien, und die EU rieb sich im Streit über den Euro-Rettungsschirm und die Staatsschuldenkrise in Griechenland auf.
In diesem Resonanzraum verschwimmt die Definitionsschärfe des Sowjetischen und Postsowjetischen genauso wie in der Identitätspolitik des Kremls.
Das (Post-)Sowjetische als Erbe
Somit bedienen wir uns dieser Attribute weiterhin, zumal sie auch jenseits vermeintlich klarer politischer Implikationen auch diffusere soziale und kulturelle Konstellationen immer noch am besten umreißen. Dabei sind Politik und Kultur oft genauso schwer voneinander zu trennen wie Tradition von dem, was man als das (post)sowjetische Erbe bezeichnen könnte. "Erbe" ist das spezifische Reservoir an Ereignissen, Erfahrungen und Erinnerungen, die Gesellschaften in ihren Wahrnehmungen, Emotionen, Reflexen und Verhaltensmustern nachhaltig prägen. Es bildet die Grundlage für "Tradition" als selektive Bezugnahme auf die Vergangenheit, geht über sie jedoch hinaus und umfasst damit auch das, was man sich nicht aussuchen kann.
Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im postsowjetischen Raum ist ein Beispiel für die erfolgreiche Mobilisierung dieses Erbes für eine fortgesetzte Traditionsbildung. Während im Westen die Bedrohungsszenarien des Kalten Krieges den entscheidenden Beitrag der Sowjetunion zum Sieg über das "Dritte Reich" aus dem Bewusstsein verdrängten, bildet der "Sieg über den Faschismus" beziehungsweise der "Große Vaterländische Krieg" den emotionalen Schlüssel für eine positive Identifikation mit der Sowjetunion vor wie nach 1991. Bezeichnenderweise wurde der Krieg zu einer Identitätsressource auch für Gruppen, die vor und nach 1945 unter staatlicher Unterdrückung und gesellschaftlicher Exklusion gelitten hatten, noch bevor der Staat überhaupt begann, Kriegserinnerung zu instrumentalisieren.
Ähnlich emotional, aber bislang weniger Teil einer ausgesprochenen Tradition, sind die Erinnerungen an den Systemwechsel und die Erfahrung von Chaos der 1990er Jahre. Das Trauma klingt an etwa in den Apellen von Eltern und LehrerInnen an Kinder und Jugendliche, sich nicht an regimekritischen Demonstrationen zu beteiligen. Die in Ton und Körpersprache enthaltene Angst vor einer Destabilisierung sowie einer Wiederkehr von Gewalt unterlegt die mit Handykameras festgehaltenen Mahnungen eindrücklich. Ähnliche Effekte sind in der Ablehnung etwa des Euromaidans in Russland und dem trotz kremlkritischer Proteste bislang mehrheitlich auf Stabilität zielenden Wahlverhalten zu sehen – beide spiegeln die negative Erfahrung mit den politischen Umbrüchen der Transformationszeit in Russland, die sich dann auch die Berichterstattung der staatlichen Medien zunutze macht.
Vor diesem Hintergrund erscheint die sowjetische Vergangenheit umso attraktiver. Die Erinnerungen an eine im Krieg gewonnene, auf Völkerfreundschaft und Solidarität gebaute Gemeinschaft und Stabilität überdecken die Erfahrungen etwa von ethnischer Diskriminierung und abnehmender sozialer Mobilität in der späten Sowjetunion. Obwohl widersprüchlich, zählen alle diese Elemente zu den Realitäten einer (post)sowjetischen Gesellschaft, deren Heterogenität die Sozial- und Kulturwissenschaften weiterhin beschäftigt. Immerhin schreibt sich das Amalgam aus sowjetischen und postsowjetischen Elementen, das Humphrey in den 1990er Jahren in Burjatien beobachtete, bis heute fort. Referenzen auf offiziell propagierte Ideale und sowjetische Filmklassiker tauchen bis heute in Alltagskonversationen auf und markieren die Sprechenden als Teil derselben Gemeinschaft. Auch wenn Lenin mittlerweile eher selten zitiert wird, prägen vor 1991 erlernte Sprech- und Sichtweisen weiterhin die Verhandlung von Zugehörigkeit, auch im Konflikt. So erntete etwa Alexey Navalny 2017 Spott, als er in einem Fernsehinterview behauptete, Usbeken würden Alexander Puschkin nicht kennen, worauf zahlreiche UsbekInnen mit Rezitationen des Dichters in den sozialen Medien reagierten.