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Wie stark kann sich Deutschland verschulden? | Schwarze Null | bpb.de

Schwarze Null Editorial Die "Schwarze Null" ist Geschichte. Aber hat sie eine Zukunft? Politisiertes Sparen und die Europäische Zentralbank. Zur politischen Ökonomie der geldpolitischen Debatte in Deutschland Sparen – eine deutsche Obsession? "Werde ein guter Staatsbürger". Zur Politisierung der Sparsamkeit im 20. Jahrhundert Wie stark kann sich Deutschland verschulden? Finanzielle Repression als Mittel der Staatsentschuldung Schuldenbremse ausgebremst. Die politische Debatte über Sinn und Unsinn einer Schuldengrenze

Wie stark kann sich Deutschland verschulden? Finanzielle Repression als Mittel der Staatsentschuldung

Britta Kuhn

/ 15 Minuten zu lesen

Deutschlands kumulierte Staatsverschuldung lag vor Ausbruch der Corona-Krise knapp unter 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Dieses Jahr erwartet der Internationale Währungsfonds (IWF) eine Staatsverschuldung von 69 Prozent. Ist das schlimm? Oder ist es gar nicht der Rede wert und eine wichtige Voraussetzung für künftiges Wirtschaftswachstum? Wer wird letztlich dafür bezahlen? Oder geht es auch "kostenlos"? Auf diese Fragen gibt es keine einfachen und gleichzeitig seriösen Antworten. Denn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen unterscheiden sich selbst zwischen Industrienationen stark. Vor allem Japan fällt aus dem Rahmen: Trotz einer Schuldenquote von über 250 Prozent des BIP steht das Land nicht vor dem Staatsbankrott. Es gibt nämlich verschiedene Varianten, Schulden abzubauen, darunter die weniger bekannte der "finanziellen Repression", wie sie in Japan Anwendung findet. Ob Japan für Deutschland und andere Länder als Vorbild taugt, ist aber eine offene Frage. Vor allem in Deutschland genießen die Maastrichter Verschuldungsgrenzen und die "Schwarze Null", also ein ausgeglichener Haushalt, hohes politisches Gewicht.

Tragfähigkeitskontroverse

Staatsschulden in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, 2007 versus 2020. (© Internationaler Währungsfonds, Gross Debt Position, Fiscal Monitor, April 2020, eigene Darstellung)

Der Anteil staatlicher Kredite am BIP ist in reichen Ländern seit 2007, dem Beginn der Finanzkrise, von durchschnittlich 72 auf geschätzt 122 Prozent in diesem Jahr gewachsen (Abbildung). Uneinigkeit besteht darüber, ob es Obergrenzen für Regierungskredite geben sollte – oder ob umgekehrt mehr Staatsverschuldung nicht vielleicht hilfreich sein könnte.

Eine einflussreiche empirische Studie versuchte 2010 zu zeigen, dass Staatsschulden jenseits der 90 Prozent in der Regel das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen. Allerdings wurden den Autoren, der Ökonomin Carmen Reinhart und ihrem Kollegen Kenneth Rogoff, methodische Fehler nachgewiesen, die die Aussagekraft der Studie relativierten. So ließ sich für die Jahre 1946 bis 2009 mit den replizierten Daten nicht mehr grundsätzlich nachweisen, dass jenseits der 90-Prozent-Marke das Wirtschaftswachstum eines Landes tatsächlich leidet. Für periodenweise Austerität, also staatliche Sparsamkeit in wachstumsstarken Zeiten, sprach hingegen eine andere Arbeit: 2018 konnten die Ökonomen Christina und David Romer nachweisen, dass geld- und fiskalpolitischer Spielraum die BIP-Einbrüche infolge von Finanzkrisen deutlich dämpft, unter Umständen von fast 10 auf unter ein Prozent.

Kritiker von Austerität halten diese jedoch für schädlich und führen langfristig niedrige Wachstumsraten in reichen Volkswirtschaften wie Japan oder den europäischen OECD-Staaten an. Dort würde, so die These, zu wenig investiert und zu viel gespart. Vielmehr müsste durch staatliche Infrastruktur- und zusätzliche Privatinvestitionen die Inlandsnachfrage gestärkt werden, um eine dauerhafte, "säkulare" Stagnation abzuwenden. Angesichts niedriger Zinsen, hoher Kapitalexporte und offensichtlich veralteter Infrastruktur hat diese traditionell keynesianische Argumentation in jüngster Zeit auch in Deutschland Zulauf von ordnungspolitischer Seite bekommen. Spätestens seit der Corona-Pandemie ist das Schlagwort "säkulare Stagnation" in aller Munde.

Staatsverschuldung im Vergleich

Schon die Kritiker der 90-Prozent-Grenze hatten darauf verwiesen, dass der Zusammenhang zwischen öffentlicher Schuld und Wachstum vom Zeitraum und vom jeweiligen Staat abhängt. Die Beispiele USA, Deutschland, Japan, Griechenland und Italien stützen diese Sicht.

Der US-Dollar etwa gilt auf den Finanzmärkten als "sicherer Hafen". Deshalb kauft nahezu alle Welt US-Staatsanleihen – allen voran China. Zwar wird diese Leitwährungsfunktion schon lange kritisiert. Solange sich aber kein Gegenvorschlag am Markt durchsetzt, bleibt die Diskussion über sie akademisch. Washington profitiert von einem ebenso hervorragenden Länderrating wie Berlin. Da der US-Schuldenstand aber fast doppelt so hoch ist wie der deutsche, müssen die USA auf Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit (geringfügige) Zinsen zahlen. Die deutsche Regierung hingegen erhält für Darlehen eine Prämie ihrer Kreditgeber. Warum aber akzeptieren Anleger negative Renditen – und das, wo der Euro vom US-Währungsprivileg weit entfernt ist?

Bei diesen Anlegern handelt es sich erstens um deutsche Kleinanleger. Sie handeln vergleichsweise risikoavers, meiden also Immobilien und Unternehmensbeteiligungen wie Aktien oder Wagniskapital. Offenbar befürchten sie platzende Preisblasen an diesen Märkten, halten aber einen deutschen Staatsbankrott für ausgeschlossen. Zweitens handelt es sich um große ausländische Anleger. Diese suchen weitere sichere Häfen neben den USA, zum Beispiel für Rentenfonds oder "Fluchtgelder". Drittens investieren hier inländische institutionelle Anleger wie Versicherungen, die umfangreiche Vermögensanteile möglichst sicher anlegen müssen.

Japans Regierungskredite wiederum werden vor allem von der eigenen Bevölkerung und der heimischen Notenbank finanziert. Beide zusammen hielten schon 2019, als die Schuldenquote noch 237 Prozent betrug, über 200 Prozentpunkte dieser Darlehen, allein die Bank of Japan 85 Prozentpunkte. Japans Bevölkerung, die älteste der Welt, bringt ihrem Staat offenbar großes Vertrauen entgegen. Die japanische Geldpolitik ist so expansiv wie in keinem anderen reichen Land. Italien und Griechenland hingegen leiden schon deshalb unter einem schlechteren Rating als Japan, weil sie keine eigene Währung haben. Sie können die Schulden deshalb nicht einfach monetarisieren. Das gilt zwar auch für Deutschland, doch wird auf dem globalen Kapitalmarkt mit Blick auf Italien und Griechenland nicht ausgeschlossen, dass sie eines Tages den Euro verlassen (müssen). Ihre neuen Währungen würden abwerten, und die Euro-Schulden müssten dann wohl ganz oder teilweise abgeschrieben werden. Deutschland dagegen wäre in einer Eurokrise ein sicherer Hafen.

Grundvarianten des Schuldenabbaus

Grundsätzlich gibt es vier Wege, Staatsverschuldung zurückzuführen: den Zahlungsausfall, Austerität, Realwachstum und die sogenannte finanzielle Repression.

Zahlungsausfall

Ein Zahlungsausfall reicht von der vollständigen Zahlungsunfähigkeit eines Staates über Schuldenschnitte, also Abschreibungen zwischen 0 und 100 Prozent, bis zu einer Stundung beziehungsweise Umschuldung, die kurze wie lange Zeiträume umfassen kann. Den (teilweisen) Staatsbankrott nutzten in den vergangenen Jahrzehnten vornehmlich Schwellen- und Entwicklungsländer zum Schuldenabbau – Griechenland stellte als Euro-Mitgliedsland eine wesentliche Ausnahme dar. Der jüngste prominente Fall betraf 2020 Argentinien. Da es sich nicht um den ersten Zahlungsausfall des Landes handelte, wird Argentinien auf dem globalen Kapitalmarkt misstraut. Länder mit Ausfallhistorie müssen für neue Schulden generell mehr am Kapitalmarkt bezahlen, was ihre Position weiter schwächt. Ferner bergen Zahlungsausfälle Risiken für die Finanzmarktstabilität. Halten nämlich systemrelevante Geschäftsbanken erhebliche Teile der Kredite, droht ihnen selbst der Konkurs. Sie müssen dann rekapitalisiert werden – zum Beispiel durch internationale Kreditgeber oder Zentralbanken.

Austerität und Realwachstum

Ergreift eine Regierung Austeritätsmaßnahmen, dann greift sie aktiv in den Wirtschaftskreislauf ein, indem sie ihre Ausgaben senkt und/oder die Steuern erhöht. Unter sonst gleichen Umständen verringert sich dadurch ihr Schuldenstand. In wirtschaftlich guten Zeiten wirkt diese Konsolidierungspolitik antizyklisch wie im Lehrbuch des Keynesianismus. In der politischen Praxis ist sie aber oft unrealistisch. So wurde etwa in Deutschland während der vergangenen Boomjahre wenig über Vermögens- und CO2-Steuern oder Rentenkürzungen diskutiert, hingegen viel über höhere Staatsausgaben und Steuersenkungen. Das geringe Interesse an Konsolidierung liegt unter anderem am betagten deutschen Medianwähler, dem höhere Renten wichtiger sind als eine Konsolidierung der Staatsfinanzen. Zudem scheint Austerität empirisch nur über sinkende Staatsausgaben zu funktionieren, nicht aber über Steuererhöhungen. In Zeiten des Realwachstums lassen sich Schulden aber auch automatisch senken: So erzielte Deutschland dank niedriger Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren sensationell hohe Steuereinnahmen bei gleichzeitig niedrigen Sozialtransfers. Auch ohne Austerität sank dadurch die Staatsverschuldung zwischen Finanz- und Corona-Krise von rund 80 auf etwa 60 Prozent.

Finanzielle Repression

Der Begriff der "finanziellen Repression" steht für einen schleichenden Ersparnisverlust durch negative Realzinsen. Der Nominalzins liegt in einem solchen Fall also unter der Inflationsrate. Oder anders formuliert: Das nominale BIP-Wachstum ist höher als der Nominalzins, sodass die Regierung sozusagen ohne Anstrengung aus den Schulden "herauswächst". Diese Entschuldungsoption betrieben zwischen 1945 und 1980 viele Länder mit großem Erfolg. Damals waren erstens die Inflationsraten wesentlich höher als heutzutage. Zweitens schlossen Kapitalverkehrskontrollen und weitere Regulierungen attraktivere Investments oft aus. Seit der Liberalisierung der globalen Finanzmärkte ab 1990 wird finanzielle Repression eher durch geldpolitische als durch regulatorische Maßnahmen verfolgt. So schlug zum Beispiel schon während der Finanzkrise der damalige IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard vor, das Inflationsziel von den verbreiteten 2 auf 4 Prozent zu erhöhen. Die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bank of Japan erreichen aber schon kaum das Ziel von 2 Prozent. Dafür müsste ihre Geldpolitik deutlich lockerer werden, bis hin zu dauerhaft und substanziell negativen Nominalzinsen, die eine finanzielle Repression sogar bei Preisstabilität oder Deflation ermöglichen. Negative Nominalzinsen machen den schleichenden Ersparnisverlust aber besonders offensichtlich: Die Menschen würden als Reaktion verstärkt Bargeld horten; ein Erfolg der Strategie wäre aber nur ohne größere Bargeldmengen denkbar.

Aber liefe finanzielle Repression nicht auf unerwünschte Umverteilung von unten nach oben hinaus? Kauft eine Zentralbank in großem Stil Regierungskredite und behält sie diese dauerhaft, dann überschreiten die Anleihekurse ihren Marktwert. Entsprechend sinkt die Rendite dieser Darlehen unter die Marktkondition. Der Staat kann sich dadurch billiger und umfassender verschulden als am privaten Kapitalmarkt. Das wiederum entlastet die Steuerzahler, also in Systemen mit Steuerprogression vor allem höhere Einkommen. Dagegen leiden Sparer, die sich keine Aktien und Immobilien leisten können oder wollen, also vor allem die Bezieher niedriger Einkommen. Denkt man allerdings an die Vermögensdiskussion der vergangenen Jahre, könnte ein schleichender Ersparnisverlust die Welt durchaus auch gerechter machen: So führte der Verteilungsspezialist Thomas Piketty die starke Vermögenskonzentration der vergangenen Jahrzehnte darauf zurück, dass die Kapitalerträge das Wirtschaftswachstum übertroffen hätten. Finanzielle Repression würde die Verhältnisse umkehren: Die Rendite läge unter dem Wirtschaftswachstum. Die gesellschaftlichen Wohlfahrtsverluste durch öffentliche Darlehen wären also geringer als häufig angenommen.

Finanzielle Repression im Euroraum?

So politisch attraktiv eine scheinbar kostenlose Staatsverschuldung auch klingt, aus deutscher Perspektive ergeben sich folgende, eng miteinander zusammenhängende Fragen: Steigt die Inflation? Bleiben die Zinsen niedrig? Wie entwickelt sich das BIP? Und lässt sich finanzielle Repression hier politisch ohne Weiteres umsetzen?

Inflation

Die Geldpolitik im Euroraum ist seit der Finanzkrise immer expansiver geworden. Entsprechend explodierte die Zentralbankbilanz zwischen Juli 2007 und Juli 2020 von umgerechnet 1,7 auf 7,5 Billionen US-Dollar. Müsste es angesichts solcher Ausgaben nicht längst Inflation geben? Deutschlands Inflationsrate lag zwischen 2010 und 2019 durchschnittlich bei 1,3 Prozent. Entsprechend niedrig waren auch die Inflationserwartungen: Sie blieben im gesamten Euroraum in den vergangenen Jahren dauerhaft unter 2 Prozent. Auch die Corona-Pandemie dürfte wenig an der niedrigen Inflation ändern, da die Krise sowohl preissteigernde als auch preissenkende Folgen hat.

Zinsen

Bei dauerhaft niedriger Inflation benötigt finanzielle Repression niedrige oder negative Nominalzinsen, um wirken zu können. Tatsächlich existieren im Euroraum seit 2014 negative Leitzinsen – etwa ein Strafzins für kurzfristige Einlagen von Kreditinstituten bei ihrer Zentralbank von derzeit 0,5 Prozent. Die Realzinserwartungen erreichen sogar schon seit der Finanzkrise negative Werte. In der Fachwelt herrscht ein ungewohnt breiter Konsens darüber, dass die Nominalzinsen für Länder wie Deutschland dauerhaft niedrig, null oder negativ bleiben dürften. Nur die Begründungen für dieses Niedrigzinsumfeld unterscheiden sich.

Wachstum

Mit Blick auf die Entwicklung des BIP stellt sich aber die Frage, ob finanzielle Repression das Produktivitätswachstum hemmen würde. Diese Befürchtung leiten Kritiker meist aus Erfahrungen der Nachkriegszeit ab. Härter formuliert: "Der mit der ultra-lockeren Geldpolitik einhergehende graduelle Fall der Produktivitätsgewinne und die Zunahme der Zahl von Zombie-Unternehmen in den großen Industrieländern erinnern bereits heute an die Periode der finanziellen Repression und Stagnation in den ehemaligen Planwirtschaften Mittel- und Osteuropas." Die Gegenthese lautet, dass die Weitergabe negativer Einlagezinsen von Banken an Unternehmenskunden die wirtschaftliche Aktivität im Euroraum sogar stimuliert hat: Dank Strafzins hätten die Unternehmen ihre Bargeldbestände verringert und stattdessen mehr investiert. Wachstumssimulationen des Eurosystems, die sich auf die Finanzpolitik konzentrieren, kommen allerdings zu anderen Ergebnissen: Langfristig hohe Staatsschulden verschlimmern demnach die BIP-Verluste in künftigen Krisen und weit darüber hinaus.

Umsetzungsperspektiven

Finanzielle Repression ist intransparenter als andere Entschuldungsvarianten. Das macht sie im politischen Prozess zunächst attraktiv. Allerdings stößt die expansive Geldpolitik des Eurosystems in Deutschland längst auf juristischen und politischen Widerstand – siehe etwa die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder die Gründung der AfD während der sogenannten Eurokrise. Zwar plädieren vor allem ausländische Ökonomen in deutschen Medien dafür, das Mandat der Europäischen Zentralbank umfassend zu erweitern; auch hat die EZB in der Coronakrise mit PEPP, dem Programm zur Pandemie-Bekämpfung, einen großen Schritt in Richtung finanzielle Repression gemacht. Die unkonventionellen Lockerungen bleiben aber rechtlich und politisch riskant.

Vorbild Japan?

Zwischen 1990 und 2019 wuchs das BIP in Japan real um 32 Prozent – und damit noch weniger als in Deutschland mit 53 Prozent im gleichen Zeitraum. Zum Vergleich: Die USA verdoppelten ihre inflationsbereinigte Wertschöpfung (+103 Prozent), China vervierzehnfachte sie (+1293 Prozent). Japans Inflation erreichte in den vergangenen zehn Jahren durchschnittlich 0,5 Prozent, in vier Jahren herrschte sogar Deflation. Diese Kombination einer fast stagnierenden Wirtschaftsleistung mit Verbraucherpreisen, die zeitweise sogar sinken, gilt als beispielloses Alarmsignal. Denn ohne Wachstum und Inflation droht eine Abwärtsspirale, die auch die Entschuldung über finanzielle Repression erschwert. Oft wird die ultraexpansive Geldpolitik der Bank of Japan für die Misere verantwortlich gemacht. Gerade sie habe Wachstum und Inflation gedämpft. Nach dieser Lesart kann Geldpolitik nicht sämtliche Strukturprobleme lösen, die aus einer immer älter werdenden Bevölkerung folgen. Ältere Menschen erzeugen zwar Nachfrage, aber kaum "disruptive" Innovationen oder sonstige Produktivitätszuwächse auf der Angebotsseite. Dennoch ahmen das Eurosystem und andere Zentralbanken die japanische Geldpolitik vielfach nach.

In Japan gab es schon 1999 erstmals Leitzinsen von null Prozent. Ab 2001 kaufte die Zentralbank außerdem Regierungsanleihen. Einen Ausstiegsversuch aus dieser Politik ab 2006 beendete die Finanzkrise, 2010 sank der Zentralbankzins wieder auf null Prozent. Neben Staatsanleihen kauft die Bank of Japan seither auch Unternehmensschulden, ETFs und REITs. 2013 stieg das Inflationsziel der Währungshüter von einem auf zwei Prozent. Außerdem weiteten sie den Ankauf staatlicher und privater Wertpapiere drastisch aus. 2016 startete die Kontrolle der Zinskurve: Hierbei kauft die Zentralbank sowohl kurz-, als auch langfristige Staatsanleihen, um die Renditen über alle Laufzeiten in den von ihr gewünschten Korridor zu bringen. Nur negative Nominalzinsen führte Japan später als der Euroraum ein, nämlich erst Anfang 2016.

Sollte also auch die Europäische Zentralbank ETFs und REITs erwerben und die Renditen von Staatsanleihen kontrollieren? Durch ETF-Käufe übernähme die EZB indirekt Aktien, also Unternehmenskapital. Zwar hätte Karl Marx Freude an dieser schrittweisen Verstaatlichung der Produktionsmittel. Auch ist die Bilanzsumme des Eurosystems seit 2007 "nur" um den Faktor 4,4 gewachsen gegenüber einem Faktor 7 in Japan und 8,6 in den USA. Relativ zum BIP liegen die Forderungen der Bank of Japan aber heute schon bei 102 Prozent. Problematisch wird dies bei Firmenpleiten: Dann halten die Währungshüter entweder "Zombie-Werte" in der Bilanz oder schreiben ihre Außenstände ab. Das bedeutet, sie müssen rekapitalisiert werden – aus Regierungseinnahmen oder durch Geldschöpfung, wobei die monetäre Finanzierung billiger, aber weniger vertrauensbildend wäre. Überdies ist fraglich, ob Notenbanken bessere Unternehmen hervorbringen als der private Kapitalmarkt. Auch ist weitgehend unklar, ob die EZB überhaupt ETFs kaufen dürfte und ob die nationalen Marktsegmente dafür nicht viel zu fragmentiert sind. Dies gilt verstärkt auch für REITs.

Bei einer Kontrolle der vielen nationalen Renditekurven im Euroraum müsste die EZB beispielsweise mit gewichteten Durchschnitten arbeiten. Rein technisch ähnelt PEPP dieser Politik bereits, denn das monatliche Kaufvolumen hat die Notenbank offengelassen, und die bisherige Bindung der Anleihekäufe an nationale Kapitalschlüssel fehlt. Dürfte das Eurosystem also bei stark steigenden Renditen unlimitiert Staatsanleihen eines oder aller Euroländer kaufen? Bisher lag die Grenze hierfür bei 33 Prozent der öffentlichen Außenstände je Land. Bei supranationalen Kreditnehmern wie der EU gelten aber schon 50 Prozent als Grenze, weshalb die EZB vermutlich zunächst auf die neuen Milliardenkredite der Europäischen Union zurückgreifen wird. Eine wirklich glaubwürdige Politik der Zinskurvenkontrolle bräuchte aber wohl unlimitierte Kaufprogramme. Ob dies politisch und rechtlich durchzusetzen ist, scheint heute mehr als fraglich.

Fazit

Seit der Coronakrise steigt Deutschlands Staatsverschuldung wieder. Im internationalen Vergleich ist sie aber immer noch niedrig. Zwar hat sich die Politik zumindest kurzfristig von der Idee der "Schwarzen Null" verabschiedet, die größte Volkswirtschaft Europas genießt aber nach wie vor ein Spitzenrating und sehr günstige Finanzierungsbedingungen an den Finanzmärkten. Aus diesem Grund wären auch hierzulande dauerhafte Staatsschuldenquoten jenseits von 60 oder sogar über 90 Prozent unproblematisch. Aber könnten sich diese Verbindlichkeiten ohne bemerkenswerte gesellschaftliche Kosten quasi von selbst finanzieren? Dies glauben zumindest die Befürworter der finanziellen Repression. Diese führt durch negative Realzinsen zu einem schleichenden Ersparnisverlust der privaten Gläubiger. Die staatlichen Schuldner investieren das Geld in heimische Infrastrukturprojekte und kurbeln so das Wachstum dauerhaft an. Eine Schlüsselrolle spielt hierbei eine ultralockere Geldpolitik, als deren Vorreiter Japan gilt.

Finanzielle Repression funktioniert aber nur, wenn die Nominalzinsen dauerhaft niedrig, Inflation und Wachstum dagegen dauerhaft hoch sind. Niedrige Zinsen und höhere Inflationsraten begünstigt die Europäische Zentralbank zwar schon lange. Allerdings reicht ihr geldpolitisches Instrumentarium (noch) längst nicht so weit wie das der Bank of Japan. Die rechtlichen und politischen Risiken weiterer Lockerungen sind zudem hierzulande ungleich höher. Viel schwerer wiegt aber die wirtschaftliche Stagnation und die Deflationsgefahr, die Japan seit langem begleiten. Es ist deshalb unklar, ob der japanische Weg ökonomisch überhaupt erfolgreich war. Auch die expansivste aller Geld- und Schuldenpolitiken konnte strukturelle Veränderungen dort nicht ersetzen. Ein ähnliches "Schicksal" könnte auch Deutschland drohen, das schon heute fast so alt und wachstumsschwach ist wie Japan. Schließlich sind die Umverteilungseffekte der finanziellen Repression bislang kaum erforscht. Nicht auszuschließen wäre in Deutschland, dass sie untere Einkommensschichten eher be- als entlastet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl., soweit nicht anders angegeben, für alle Werte zur Staatsschuldenquote in diesem Text Internationaler Währungsfonds, Gross Debt Position, Fiscal Monitor, April 2020.

  2. Vgl. Carmen M. Reinhart/Kenneth S. Rogoff, Growth in a Time of Debt, in: American Economic Review 2/2010, S. 573–578.

  3. Vgl. Thomas Herndon/Michael Ash/Robert Pollin, Does High Public Debt Consistently Stifle Economic Growth? A Critique of Reinhart and Rogoff, in: Cambridge Journal of Economics 2/2014, S. 257–279.

  4. Vgl. Christina D. Romer/David H. Romer, Why Some Times Are Different. Macroeconomic Policy and the Aftermath of Financial Crises, in: Economica 337/2018, S. 1–40.

  5. Lawrence H. Summers, Demand Side Secular Stagnation, in: American Economic Review 5/2015, S. 60–65.

  6. Vgl. z.B. Michael Hüther, 10 Jahre Schuldenbremse: Ein Konzept mit Zukunft?, Institut der deutschen Wirtschaft, IW-Policy Paper 3/2019.

  7. Vgl. z.B. Carl Christian von Weizsäcker et al., Zeitgespräch: Theoriestreit um das Verhältnis von Zins- und Wachstumsrate, in: Wirtschaftsdienst 8/2020, S. 568–585.

  8. Vgl. Herndon/Ash/Pollin (Anm. 3).

  9. Vgl. Sovereigns Ratings List, Fitch Ratings, 11.9.2020, Externer Link: https://countryeconomy.com/ratings.

  10. Vgl. Major 10Y, Yield, 11.9.2020, Externer Link: https://tradingeconomics.com/bonds.

  11. Nur rund 20 Prozent aller Reserven fallen auf den Euro, über 60 Prozent auf den US-Dollar. Vgl. Europäische Zentralbank, The International Role of the Euro, Juni 2020, Chart 2.

  12. Vgl. Maria Ferreira, Cross-country Differences in Risk Attitudes Towards Financial Investment, 21.9.2018, Externer Link: https://voxeu.org/article/cross-country-differences-risk-attitudes-towards-financial-investment.

  13. Vgl. Briefing Covid-19 and Public Finances, in: The Economist, 25.4.2020, S. 14ff.

  14. Vgl. Vereinte Nationen, World Population Prospects 2019. Data Query Median Age of the Total Population (Years), 11.9.2020, Externer Link: https://population.un.org/wpp/DataQuery.

  15. Vgl. David Beers/Elliot Jones/John Walsh, BoC–BoE Sovereign Default Database: What’s New in 2020?, in: Bank of Canada, Staff Analytical Note 13/2020, S. 16f.

  16. Vgl. Vereinte Nationen (Anm. 14).

  17. Vgl. Alberto Alesina/Carlo Favero/Francesco Giavazzi, Effects of Austerity: Expenditure- and Tax-based Approaches, in: Journal of Economic Perspectives 2/2019, S. 141–162.

  18. Daneben drückte das Niedrigzinsumfeld die öffentliche Zinslast, traditionell eine der größten Ausgabenblöcke, auf Tiefststände.

  19. Vgl. Carmen M. Reinhart/M. Belen Sbrancia, The Liquidation of Government Debt, in: Economic Policy 82/2015, S. 291–333.

  20. Vgl. Olivier Blanchard/Giovanni Dell’Ariccia/Paolo Mauro, Rethinking Macro Policy, 16.2.2010, Externer Link: https://voxeu.org/article/rethinking-macro-policy.

  21. Vgl. Kenneth S. Rogoff, The Curse of Cash, Princeton 2017.

  22. Vgl. Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.

  23. Vgl. Olivier Blanchard, Public Debt and Low Interest Rates, in: American Economic Review 4/2019, S. 1197–1229.

  24. Vgl. Michael Ovaska, Central Bank Balance Sheets, Externer Link: https://graphics.reuters.com/GLOBAL-CENTRALBANKS/010041ZQ4B7/index.html.

  25. Vgl. Weltbank, Inflation, Consumer Prices (Annual %), 11.9.2020, Externer Link: https://data.worldbank.org/indicator/FP.CPI.TOTL.ZG?end=2019&start=1997&view=map&year=2019.

  26. Vgl. Robert L. Czudaj, Is the Negative Interest Rate Policy Effective?, in: Journal of Economic Behavior & Organization Juni 2020, S. 75–86, Figure 2.

  27. Zu Details siehe Britta Kuhn, Wer bezahlt die Corona-Krise?, in: WBS-Highlights 2020, S. 24–31, S. 26f.

  28. Vgl. Czudaj (Anm. 26), Figure 1 und 3.

  29. Vgl. z.B. Niedrigzinsen: Warum? Wie lange? Konsequenzen?, Goethe-Universität Frankfurt, 27.2.2020, Externer Link: https://video.uni-frankfurt.de/Mediasite/Play/843748d08fda40cd878bbaf1e144b8501d?catalog=6c41846f63e045a78724822c631753ab21.

  30. Vgl. Andreas Hoffmann, Beware of Financial Repression: Lessons from History, in: Intereconomics 4/2019, S. 259–266.

  31. Ders./Gunther Schnabl, Warum der frühe Ausstieg aus der finanziellen Repression lohnt, in: Wirtschaftsdienst 7/2018, S. 498–503, hier S. 498.

  32. Vgl. Carlo Altavilla et al., Is There a Zero Lower Bound? The Effects of Negative Policy Rates on Banks and Firms, Europäische Zentralbank, Working Paper Series 2289/2019, revised 6/2020. Auch andere empirische Studien schlussfolgern, dass die unkonventionelle Geldpolitik der EZB das BIP beflügelt habe. Vgl. z.B. Czudaj (Anm. 26); Sina Asshoff/Ansgar Belke/Thomas Osowski, Unconventional Monetary Policy and Inflation Expectations in the Euro Area, CEPS Working Document 1/2020.

  33. Vgl. Pablo Burriel et al., Economic Consequences of High Public Debt: Evidence From Three Large Scale DSGE Models, Europäische Zentralbank, Working Paper Series 2450/2020.

  34. Vgl. z.B. Adam Tooze, Urteil des Verfassungsgerichts: Eine neue Rolle für die EZB, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5.7.2020, S. 27.

  35. Vgl. Europäische Zentralbank, Monetary Policy Decisions, Pressemitteilung, 4.6.2020.

  36. Vgl. Weltbank, GDP (Constant 2010 US$), 11.9.2020, Externer Link: https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD?end=2019&most_recent_year_desc=true&start=1960&view=map&year=2019.

  37. Vgl. Weltbank (Anm. 25).

  38. Vgl. Kathrein Capital Management, Die Bilanzsummen der Zentralbanken. Haben die Instrumente der Zentralbanken ihr Limit erreicht?, Dezember 2019, S. 9.

  39. Exchange Traded Funds (ETFs) bilden die Wertentwicklung eines Indizes wie dem Deutschen Aktienindex DAX ab. ETFs bieten vor allem Kleinsparern die Möglichkeit, ihr Vermögen trotz geringen Volumens breit zu streuen. Statt zum Beispiel direkt Aktien zu kaufen, investieren sie in ein sogenanntes Sondervermögen, das seinerseits die Aktien eines Leitindexes wie dem DAX kauft. So erhalten die Kleinanleger indirekt Anteile an allen DAX-Aktien. Real Estate Investment Trusts (REITs) sammeln Kapital, das sie anschließend in Immobilien investieren. REITs bieten ebenfalls die Möglichkeit, statt einer ganzen Immobilie nur (kleinere) Anteile an einem Fonds zu erwerben, der dann seinerseits größere Objekte wie Einkaufszentren finanziert.

  40. Vgl. Niklas Westelius, Twenty Years of Independence. Lessons and Way Forward for the Bank of Japan, Internationaler Währungsfonds, IMF Country Report 20/40, Februar 2020, S. 34–49, hier S. 35–40.

  41. Vgl. Ovaska (Anm. 24).

  42. Vgl. Jakob Blume/Astrid Dörner/Jan Mallien, Das letzte Mittel der Notenbanken, in: Handelsblatt, 3./4./5.7.2020, S. 26f. Zum Vergleich: Eurozone 48 Prozent, USA 35 Prozent.

  43. Vgl. Unprofitable arguments, in: The Economist, 9.5.2020, S. 61.

  44. Vgl. Leoni Wintermantel, Japans aktuelle Geldpolitik – Blaupause für die Europäische Zentralbank in der nächsten Krise?, Bachelorarbeit, Wiesbaden Business School 2019, S. 15–18.

  45. Vgl. Blume/Dörner/Mallien (Anm. 42), S. 27.

  46. Vgl. Jakob Blume, Neue EU-Anleihen, in: Handelsblatt, 3./4./5.7.2020, S. 27.

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ist Professorin für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt International Economics an der Wiesbaden Business School der Hochschule RheinMain. E-Mail Link: britta.kuhn@hs-rm.de