Bis zur Corona-Krise galt in Deutschland eine "Schwarze Null" als Staatsräson. Nach der Finanzkrise hatte die Föderalismuskommission beschlossen, dass Bund und Länder "einen im Grundsatz ausgeglichenen Haushalt aufweisen" müssen.
Heißes Eisen EU-Gemeinschaftsschulden
Das Coronavirus verbreitete sich in der EU zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Erstmals hatte mit Großbritannien Ende Januar 2020 ein Land die Gemeinschaft verlassen, und das künftige Verhältnis war noch ungeklärt. In einigen Mitgliedsländern gab (und gibt) es erhebliche Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit, und in manchen Politikfeldern waren sich die Regierungen entschieden uneins, etwa mit Blick auf den Umgang mit Flüchtlingen. Als immer mehr Menschen an Covid-19 erkrankten, handelten die Staaten zunächst jeder für sich: Sie schlossen unkoordiniert Grenzen, und Regierungen ordneten aus Gründen des Gesundheitsschutzes einschneidende Maßnahmen für Bürger und Teile der Wirtschaft an, was den schwersten Wirtschaftseinbruch der Nachkriegszeit auslöste. Regierungen legten daraufhin Unterstützungsprogramme für Bürger und Unternehmen auf, allen voran Deutschland. Die Bundesregierung pumpte mehr Geld in die eigene Wirtschaft als alle anderen EU-Staaten zusammen. Damit drohten sich die wirtschaftlichen Unterschiede in Europa weiter zu verstärken, wie schon nach der Finanzkrise von 2008.
Um dies zu verhindern, setzten Deutschland und Frankreich mit der "Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Krise" ein entschiedenes Zeichen der Solidarität. Dazu gehörte neben manchen wirtschaftspolitischen Vorschlägen wie einer europäischen Industriepolitik vor allem die Idee für einen Europäischen Wiederaufbaufonds. Mit diesem Vorschlag sprachen sich beide Länder für eine deutliche Erweiterung des EU-Haushalts und für gemeinschaftliche Schulden aus. Das hatte es in einem sehr viel geringeren Umfang schon in den 1970er Jahren als Reaktion auf die Ölkrise gegeben. Jetzt aber sollte die EU-Kommission Kredite bis zu einer Höhe von 500 Milliarden Euro aufnehmen können und mittels Zuschüssen Hilfsprogramme für besonders von der Corona-Krise geschädigte Staaten finanzieren. Einschließlich nationaler Maßnahmen könnten die EU-Mitglieder auf diese Weise Finanzhilfen von mehreren Billionen Euro zusammentragen.
Gemeinschaftliche Schuldenaufnahmen waren stets ein heißes Eisen in der EU. So hatte der damalige Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker 2010 die Einführung von Eurobonds gefordert, war mit der Idee aber unter anderem an der schwarz-gelben Bundesregierung gescheitert. Diese sah die Gefahr, dass einzelne Staaten weniger solide wirtschaften könnten, wenn das Zinsrisiko vergemeinschaftet würde. Dagegen hielten Spitzenpolitiker der SPD damals eine "begrenzte Einführung von Anleihen" für eine sinnvolle Maßnahme.
Auf Widerstand stieß allerdings bei einigen Regierungen auch die Vorstellung von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel, einen Großteil des Geldes des Wiederaufbaus als Zuschüsse zu gewähren, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Gegenwehr kam vor allem von jenen Staaten, die als die "geizigen Vier" von sich reden machten. Österreich, Dänemark, Niederlande und Schweden sind allesamt Nettozahler in der EU, sie zahlen also in den Haushalt mehr ein als sie herausbekommen.
Man wolle keine "Schuldenunion durch die Hintertür", begründete Österreichs Kanzler Sebastian Kurz den Widerstand.
Im Deutschen Bundestag begrüßten bei einer Aktuellen Stunde im Mai 2020 grundsätzlich alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD einen solchen Aufbaufonds. Andreas Jung (CDU/CSU) warb für den Fonds als gemeinsame europäische Antwort auf die Pandemie. Man brauche europäische Solidarität in dieser Krise, "weil es uns nicht kalt lassen kann, wenn unsere Partner unverschuldet betroffen sind". Markus Töns (SPD) sprach von der größten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, auf die reagiert werden müsse, "national und europäisch". Fabio De Masi (Die Linke) mahnte im Gegenzug für den Fonds mehr Steuergerechtigkeit an, "Multis" wie Amazon sollten etwa angemessene Steuern zahlen. Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen) forderte, den Klimaschutz zum "Herzstück" des Wiederaufbaufonds zu machen. Alexander Graf Lambsdorff (FDP) machte deutlich, dass ein solches EU-Hilfsprogramm bei der Europäischen Investitionsbank besser aufgehoben sei. Das Paket schaffe überdies nicht nur neue Haushaltsrisiken für den Bundeshaushalt, es würde auch eine wesentliche Neuordnung der Finanzverfassung der EU darstellen, die man nicht en passant beschließen könne. Peter Boehringer (AfD) warf hingegen die Frage auf, ob man bei diesem Vorhaben noch von "Eurobonds durch die Hintertür" oder nicht besser von der Vordertür sprechen solle. Der Kommissionsvorschlag stelle das nationale Budgetrecht zur Disposition.
Die "geizigen Vier" stimmten am Ende dem Wiederaufbaufonds zu, nachdem das Verhältnis von Zuschüssen und Krediten geändert worden war: Am Ende bestand das Wiederaufbauprogramm aus Zuschüssen in Höhe von 390 statt 500 Milliarden Euro. Hinzu kamen Kredite in Höhe von 360 statt 250 Milliarden Euro. Bei der Verteilung der Mittel soll bei einer ersten Tranche die Arbeitslosigkeit in den Mitgliedsländern im Zeitraum von 2015 bis 2019 entscheidend sein, bei einer zweiten Tranche der Verlust an Wirtschaftsleistung in der Corona-Krise. Die EU-Kommission nimmt dafür gemeinsame Schulden an den Finanzmärkten auf, die sie bis 2058 abbezahlen soll. Dafür bewilligten die EU-Mitglieder der Kommission auch neue Einnahmeinstrumente wie eine Abgabe auf Plastikmüll, eine Digitalsteuer sowie eine Einfuhrgebühr auf Produkte aus Drittstaaten mit geringeren Umweltauflagen. So soll verhindert werden, dass die Beiträge der Mitgliedsländer steigen.
Anders als bei Eurobonds haften die Mitgliedsländer nur mit ihrem generellen Anteil am EU-Haushalt, also Deutschland beispielsweise mit 27 Prozent. Damit muss Deutschland langfristig 202,5 Milliarden des 750 Milliarden schweren Pakets bezahlen. Kommt der Fonds tatsächlich, handelt es sich hierbei um eine neue Dimension der Umverteilung in Europa und um eine "große Innovation".
Schuldenbremse generell lockern
Bereits Anfang 2020, also noch vor der Corona-Pandemie in Deutschland, dachte das Bundesfinanzministerium über eine Lockerung der nationalen Schuldenbremse nach, um überschuldeten Kommunen helfen zu können. Der Bedarf vieler Kommunen an Finanzhilfen ist offensichtlich: Viele Gemeinden können ihre Aufgaben nur noch verwalten und kaum mehr politisch gestalten. Für den Bau oder die Sanierung von Gebäuden und Straßen fehlt häufig das Geld. Gleichzeitig bekommt der Bund Geld geschenkt, wenn er Kredite aufnimmt, da seine Schuldner Negativzinsen akzeptieren. Und so prüfte die Grundsatzabteilung des Bundesfinanzministeriums ein Konzept, das es dem Bund erlauben würde, neue Schulden im Umfang von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu machen, was rund 35 Milliarden Euro jährlich entsprechen würde. Anstelle des Staates sollten allerdings öffentliche Unternehmen oder Investitionsfonds diese Schulden machen, weil sie nicht unter die Regelungen der Schuldenbremse fallen. Solche Konstruktionen wählen Staaten regelmäßig, um sich aus den Zwängen selbst verordneter Schuldenbremsen zu befreien. Wie sinnvoll kann eine Schuldenbremse aber sein, wenn ein Staat ihretwegen dringende Investitionen nicht tätigt? Die Mängel in der öffentlichen Infrastruktur sind allerorten sichtbar: marode Schulen und Brücken, fehlendes schnelles Internet und eine Bundeswehr, der an allen Ecken und Enden Material fehlt. Quer durch die Republik arbeiten zudem zu wenige Menschen im öffentlichen Dienst, weswegen es vielerorts nur schleppend vorangeht mit Bauanträgen, bei der Verfolgung von Steuersündern oder auch der Nachverfolgung von Corona-Fällen durch die Gesundheitsämter in Zeiten der Pandemie.
Allerdings schränken hohe Staatsdefizite den Handlungsspielraum von Regierungen ein. Je höher der Anteil von Zins und Tilgungsleistungen eines Haushaltes ist, umso geringer ist der Spielraum für politische Maßnahmen, die Geld kosten. Hier gab es in den vergangenen Jahren eine deutliche Fehlentwicklung. Bereits 2012 monierte der Politikwissenschaftler Wolfgang Streeck, dass die Politik immer weniger Möglichkeiten habe, "gestaltend aktiv zu werden". Auf der Einnahmenseite mache sich vor allem bemerkbar, dass seit den späten 1980er Jahren die Steuereinnahmen in den reichen Demokratien stagnierten. Grund dafür sei, dass es zwischen den Staaten einen immer stärkeren Wettbewerb um niedrige Steuersätze gebe, vor allem mit Blick auf hohe Einkommen. Auf der Ausgabenseite komme hinzu, dass die Anforderungen der entwickelten Gesellschaften an staatliche Tätigkeiten reparierender und investierender Art in vielen Bereichen zunehme.
3.000 Euro kostete jeden Bundesbürger die Rettung von Finanzinstituten, die in der Finanzkrise in eine Schieflage gerieten. Insgesamt betrugen die Garantien und Hilfen für Eigenkapitalspritzen mindestens 59 Milliarden Euro. Hinzu kamen indirekte Kosten der Bankenkrise, also etwa solche für Kurzarbeit und Konjunkturpakete oder Hilfen für Eurokrisenländer.
Streit vorprogrammiert
Wer die Schuldenbremse lockern will, verweist oft auf fehlende Investitionen. Allerdings fehlen dafür laut Bundesrechnungshof die empirischen Belege, zumindest was Bund und Länder anbelangt. Denn im Schnitt sei die durchschnittliche Investitionsquote im Bundeshaushalt im Zeitraum von 2011 bis 2020 mit 11,7 Prozent gegenüber der vorherigen Dekade (9,4 Prozent von 2001 bis 2010) sogar signifikant (um fast ein Viertel) gestiegen. Zwar sei die Quote in der vorherigen Dekade mit 13,4 Prozent höher gewesen, dies habe aber vor allem an dem außergewöhnlichen Investitionsbedarf für den Aufbau Ost gelegen. Derzeit werden nicht einmal die vorgesehenen Investitionsmittel abgerufen, rund zehn Milliarden blieben in den Haushalten 2018 und 2019 ungenutzt. Allerdings liegt dies auch daran, dass der Staat vorher zu sehr gespart hat, unter anderem am Personal: Wenn in den Bauämtern Fachleute fehlen, dauert es eben länger, bis eine Baugenehmigung erteilt wird.
Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man den gesamten Staat einschließlich der Kommunen betrachtet. Zwar haben Bund und Länder seit 2003 netto mehr investiert, aber das ging mit "teilweise deutlich negativen Netto-Investitionen der Kommunen einher", so der keynesianische Ökonom Peter Bofinger: "Die Substanz des kommunalen Sachvermögens verkommt, was als Ursache für die Unzufriedenheit vieler Bürger mit der Politik angesehen werden kann."
"Die Politik steht in der Pflicht, den Industriestandort Deutschland zu bewahren und zu verbessern, um dauerhaft Wohlstand und Beschäftigung zu sichern", so BDI-Präsident Dieter Kempf. Der Staat müsse dort investieren, wo sich privatwirtschaftlicher Ausbau nicht lohne. Als Schwerpunkte nannte er den Breitbandausbau, die Verkehrsinfrastruktur sowie Investitionen in den tiefgreifenden Umbau der Volkswirtschaft für den Schutz des Klimas. "Sonst setzen wir den Wohlstand kommender Generationen aufs Spiel." Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann erklärte, dass ein Investitionsprogramm ohne Weiteres finanzierbar sei, wenn selbst auferlegte Schuldenregeln flexibilisiert oder Ausnahmen genutzt würden.
Wegen des neuartigen Coronavirus setzte die Bundesregierung die Schuldenbremse für 2020 und 2021 aus, wie es das Grundgesetz in einer "außergewöhnlichen Notsituation" erlaubt (Artikel 115 GG). Niemand müsse sich aber deswegen um die Stabilität des Landes sorgen, so der Ökonom Jens Südekum: Der Anteil der Schulden an der Wirtschaftsleistung bleibe auch dann im internationalen Vergleich gering.
Die Bundesregierung ihrerseits will von 2022 bis 2024 die Schuldenbremse wieder einhalten. Eine "Schwarze Null" werde man aber wohl nicht vor 2025 erreichen, so der CDU-Haushaltsexperte Eckhardt Rehberg. Die Folgen der Krise werden noch lange im Haushalt zu spüren sein. Greift die Schuldenbremse, dann dürfte der Bund von 2022 bis 2024 nur zwischen fünf und zehn Milliarden Euro an Krediten aufnehmen. Es ist fraglich, ob das ausreichen wird. Damit sind nach der nächsten Bundestagswahl Diskussionen über Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen vorprogrammiert. Wer beides verhindern will, müsste die Schuldenbremse des Grundgesetzes lockern. Das Thema ist noch lange nicht vom Tisch.