Deutschlands kumulierte Staatsverschuldung lag vor Ausbruch der Corona-Krise knapp unter 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Wie stark kann sich Deutschland verschulden? Finanzielle Repression als Mittel der Staatsentschuldung
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Der Anteil staatlicher Kredite am BIP ist in reichen Ländern seit 2007, dem Beginn der Finanzkrise, von durchschnittlich 72 auf geschätzt 122 Prozent in diesem Jahr gewachsen (Abbildung). Uneinigkeit besteht darüber, ob es Obergrenzen für Regierungskredite geben sollte – oder ob umgekehrt mehr Staatsverschuldung nicht vielleicht hilfreich sein könnte.
Eine einflussreiche empirische Studie versuchte 2010 zu zeigen, dass Staatsschulden jenseits der 90 Prozent in der Regel das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen.
Kritiker von Austerität halten diese jedoch für schädlich und führen langfristig niedrige Wachstumsraten in reichen Volkswirtschaften wie Japan oder den europäischen OECD-Staaten an. Dort würde, so die These, zu wenig investiert und zu viel gespart. Vielmehr müsste durch staatliche Infrastruktur- und zusätzliche Privatinvestitionen die Inlandsnachfrage gestärkt werden, um eine dauerhafte, "säkulare" Stagnation abzuwenden.
Staatsverschuldung im Vergleich
Schon die Kritiker der 90-Prozent-Grenze hatten darauf verwiesen, dass der Zusammenhang zwischen öffentlicher Schuld und Wachstum vom Zeitraum und vom jeweiligen Staat abhängt.
Der US-Dollar etwa gilt auf den Finanzmärkten als "sicherer Hafen". Deshalb kauft nahezu alle Welt US-Staatsanleihen – allen voran China. Zwar wird diese Leitwährungsfunktion schon lange kritisiert. Solange sich aber kein Gegenvorschlag am Markt durchsetzt, bleibt die Diskussion über sie akademisch. Washington profitiert von einem ebenso hervorragenden Länderrating wie Berlin.
Bei diesen Anlegern handelt es sich erstens um deutsche Kleinanleger. Sie handeln vergleichsweise risikoavers,
Japans Regierungskredite wiederum werden vor allem von der eigenen Bevölkerung und der heimischen Notenbank finanziert. Beide zusammen hielten schon 2019, als die Schuldenquote noch 237 Prozent betrug, über 200 Prozentpunkte dieser Darlehen, allein die Bank of Japan 85 Prozentpunkte.
Grundvarianten des Schuldenabbaus
Grundsätzlich gibt es vier Wege, Staatsverschuldung zurückzuführen: den Zahlungsausfall, Austerität, Realwachstum und die sogenannte finanzielle Repression.
Zahlungsausfall
Ein Zahlungsausfall reicht von der vollständigen Zahlungsunfähigkeit eines Staates über Schuldenschnitte, also Abschreibungen zwischen 0 und 100 Prozent, bis zu einer Stundung beziehungsweise Umschuldung, die kurze wie lange Zeiträume umfassen kann. Den (teilweisen) Staatsbankrott nutzten in den vergangenen Jahrzehnten vornehmlich Schwellen- und Entwicklungsländer zum Schuldenabbau – Griechenland stellte als Euro-Mitgliedsland eine wesentliche Ausnahme dar.
Austerität und Realwachstum
Ergreift eine Regierung Austeritätsmaßnahmen, dann greift sie aktiv in den Wirtschaftskreislauf ein, indem sie ihre Ausgaben senkt und/oder die Steuern erhöht. Unter sonst gleichen Umständen verringert sich dadurch ihr Schuldenstand. In wirtschaftlich guten Zeiten wirkt diese Konsolidierungspolitik antizyklisch wie im Lehrbuch des Keynesianismus. In der politischen Praxis ist sie aber oft unrealistisch. So wurde etwa in Deutschland während der vergangenen Boomjahre wenig über Vermögens- und CO2-Steuern oder Rentenkürzungen diskutiert, hingegen viel über höhere Staatsausgaben und Steuersenkungen. Das geringe Interesse an Konsolidierung liegt unter anderem am betagten deutschen Medianwähler, dem höhere Renten wichtiger sind als eine Konsolidierung der Staatsfinanzen.
Finanzielle Repression
Der Begriff der "finanziellen Repression" steht für einen schleichenden Ersparnisverlust durch negative Realzinsen. Der Nominalzins liegt in einem solchen Fall also unter der Inflationsrate. Oder anders formuliert: Das nominale BIP-Wachstum ist höher als der Nominalzins, sodass die Regierung sozusagen ohne Anstrengung aus den Schulden "herauswächst". Diese Entschuldungsoption betrieben zwischen 1945 und 1980 viele Länder mit großem Erfolg. Damals waren erstens die Inflationsraten wesentlich höher als heutzutage. Zweitens schlossen Kapitalverkehrskontrollen und weitere Regulierungen attraktivere Investments oft aus.
Aber liefe finanzielle Repression nicht auf unerwünschte Umverteilung von unten nach oben hinaus? Kauft eine Zentralbank in großem Stil Regierungskredite und behält sie diese dauerhaft, dann überschreiten die Anleihekurse ihren Marktwert. Entsprechend sinkt die Rendite dieser Darlehen unter die Marktkondition. Der Staat kann sich dadurch billiger und umfassender verschulden als am privaten Kapitalmarkt. Das wiederum entlastet die Steuerzahler, also in Systemen mit Steuerprogression vor allem höhere Einkommen. Dagegen leiden Sparer, die sich keine Aktien und Immobilien leisten können oder wollen, also vor allem die Bezieher niedriger Einkommen. Denkt man allerdings an die Vermögensdiskussion der vergangenen Jahre, könnte ein schleichender Ersparnisverlust die Welt durchaus auch gerechter machen: So führte der Verteilungsspezialist Thomas Piketty die starke Vermögenskonzentration der vergangenen Jahrzehnte darauf zurück, dass die Kapitalerträge das Wirtschaftswachstum übertroffen hätten.
Finanzielle Repression im Euroraum?
So politisch attraktiv eine scheinbar kostenlose Staatsverschuldung auch klingt, aus deutscher Perspektive ergeben sich folgende, eng miteinander zusammenhängende Fragen: Steigt die Inflation? Bleiben die Zinsen niedrig? Wie entwickelt sich das BIP? Und lässt sich finanzielle Repression hier politisch ohne Weiteres umsetzen?
Inflation
Die Geldpolitik im Euroraum ist seit der Finanzkrise immer expansiver geworden. Entsprechend explodierte die Zentralbankbilanz zwischen Juli 2007 und Juli 2020 von umgerechnet 1,7 auf 7,5 Billionen US-Dollar.
Zinsen
Bei dauerhaft niedriger Inflation benötigt finanzielle Repression niedrige oder negative Nominalzinsen, um wirken zu können. Tatsächlich existieren im Euroraum seit 2014 negative Leitzinsen – etwa ein Strafzins für kurzfristige Einlagen von Kreditinstituten bei ihrer Zentralbank von derzeit 0,5 Prozent. Die Realzinserwartungen erreichen sogar schon seit der Finanzkrise negative Werte.
Wachstum
Mit Blick auf die Entwicklung des BIP stellt sich aber die Frage, ob finanzielle Repression das Produktivitätswachstum hemmen würde. Diese Befürchtung leiten Kritiker meist aus Erfahrungen der Nachkriegszeit ab.
Umsetzungsperspektiven
Finanzielle Repression ist intransparenter als andere Entschuldungsvarianten. Das macht sie im politischen Prozess zunächst attraktiv. Allerdings stößt die expansive Geldpolitik des Eurosystems in Deutschland längst auf juristischen und politischen Widerstand – siehe etwa die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts oder die Gründung der AfD während der sogenannten Eurokrise. Zwar plädieren vor allem ausländische Ökonomen in deutschen Medien dafür, das Mandat der Europäischen Zentralbank umfassend zu erweitern;
Vorbild Japan?
Zwischen 1990 und 2019 wuchs das BIP in Japan real um 32 Prozent – und damit noch weniger als in Deutschland mit 53 Prozent im gleichen Zeitraum. Zum Vergleich: Die USA verdoppelten ihre inflationsbereinigte Wertschöpfung (+103 Prozent), China vervierzehnfachte sie (+1293 Prozent).
In Japan gab es schon 1999 erstmals Leitzinsen von null Prozent. Ab 2001 kaufte die Zentralbank außerdem Regierungsanleihen. Einen Ausstiegsversuch aus dieser Politik ab 2006 beendete die Finanzkrise, 2010 sank der Zentralbankzins wieder auf null Prozent. Neben Staatsanleihen kauft die Bank of Japan seither auch Unternehmensschulden, ETFs und REITs.
Sollte also auch die Europäische Zentralbank ETFs und REITs erwerben und die Renditen von Staatsanleihen kontrollieren? Durch ETF-Käufe übernähme die EZB indirekt Aktien, also Unternehmenskapital. Zwar hätte Karl Marx Freude an dieser schrittweisen Verstaatlichung der Produktionsmittel. Auch ist die Bilanzsumme des Eurosystems seit 2007 "nur" um den Faktor 4,4 gewachsen gegenüber einem Faktor 7 in Japan und 8,6 in den USA.
Bei einer Kontrolle der vielen nationalen Renditekurven im Euroraum müsste die EZB beispielsweise mit gewichteten Durchschnitten arbeiten. Rein technisch ähnelt PEPP dieser Politik bereits, denn das monatliche Kaufvolumen hat die Notenbank offengelassen, und die bisherige Bindung der Anleihekäufe an nationale Kapitalschlüssel fehlt.
Fazit
Seit der Coronakrise steigt Deutschlands Staatsverschuldung wieder. Im internationalen Vergleich ist sie aber immer noch niedrig. Zwar hat sich die Politik zumindest kurzfristig von der Idee der "Schwarzen Null" verabschiedet, die größte Volkswirtschaft Europas genießt aber nach wie vor ein Spitzenrating und sehr günstige Finanzierungsbedingungen an den Finanzmärkten. Aus diesem Grund wären auch hierzulande dauerhafte Staatsschuldenquoten jenseits von 60 oder sogar über 90 Prozent unproblematisch. Aber könnten sich diese Verbindlichkeiten ohne bemerkenswerte gesellschaftliche Kosten quasi von selbst finanzieren? Dies glauben zumindest die Befürworter der finanziellen Repression. Diese führt durch negative Realzinsen zu einem schleichenden Ersparnisverlust der privaten Gläubiger. Die staatlichen Schuldner investieren das Geld in heimische Infrastrukturprojekte und kurbeln so das Wachstum dauerhaft an. Eine Schlüsselrolle spielt hierbei eine ultralockere Geldpolitik, als deren Vorreiter Japan gilt.
Finanzielle Repression funktioniert aber nur, wenn die Nominalzinsen dauerhaft niedrig, Inflation und Wachstum dagegen dauerhaft hoch sind. Niedrige Zinsen und höhere Inflationsraten begünstigt die Europäische Zentralbank zwar schon lange. Allerdings reicht ihr geldpolitisches Instrumentarium (noch) längst nicht so weit wie das der Bank of Japan. Die rechtlichen und politischen Risiken weiterer Lockerungen sind zudem hierzulande ungleich höher. Viel schwerer wiegt aber die wirtschaftliche Stagnation und die Deflationsgefahr, die Japan seit langem begleiten. Es ist deshalb unklar, ob der japanische Weg ökonomisch überhaupt erfolgreich war. Auch die expansivste aller Geld- und Schuldenpolitiken konnte strukturelle Veränderungen dort nicht ersetzen. Ein ähnliches "Schicksal" könnte auch Deutschland drohen, das schon heute fast so alt und wachstumsschwach ist wie Japan. Schließlich sind die Umverteilungseffekte der finanziellen Repression bislang kaum erforscht. Nicht auszuschließen wäre in Deutschland, dass sie untere Einkommensschichten eher be- als entlastet.
ist Professorin für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt International Economics an der Wiesbaden Business School der Hochschule RheinMain. E-Mail Link: britta.kuhn@hs-rm.de
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