Die mehr als zwei Monate andauernde, flächendeckende Schließung der Schulen ab Mitte März 2020 aufgrund der Corona-Pandemie war beispiellos. Der weitgehende "Lockdown" des öffentlichen Lebens hat die weitere Ausbreitung des Virus verhindert und Menschenleben gerettet. Gleichzeitig hat uns die Schließung von Kitas und Schulen vor Augen geführt, wie wichtig Bildungseinrichtungen sind: für die Eltern, um Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können, zuallererst aber für die Kinder und Jugendlichen selbst, die die Förderung und soziale Kontakte zu ihren Schulkamerad*innen und Lehrkräften brauchen.
Nachdem die Schließung von Schulen und Kitas zunächst ohne große öffentliche Diskussion erfolgt war, wurden die weitreichenden Folgen dieser Entscheidung nach und nach zum Thema. Mittlerweile belegen Studienergebnisse, dass insbesondere jene Kinder von der Schließung hart getroffen wurden, die keine ausreichende Förderung im "Homeschooling" erhalten konnten, weil sie aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen kommen, Deutsch nicht als Muttersprache sprechen oder auch mit akademischen Bildungsinhalten weniger vertraut sind. Probleme in der Strukturierung des Tagesablaufs und der (Selbst-)Lernprozesse, vor allem die mangelnde individuelle Anleitung und Unterstützung durch Pädagog*innen haben sich hierbei als bedeutsamer erwiesen als die fehlende technische Ausstattung mit Endgeräten oder Internetzugang.
All dies mag wegen der akuten Ausbreitungsgefahr eines im Frühjahr 2020 noch weitgehend unbekannten Virus gerechtfertigt gewesen sein.
Bildung ist Bürgerrecht
Bildung ist der entscheidende Schlüssel für die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und nicht zuletzt politische Teilhabe in unserer immer stärker auf Wissen und Technologie ausgerichteten Gesellschaft. Menschen mit einer guten Bildung werden schneller und dauerhafter in den Arbeitsmarkt eingebunden, sie sind in ihrer Berufskarriere flexibler und verfügen über höhere Entfaltungsmöglichkeiten; entsprechend seltener werden sie langzeitarbeitslos. Gut gebildete Personen sind gesünder und haben eine durchschnittlich höhere Lebenserwartung als geringer gebildete. Nicht zuletzt zeigen sie eine höhere Resilienz und bringen sich deutlich häufiger und intensiver in soziale und politische Prozesse ein.
Bildung ist "Bürgerrecht", so hat es der Philosoph Ralf Dahrendorf bereits 1965 formuliert und damit die Bildungsexpansion in der frühen Bundesrepublik programmatisch eingeleitet.
Seit 2009 ist die Bundesrepublik nach der UN-Behindertenrechtskonvention auch dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem "auf allen Ebenen" zu gewährleisten.
Eine wesentliche Forderung des Menschenrechts auf Bildung ist der Abbau von Diskriminierungen, und zwar auch solchen, die sich aus dem Bildungssystem indirekt (juristisch: "mittelbar") ergeben, wenn Menschen aufgrund ihrer sozialen oder ethnischen Herkunft, ihrer Religion, ihres Geschlechts, einer Behinderung oder vergleichbaren Merkmalen benachteiligt werden.
Benachteiligungen beseitigen, Barrieren abbauen
Noch immer hängt der Bildungserfolg im deutschen Schulsystem stark vom sozialen und kulturellen Kapital des Elternhauses ab, und zwar deutlich stärker als in anderen Staaten.
Im internationalen Vergleich erfolgreiche Bildungssysteme setzen demgegenüber nicht nur auf ein längeres gemeinsames Lernen (mit möglicher Binnendifferenzierung). Sie verstehen die soziale und kulturelle Diversität der Schüler*innen als Ressource und gehen davon aus, dass jeder Schüler und jede Schülerin grundsätzlich in der Lage ist, einen hohen Bildungsstand zu erreichen. Entsprechend wählen sie ihr (multiprofessionelles) pädagogisches Personal sorgfältig aus und motivieren die Pädagog*innen, sich kontinuierlich fortzubilden, sich über ihre Praxis im Sinne von best pratice auszutauschen und voneinander zu lernen. Es finden regelmäßige Erhebungen zur Leistungsentwicklung und (gegenseitige) Coachings statt, nicht allein zum Zweck der Kontrolle, sondern mit Blick auf Feedback sowie Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und Verbesserung.
Im Gegensatz dazu produziert das Schulsystem in den deutschen Bundesländern einen im internationalen Vergleich (zu) hohen Anteil an Bildungsverlierern. Etwa 15 Prozent aller jungen Erwachsenen beenden ihre schulische beziehungsweise berufliche Schulausbildung ohne Berufsabschluss und gelten somit als relativ "bildungsarm" (also gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt).
Etwa 60 Prozent der jungen Menschen ohne Schulabschluss haben eine Förderschule besucht.
In Sachen Inklusion geht es dennoch in den meisten Bundesländern nicht voran. Halbherzige politische Entscheidungen führen zu einem "Wahlrecht" zwischen Regel- und Förderschule und damit zu einem aufwendigen Doppelsystem.
Gesamtstaatliche Bildungsinvestitionen und -strategien
Für die Bewältigung der genannten Herausforderungen sind zwei Punkte entscheidend. Zum einen sind die öffentlichen Ausgaben für Schulen in Deutschland zu gering; gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegen sie weiterhin unter dem OECD-Durchschnitt.
Zum anderen fehlt es weiter an einem ausreichend koordinierten Vorgehen der Bundesländer, um zentrale Herausforderungen im Schulbereich zu meistern. Das zeigt sich sehr deutlich bei der Bewältigung des Fachkräftemangels. Dabei handelt es sich um ein bundesweites Problem. Die partikularen Strategien der Bundesländer führen jedoch dazu, dass in verschiedenen Ländern sogar Ausbildungsplätze für Lehrkräfte abgebaut wurden, womit ein wenig zielführender "Wettkampf" der Bundesländer um die vorhandenen Absolvent*innen ausgelöst worden ist – ohne dass eine langfristige, nachhaltig wirkende gemeinsame Strategie erkennbar wird, um das Problem in den Griff zu bekommen.
Wenn wir unser Schulsystem im Sinne des Rechts auf Bildung verbessern wollen, müssen Bund und Länder in Zukunft noch stärker zusammenarbeiten. Das "noch" ist hier bewusst gesetzt, denn in den vergangenen Jahren ist einiges auf den Weg gebracht worden. Mit der Schaffung und Erweiterung des Artikel 104c Grundgesetz verfügt der Bund über die Kompetenz, gemeinsam mit den Ländern Investitionen in die "kommunale Bildungsinfrastruktur" zu tätigen; hierüber laufen milliardenschwere Programme wie der "Digitalpakt", jetzt erweitert durch ein Sofortanschaffungsprogramm zur Unterstützung von Schüler*innen aus einkommensschwachen Haushalten. Mit dem geplanten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ab dem Jahr 2025 wird der Bund – über das Jugendhilferecht im Sozialgesetzbuch (SGB)VIII – faktisch weit in die Schulstruktur der Länder eingreifen. Die klassische "Halbtagsschule" wird dann für die Klassenstufen 1 bis 4 bundesweit durch ein offenes Ganztagsangebot – einschließlich Mittagessen und Hausaufgabenbetreuung – abgelöst.
An diese Entwicklungen gilt es im Sinne einer gemeinsamen, gesamtstaatlichen Bildungsstrategie von Bund und Ländern anzuknüpfen. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung zeigt, welche Möglichkeiten sich für die qualitative Weiterentwicklung der Ganztagsschulen eröffnen. Darüber hinaus trägt der Bund die Verantwortung für Leistungen zur Bildung und Teilhabe, die Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Elternhäusern zugutekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat hervorgehoben, dass entsprechende Leistungen wie Nachhilfeförderung, musikalische und kulturelle Angebote auch als Sach- und Dienstleistungen erbracht werden können;
Im Zusammenspiel von Bund, Ländern und Kommunen in der Sozial- und Bildungspolitik liegt somit einiges Potenzial, um die hier skizzierten und auch weitere Herausforderungen in der Bildungspolitik zu bewältigen. Man muss es nur nutzen.