Zum ersten Mal seit sieben Jahren wird der deutsche Staat 2020 wieder ein Jahr mit einem Haushaltsdefizit abschließen, und zwar mit dem mit Abstand größten Defizit aller Zeiten. Auch 2021 ist allein im Bundeshaushalt mit einem hohen zwei- oder sogar dreistelligen Milliardendefizit zu rechnen. Die Schuldenquote des Gesamtstaates dürfte nächstes Jahr ein neues Rekordniveau erreichen. Rote Zahlen, so weit das Auge reicht.
Bleibt die "Schwarze Null" also eine bloße Episode, die besonderen Umständen wie einem langen Exportboom und einem historisch niedrigen Zinsniveau zu verdanken war, aber keine bleibenden Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen hinterlässt? Oder markiert sie einen grundlegenden Einschnitt in der Geschichte der deutschen Staatsfinanzen, der auch über die Corona-Krise hinaus wirksam bleiben wird?
Die Antwort auf diese Frage wird nicht allein davon abhängen, wie tief der von der Pandemie ausgelöste Wirtschaftseinbruch ausfällt und wie groß die als Reaktion geschnürten Rettungspakete noch werden. Mindestens ebenso wichtig ist, wie sehr die "Schwarze Null" mittlerweile zu den fiskalpolitischen Grundkoordinaten der Bundesrepublik zählt. Ist sie bereits so tief verankert, dass sie selbst angesichts der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit nicht dauerhaft infrage gestellt wird? Oder war sie auch schon vor Corona angreifbar geworden und erlebt jetzt ihr überfälliges Ende?
Die Möglichkeit völlig unterschiedlicher Entwicklungen weist darauf hin, dass Krisen sich nicht selbst interpretieren, sondern um ihre Interpretation politisch gerungen wird. Die Pandemie kann als Beleg dafür gedeutet werden, wie notwendig ein dauerhafter fiskalpolitischer Kurswechsel ist. Sie kann aber auch so gedeutet werden, dass sie belegt, wie richtig und wichtig die Politik des Haushaltsausgleichs gewesen ist und weiterhin bleibt. Welche dieser Interpretationen sich politisch durchsetzt, hängt nicht zuletzt davon ab, auf welche argumentativen Ressourcen die jeweiligen Seiten in diesem Ringen zurückgreifen können.
Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden zunächst rekonstruiert, welche politische Funktion die "Schwarze Null" vor dem Ausbruch der Pandemie erfüllt hat. Wie kam es überhaupt dazu, dass eine finanzstatistische Kennzahl mit einer so enormen symbolischen Bedeutung aufgeladen wurde? Und welche Kritik wurde bereits vor dem Beginn der Corona-Krise an der "Schwarzen Null" formuliert? Auf Basis dieser Rekonstruktion wird dann gefragt, welche Interpretation des Zusammenhangs von Corona-Krise und "Schwarzer Null" die besten Chancen hat, sich durchzusetzen, und wovon dies abhängen wird.
Bei der Beantwortung dieser Fragen ist es hilfreich, eine explizit vergleichende Perspektive einzunehmen und deutsche Entwicklungen und Debatten mit denen in anderen Ländern zu vergleichen. Mehrjährige Haushaltsüberschüsse sind nämlich keineswegs eine deutsche Besonderheit, sondern ein aus anderen Ländern gut bekanntes Phänomen. Daraus, wie andere "Überschussländer" mit, wenn auch kleineren, ökonomischen Schocks umgegangen sind, lassen sich deshalb gewisse Rückschlüsse für die deutsche Corona-Reaktion ziehen. Zudem zeigt die Erfahrung dieser Länder, inwieweit der deutsche Überschuss nur eine weitgehend übliche Form der Haushaltspolitik in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs gewesen ist – und was an der "Schwarzen Null" tatsächlich besonders ist und daher auch einer besonderen Analyse bedarf.
Popularitätsfaktoren
Sucht man nach den Ursachen für den großen politischen Erfolg der "Schwarzen Null", lassen sich drei Quellen ausmachen: erstens eine letztlich psychologisch bedingte Popularität ausgeglichener Haushalte; zweitens ein über Jahrzehnte eingeübter Defizitdiskurs, dessen Interpretation der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte die Kontrastfolie zur "Schwarzen Null" bildet; drittens schließlich die spezifische politische Konstellation zweier inhaltlich ausgezehrter, aber durch eine Große Koalition aneinandergebundener Volksparteien.
Psychologie
Zunächst einmal ist es keine deutsche Besonderheit, dass ausgeglichene Haushalte sehr populär sind. Das war besonders um die Jahrtausendwende herum zu beobachten, als eine Reihe westlicher Demokratien mehrjährige Haushaltsüberschüsse erzielte. Auch in diesen Ländern inszenierten sich die für den Überschuss verantwortlichen Politiker erfolgreich als Garanten einer besonders nachhaltigen, generationengerechten oder wachstumsfördernden Politik. Das war bei US-Präsident Bill Clinton, der in den letzten Jahren seiner Amtszeit Haushaltsüberschüsse erzielte, nicht anders als beim schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson oder seinem kanadischen Amtskollegen Paul Martin. Die Beispiele zeigen auch, dass ausgeglichene Haushalte keineswegs nur ein konservatives Thema sind: Persson war Sozialdemokrat, Clinton und Martin gehörten ebenfalls links der Mitte positionierten Parteien an. Ihnen allen gelang es, Haushaltsüberschüsse in ein Narrativ moderner, progressiver Wirtschaftspolitik zu integrieren.
Diese Inszenierung von Überschüssen macht sich die weitverbreitete "Haushaltsanalogie", also die Gleichsetzung öffentlicher Haushalte mit Privathaushalten zunutze, die in Deutschland vor allem durch das Bild der schwäbischen Hausfrau populär geworden ist:
Anders, als es die ökonomische Theorie der Politik erwartet, der zufolge Defizite politisch attraktiv sind, weil sie erlauben, staatliche Wohltaten zu verteilen, ohne dafür die Steuerzahler zur Kasse bitten zu müssen – eine Verlockung, der durch strenge fiskalische Regeln ein Riegel vorgeschoben werden müsse –, kann eine Politik dauerhafter Überschüsse also hochgradig populär sein.
Gleichwohl ist die Staatsverschuldung trotz dieser grundsätzlichen Popularität von Überschüssen in den meisten Ländern seit etwa 1970 kontinuierlich gestiegen. Der deutsche Überschuss ist zwar nicht einzigartig – im Durchschnitt der zurückliegenden Jahrzehnte verbrachten westliche Industrieländer etwa ein Fünftel der Zeit im Überschuss
Defizit-Diskurs
Bei dieser Erklärung spielt der dominante Diskurs über die negativen Folgen von Staatsverschuldung, der sich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, eine wichtige Rolle. Die Flut der roten Zahlen, die in diesem Diskurs regelmäßig aufgerufen wird, bildet die Kontrastfolie, vor der die "Schwarze Null" als einzig seriöse Form der Haushaltspolitik erscheint.
Auch dieser Fokus auf die negativen Folgen von Staatsverschuldung ist zunächst nicht spezifisch für den deutschen Diskurs. Auch in anderen Ländern mit Überschüssen wurden diese regelmäßig als heilsamer Gegensatz zu den nationalen Erfahrungen mit Staatsverschuldung inszeniert – sei es in Abgrenzung zur schwedischen Bankenkrise der 1990er Jahre oder zum "Double-Deficit" in Staatshaushalt und Handelsbilanz der Reagan-Administration in den USA der 1980er Jahre.
Der deutsche Diskurs ist allerdings insofern besonders, als diese historische Kontrastfolie besonders weit zurück reicht, nämlich bis zu den Erfahrungen der Weimarer Republik mit ihrem kaum verhüllten Staatsbankrott im Zuge der Hyperinflation 1923. Die These, hohe Staatsverschuldung führe unweigerlich zu hoher Inflation, wird noch heute regelmäßig mit dem Verweis auf Weimar unterlegt und hat auch im Kontext der Corona-Krise wieder Konjunktur.
Vermutlich noch wichtiger für den Erfolg der "Schwarzen Null" als die vermeintlichen Lehren aus den 1920er Jahren waren aber die fiskalpolitischen Debatten der letzten 40 Jahre. Charakteristisch für diese Debatten ist, dass Staatsverschuldung darin primär nach moralischen Maßstäben und nicht nach ökonomischer Zweckmäßigkeit beurteilt wird. In der Diagnose, der Staat lebe "über seine Verhältnisse", schwingt immer ein moralischer Vorwurf mit. Es geht also weniger um die Frage, ob Schulden ein geeignetes Instrument zur Erreichung bestimmter wirtschaftspolitischer Ziele sind, sondern vielmehr darum, ob dieses Instrument legitim ist. Bereits lange vor der "Schwarzen Null" wurden ausgeglichene Haushalte so von den konservativen Finanzministern Gerhard Stoltenberg und Theo Waigel, aber auch von ihren sozialdemokratischen Nachfolgern Hans Eichel und Peer Steinbrück, als fiskalpolitisches Dauerziel etabliert.
Durch die 2009 parteiübergreifend beschlossene Einführung der Schuldenbremse gelangte das Ziel strukturell ausgeglichener Haushalte schließlich ins Grundgesetz. Diese Verfassungsänderung war weniger eine Ursache als vielmehr selbst das Ergebnis einer nochmaligen Verschärfung des Defizit-Diskurses: Erst, nachdem SPD und Grüne eine konkurrierende, positivere Deutung von Defiziten aufgegeben hatten, erlangte die Verschuldungsfurcht Verfassungsrang.
Die Konstitutionalisierung von Details der Haushaltstechnik – Artikel 115 des Grundgesetzes schreibt unter anderem die Verwendung eines Konjunkturbereinigungsverfahrens vor, mit dessen Hilfe der strukturelle, durch politische Entscheidungen zu verantwortende Teil des Haushaltssaldos von bloß konjunkturell bedingten Schwankungen isoliert werden soll – ist Ausdruck einer sehr deutschen Vorstellung, Fiskalpolitik sei primär eine Frage formaler Regeln und weniger eine von politischen Mehrheiten. Diese Vorstellung zeigt sich auch im deutschen Insistieren darauf, der Eurokrise mit einer Vielzahl neuer fiskalischer Regeln auf europäischer Ebene zu begegnen. Dieser Glaube an die Kraft besserer fiskalpolitischer Regeln ist allerdings nicht nur bei den Anhängern der Schuldenbremse verbreitet: Auch die Befürworter einer expansiveren Fiskalpolitik arbeiten sich mit großer Energie an dieser Verfassungsregel ab, so als würde deren Reform wie von selbst auch einen fiskalpolitischen Kurswechsel nach sich ziehen.
Politische Opportunitäten
Die grundsätzliche Popularität von Haushaltsüberschüssen und die über viele Jahrzehnte eingeübte Problematisierung von Defiziten haben in Deutschland also die Voraussetzungen für den Erfolg der "Schwarzen Null" geschaffen. Dennoch wären diese Voraussetzungen wohl nicht so eifrig genutzt worden, wenn die "Schwarze Null" nicht perfekt in die politische Zeit gepasst hätte und sinnbildlich für die Politik der Großen Koalitionen der Ära Merkel stünde. Das betrifft zunächst die Unionsparteien selbst: Die "Schwarze Null" ist das ideale politische Projekt eines inhaltlich erschöpften Konservatismus, weil sie ein politisches Instrument, den Haushaltssaldo, zum eigentlichen politischen Ziel erklärt.
Noch attraktiver wurde diese Politik aber für Große Koalitionen, die sich ja gerade nicht durch ein gemeinsames inhaltliches politisches Projekt definieren, sondern allenfalls durch das Versprechen von Stabilität und staatspolitischer Verantwortung. Für solche Regierungen ist die "Schwarze Null" der ideale politische Kitt, weil sie erlaubt, inhaltliche Streitfragen in Finanzierungsfragen zu überführen und damit kaltzustellen: Die SPD verlangt höhere Staatsausgaben? Nicht finanzierbar! Die Union will Steuersenkungen? Das würde die "Schwarze Null" aufs Spiel setzen! Dass ausgeglichene Haushalte das Ergebnis eines fiskalpolitischen Patts sein können, ist dabei ebenfalls kein neuer Befund: In den USA wurden bereits die Clinton-Überschüsse damit erklärt, dass das demokratisch geführte Weiße Haus und das republikanisch kontrollierte Repräsentantenhaus sich gegenseitig blockierten.
Echte Einzigartigkeit kann die deutsche Fiskalpolitik daher auch in dieser Hinsicht nicht für sich beanspruchen. Wo sie das kann, ist allerdings ausgerechnet bei der Vermarktung des Haushaltsüberschusses. Auf den genialen Kniff, die buchhalterische Tatsache des Haushaltsausgleichs mit dem wirkmächtigen Symbol der "Schwarzen Null" aufzuladen, war vorher noch niemand gekommen. Hatte die Redeweise von der "Schwarzen Null" ursprünglich ein fragwürdiges Image – noch in den 1990er Jahren galt sie eher als Synonym für etwas zwielichtige Buchhaltungstricks eigentlich defizitärer Unternehmen –, gelang es nach 2010, daraus ein eindeutig positiv konnotiertes Symbol zu formen.
Kritik vor Corona
Die "Schwarze Null" schöpft also aus psychologischen, historischen und parteipolitischen Popularitätsquellen. Dennoch ist von Beginn an auch häufig Kritik an dieser Politik formuliert worden. So wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die staatlichen Ersparnisse zum deutschen Außenhandelsüberschuss und damit zu ökonomischen Ungleichgewichten in Europa und der Welt beitrügen. Auch wurde kritisiert, dass der Staat unnötigerweise darauf verzichte, von historisch günstigen Finanzierungsbedingungen zu profitieren, obwohl absehbar sei, dass die Zinsen noch für sehr lange Zeit auf diesem niedrigen Niveau verharren dürften.
Die inhaltlich schwerwiegendste und politisch wohl einflussreichste Kritik lautete aber, die Politik der "Schwarzen Null" sei mitverantwortlich für den öffentlichen Investitionsstau. Der bauliche Zustand der öffentlichen Schulen, die Dauersperrungen von Autobahnbrücken, die Pünktlichkeitskrise der Deutschen Bahn oder der schleppende Breitbandausbau sind sichtbarer Ausdruck eines jahrelangen Mangels an öffentlichen Investitionen, für den der Fokus auf Haushaltsdisziplin mitverantwortlich ist. Dieser Investitionsmangel kann sogar dazu führen, dass das staatliche Nettovermögen trotz sinkender öffentlicher Verschuldung weiter zurückgeht, weil die Investitionen nicht ausreichen, auch nur den Verschleiß auszugleichen.
Diese Verbindung von Haushaltsüberschüssen mit einem Mangel an öffentlichen Investitionen ist nicht selbstverständlich. Eigentlich war skeptischen Grünen und Sozialdemokraten die Schuldenbremse sogar mit dem genau gegenteiligen Versprechen schmackhaft gemacht worden: ein Abbau der öffentlichen Verschuldung werde es ermöglichen, den schon damals existierenden Investitionsstau aufzulösen, weil er dem Staat neue fiskalische Spielräume eröffne.
Fürsprecher der "Schwarzen Null" entgegnen dem, diese durchwachsene Investitionsbilanz sei kein Ergebnis der Politik des Haushaltsausgleichs, sondern einer problematischen Prioritätensetzung.
Die Erfahrungen anderer Länder mit Haushaltsüberschüssen zeigen allerdings, dass die deutsche Entwicklung keineswegs einen Einzelfall darstellt und dass solche Überschüsse ganz regelmäßig mit einer nur verhaltenen Entwicklung der öffentlichen Investitionen einhergehen.
Dieser Zusammenhang wird sehr deutlich, wenn man das Argument der fehlenden Planungskapazitäten betrachtet, das häufig ins Feld geführt wird, um zu erklären, warum die öffentlichen Investitionen nicht schneller anwachsen: Selbst wenn der Staat mehr investieren wolle, dauere es eben, bis die dafür notwendigen Voraussetzungen geschaffen seien. Der Abbau der Planungskapazitäten war aber natürlich ein Teil jener Politik, die Überschüsse überhaupt erst ermöglicht hat – und wirkt jetzt in den Überschuss hinein fort. Eine langjährige Sparpolitik dreht also nicht bloß bestimmten Politikfeldern für eine gewisse Zeit den sprichwörtlichen Geldhahn zu, sondern verändert das gesamte Leitungssystem, durch das das staatliche Geld fließen kann. Die Gleichzeitigkeit von Überschüssen und einem nur langsamen Anstieg der öffentlichen Investitionen ist also kein Zufall. Das eine hängt mit dem anderen eng zusammen.
Wird durch Corona alles anders?
Doch vielleicht ist all das bereits Geschichte? Womöglich erfasst die von Corona herbeigeführte "neue Normalität" auch die Staatsfinanzen und stellt dort die lange gewohnte "alte Normalität" von Haushaltsdefiziten und wachsender Staatsverschuldung wieder her? Schließlich hat Corona ja nicht nur zu einem Einbruch der Steuereinnahmen geführt, sondern möglicherweise auch eine generelle Renaissance staatlicher Daseinsvorsorge ausgelöst, die entsprechend teuer wird.
Prognosen, durch eine Krise werde "alles anders", haben in Krisensituationen naturgemäß Hochkonjunktur. Wie kurz die Halbwertszeit solcher Prognosen sein kann, hat aber erst die Weltfinanzkrise von 2008 gezeigt. Die damals angekündigte Renaissance des Staates währte keine zwei Jahre. Allenfalls öffnen Krisen also ein Gelegenheitsfenster, in denen ein grundlegender Politikwechsel möglich ist, sie führen ihn aber nicht selbst herbei.
Politische Paradigmenwechsel müssen also auch in Krisen politisch erkämpft werden – von gut organisierten Akteuren mit klaren Zielen, die sich diese Gelegenheit zunutze machen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse erscheint es jedoch als unwahrscheinlich, dass solche Akteure in Deutschland existieren und dass die bereits vor Corona aufgekommene Kritik an der "Schwarzen Null" die Grundlage für einen solchen Paradigmenwechsel bietet.
Der wichtigste Grund dafür ist, dass ein Paradigmenwechsel nicht nur eine negative Kritik am bisherigen Paradigma erfordert, sondern auch einen positiv formulierten Entwurf für ein neues Paradigma. Eine solche "kohärente und weit entwickelte Alternative"
Gegen einen dauerhaften Kurswechsel in der Fiskalpolitik spricht auch, dass die leistungsstarke Reaktion des deutschen Staates auf die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu belegen scheint, wie richtig und wichtig die Politik des Schuldenabbaus war. Die Haushaltspolitik der vergangenen Jahre habe erst die Spielräume geschaffen, die es jetzt ermöglichten, so kraftvoll auf Corona zu reagieren. Auch die zuletzt so stark in die Kritik geratene Schuldenbremse kann mit diesem Argument rehabilitiert werden, schließlich habe die Pandemie gezeigt, dass die Verfassungsregel flexibel genug sei, um einen angemessenen Umgang mit Krisensituationen zu ermöglichen.
Blickt man auf die oben beschriebenen Quellen für die Popularität der "Schwarzen Null", so dürften zumindest zwei dieser drei Quellen in der Zeit nach der Pandemie eher wieder an Kraft gewinnen. So werden die enormen Haushaltsdefizite den eingeübten Defizit-Diskurs wieder auf die politische Agenda setzen. Aus dieser Sicht erscheint die stark gestiegene Schuldenquote wie eine dauerhafte Mahnung, zur "fiskalpolitischen Vernunft" zurückzukehren. Wie stark dieser Diskurs ist, zeigt sich bereits daran, dass der Bund sich entschlossen hat, die von der Schuldenbremse geforderte Tilgung der Corona-Schulden innerhalb von nur 20 Jahren zu leisten.
Damit kommen auch die psychologischen Mechanismen hinter dem Erfolg der "Schwarzen Null", die mit ihrer Normalisierung zunehmend an Kraft verloren hatten, wieder ins Spiel. Eine Regierung, die auch nach dem Ende der Pandemie Defizite zu verantworten hat, wird damit ganz erhebliche Vorwürfe auf sich ziehen, während die Überwindung dieser Defizite Anlass für neuerliches "Credit Claiming" bieten dürfte. Welcher Finanzminister würde nicht gerne verkünden, die Rückkehr zu ausgeglichenen Haushalten belege, dass Deutschland die Corona-Krise nun auch ökonomisch überwunden habe?
Vor diesem Hintergrund könnte die Corona-Krise sogar dazu beitragen, die "Schwarze Null" dauerhaft zu stärken. Das heißt nicht, dass die Bundesrepublik bereits 2022 oder 2023 zu ausgeglichenen Haushalten zurückkehren wird. Zweifellos wird sich die dann amtierende Bundesregierung aber starken Erwartungen ausgesetzt sehen, einen Plan für eine Rückkehr in den Überschuss zu entwerfen. Als Referenzpunkt dafür, was eine verantwortungsvolle Fiskalpolitik ist, wird die "Schwarze Null" den deutschen finanzpolitischen Diskurs weiterhin prägen.
Wie stark dieser Diskurs die tatsächliche Fiskalpolitik beeinflusst, dürfte dabei nicht zuletzt von der parteipolitischen Konstellation und damit vom Ausgang der Bundestagswahl 2021 abhängen. Anders als die Großen Koalitionen der Jahre ab 2013 wird die kommende Bundesregierung den Haushalt nicht mit einer Finanzpolitik der ruhigen Hand ausgleichen können. Stattdessen würde sie politisch schmerzhafte Maßnahmen auf der Einnahmen- oder der Ausgabenseite ergreifen müssen, um einem erneuten Überschuss näherzukommen.
Paradoxerweise könnte es einer Bundesregierung, an der CDU/CSU beteiligt sind, dabei leichter fallen, auf solche Maßnahmen zu verzichten. Denn es ist leicht ausrechenbar, auf welch fundamentalen Widerstand der Opposition ein linkes Regierungsbündnis stoßen würde, das einen dauerhaften Bruch mit der Politik der "Schwarzen Null" vollziehen würde. Die Union, die ja gewissermaßen das politische Copyright an diesem Symbol hält, könnte hingegen mit viel größerer Glaubwürdigkeit dafür eintreten, dass weitere Defizite schlicht notwendig seien.
Die Erfahrungen anderer Länder mit Haushaltsüberschüssen scheinen keine eindeutige Antwort auf die Frage zu bieten, ob Krisen eher den Abschied von Überschusspolitik einleiten oder ob sie diese sogar stärken. Für beide Konstellationen lassen sich Beispiele finden. So boten die Rezession des Jahres 2001 und die Terroranschläge des 11. September für US-Präsident George W. Bush, dem ein großes Steuersenkungspaket ohnehin wichtiger war als ausgeglichene Haushalte, wertvolle Argumente dafür, zugunsten von Steuersenkungen auf Überschüsse zu verzichten. Sein kanadischer Nachbar Paul Martin dagegen setzte zeitgleich darauf, trotz eines Konjunktureinbruchs an seiner bisherigen Haushaltspolitik festzuhalten und so schnell wie möglich in den Überschuss zurückzukehren. Die Erfahrung anderer Länder zeigt aber eindeutig, dass Regierungen, die nach der Erholung der Wirtschaft noch ein Defizit im Staatshaushalt ausweisen, unter sehr starken Druck geraten, dieses zu korrigieren. In Australien beispielsweise wurde das Ziel eines baldigen Budgetausgleichs in den Jahren nach der Weltfinanzkrise zu einem politisch dominanten Thema.
Krisen interpretieren sich also nicht von selbst, auch nicht in fiskalpolitischer Hinsicht. Welche Schlussfolgerungen aus ihnen zu ziehen sind, ist vielmehr Gegenstand politischer Konflikte, in denen diejenigen bessere Karten haben, die bereits eine politische Agenda besitzen, die sich mit der Krise gut verknüpfen lässt. Dabei kann die Corona-Krise sowohl als Rechtfertigung für den Abschied von der "Schwarzen Null" verwendet werden als auch für deren Neubelebung. Sicher ist nur: Wer auch immer sich durchsetzt, wird hinterher behaupten, Corona belege die Richtigkeit der eigenen Strategie.