Die Schulschließungen trafen Bildungsadministration, Schulen, Lehrkräfte und Eltern unvorbereitet. Es waren die Regierungschefinnen und -chefs der Länder, die ab Mitte März 2020 Schulschließungen anordneten und den vorangegangenen Beschluss der Kultusministerkonferenz, eine generelle Schulschließung zu vermeiden, beiseiteschoben.
Es gilt also, Lehren aus der Zeit der Schulschließungen zu ziehen. Was lief gut, was lief weniger gut? Was lässt sich aus den Erfahrungen lernen? Gibt es vielleicht sogar Innovationen, die von der Pandemie angestoßen wurden?
Folgen der Schulschließungen
Die Zeit in den Monaten der Schulschließungen war von großen Ängsten und Befürchtungen gekennzeichnet. Die schulpolitische Diskussion lässt sich zu vier Themen bündeln: erstens, die langfristigen Folgen der Schulschließungen für Schülerinnen und Schüler, zweitens, die Gefahr einer wachsenden Bildungsschere, drittens, Befürchtungen über zunehmende Genderungleichheit und, viertens, das Potenzial digitalen Fernlernens an deutschen Schulen.
Natürlich lassen sich mögliche Nachteile für die Bildungskarrieren und Arbeitsmarktchancen der von den Schulschließungen betroffenen Kinder und Jugendlichen noch nicht bestimmen. Sie hängen von der Effektivität des "Lernens auf Distanz" ebenso ab wie von der künftigen Arbeitsmarktentwicklung. Dennoch deuten vorliegende Studien darauf hin, dass sich spürbare individuelle wie auch gesamtwirtschaftliche Folgekosten bei längeren Schulschließungen kaum werden vermeiden lassen.
Auch hinsichtlich der Bildungsungleichheit sind die Erwartungen eindeutig: da einerseits Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern der schulischen Unterstützung noch mehr bedürfen als andere,
Stärker umstritten ist die Frage wachsender Genderungerechtigkeit.
Hinsichtlich der Digitalisierung des Unterrichts hatten sich Bund und Länder nach zähem Ringen 2018 darauf geeignet, Schulen stärker zu unterstützen ("Digitalpakt"). Ein Jahr nach den entsprechenden gesetzlichen Regelungen zeigt sich, dass von den fünf Milliarden Euro Fördergeld bei den Schulen wenig angekommen ist.
Schulunterricht unter Corona-Bedingungen
70 Prozent der im April 2020 befragten Lehrkräfte gaben an, dass ihre Lernangebote die Schülerinnen und Schüler erreichen, obgleich die erwünschte Nutzung digitaler Lerneinheiten häufig an der technischen Ausstattung der Schülerinnen und Schüler scheitere.
Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler hat auch unter häuslich günstigen Bedingungen während des digitalen Fernunterrichts deutlich weniger für die Schule getan. Eine Online-Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung unter mehr als 1000 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten der beiden Abschlussjahrgänge in insgesamt acht Bundesländern ergab, dass mehr als jeder dritte Jugendliche weniger als zwei Stunden pro Tag für schulische Aktivitäten aufwendete.
Die befragten Eltern waren insgesamt überwiegend zufrieden.
Befunde aus Ostwürttemberg
In einem Projektseminar
Die Untersuchungsfragen lauteten: Wie kommen die Betroffenen – Schulleitungen, Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler – mit dem durch die Corona-Pandemie induzierten Heimunterricht zurecht? Wie beeinflusst die Schulschließung den Familienalltag mit Blick auf das Lernen? Wie gehen Eltern und Kinder damit um? Welche Unterstützung erfahren sie? Wie sehen das die Kinder und Jugendlichen selbst? Gelingt es den Lehrkräften, eine strukturierte Ansprache ihrer Schülerinnen und Schülern aufrechtzuerhalten? Auf welche Unterstützungssysteme greifen sie zurück, welche didaktischen Maßnahmen setzen sie ein? Und nicht zuletzt: Gibt es auch positive Erfahrungen, die für die weitere Entwicklung ihrer Schulen genutzt werden können?
Familiäre Situation
Die Eltern standen plötzlich vor Herausforderungen, die nicht nur die zu bearbeitenden schulischen Aufgaben betrafen. Viele Eltern fühlten sich durch die Doppelbelastung von Beruf und Familie während der Corona-Hochphase gestresst. Zur Mehrfachbelastung kam die Schwierigkeit, die Kinder zum selbstständigen Lernen anzuhalten. Große Unzufriedenheit wurde auch in Bezug auf die elterliche Freizeit deutlich.
Eltern übernahmen plötzlich Aufgaben der Lehrperson und stießen dabei an ihre Grenzen. Meist haben sie sich organisatorisch am normalen Schulalltag orientiert: Wo es ihnen möglich war, versuchten sie Aufgaben mit den Kindern morgens nach dem Frühstück zu erledigen.
Eltern mit mehreren schulpflichtigen Kindern beobachteten offenbar sehr genau, was die verschiedenen Lehrkräfte machten, und brachten dies in Gesprächen untereinander oder auch mit der Lehrkraft zum Ausdruck. Generell beklagten Eltern, dass die Kinder Probleme damit hatten, mehrere Stunden am Stück in der häuslichen Umgebung zu lernen, so wie es im Schulalltag stattfindet. Schülerinnen und Schüler erfuhren dabei auf der einen Seite mehr Druck von bildungsbeflissenen Eltern, wohingegen andere Kinder weniger Druck, aber auch weniger Unterstützung bekamen.
Es wurden auch Vorteile des "Homeschoolings" benannt. So berichtete, eine Mutter, dass ihr Kind gefühlsmäßig viel besser zurechtkomme als in der Schule, da es dort im Unterricht durch andere Kinder sehr stark abgelenkt sei ("Klassenclown"). Gemeinschaftsschuleltern, von denen allerdings nur wenige befragt wurden, berichteten, dass ihre Kinder das selbstständige Arbeiten gewohnt seien.
Sicht der Kinder und Jugendlichen
Herausstechend bei Schülerinnen und Schülern ist zunächst der sehr geringe Anteil, der angab, dass ihnen die Zeit zu Hause "gut" oder gar "sehr gut" gefallen habe. Selbst bei Grundschülern sank die Freude über "mehr Zeit mit Mama" "von Woche zu Woche". Wie es ein Schüler auf den Punkt brachte: "An der Schule zu Hause nervt mich am meisten, dass ich selbst zeitweise so unmotiviert und lustlos bin." "Das Dach fällt" ihnen "auf den Kopf" und sie wünschen sich "das alte normale Leben" zurück.
Kinder und Jugendliche vermissen also in der Tat relativ rasch die Schule, und zwar weniger als Lernort, sondern als Ort der Begegnung, der alltäglichen Strukturierung und der sozialen Erfahrung. Doch auch die Kinder und Jugendlichen erwähnten Vorteile ("Ausschlafen", "Kein morgendlicher Stress", "eigenes Tempo", "nicht immer alles x-mal vorgekaut"). Einige Kinder berichteten, sie fänden jetzt "Mathe besser", weil sie "mehr Zeit zum Nachdenken hätten" oder "weil (…) wir mal was ganz Neues [machen]". Viele lobten, dass ihre Lehrkräfte immer erreichbar seien, um Fragen direkt und schnell beantworten zu können.
Schulen und Lehrkräfte
Entgegen unserer Erwartungen zeigte sich, dass in den meisten Schulen weder die technische Ausstattung noch die digitalen Kompetenzen das zentrale Problem für die Schulen beziehungsweise Lehrkräfte darstellte. Eher wurde auf die fehlende Ausstattung in den Familien hingewiesen. Vereinzelt ermöglichten die Schulen, auch durch außerschulische Kooperationen, den Familien Endgeräte dort zur Verfügung zu stellen, wo Bedarf bestand. Als besonders problematisch empfanden es Lehrkräfte aber, wenn es nicht gelang, Kontakt mit einzelnen Kindern beziehungsweise deren Eltern herzustellen und aufrechtzuerhalten. Während viele Lehrkräfte versuchten, aktiv auf schwer erreichbare Familien zuzugehen, gab es auch resignierende und herabwürdigende Aussagen über "faule Kinder" und "unwillige Eltern". Andere bemängelten im Gegenteil (zu) hohe elterliche Ansprüche.
Nicht wenige Lehrkräfte fühlten sich überfordert. Sie verwiesen auf zu wenig Unterstützung im digitalen Bereich. Ihre Arbeitszeit habe sich eher verlängert ("Suche nach passenden Erklärvideos oder auch die Selbsterstellung von entsprechenden Videos", "mehr individuelle Betreuung"). Außerdem müsse eine Unterrichtsstunde wesentlich genauer geplant werden, "da die Aufmerksamkeit der SuS [Schülerinnen und Schüler] in den Videokonferenzen schnell schwindet". Mehrere Lehrkräfte wünschten sich einen klaren Rahmen vom Land, aber innerhalb dieser festen Eckpunkte mehr Handlungsspielraum und Gestaltungsfreiheit für ihre Schulen. Schulleitungen waren im Dauereinsatz. Sie beklagten die Kommunikation mit dem Kultusministerium, die sich in einer Flut von Rundschreiben erschöpft habe. Gewünscht wurden zusätzliche Stunden zur gezielten Förderung schwacher Schülerinnen und Schüler und eine bessere digitale Ausstattung.
Hinsichtlich der innerschulischen Organisation (etwa Teamarbeit, Arbeitsteilung) gab es gegensätzliche Aussagen. Es wird sowohl berichtet, dass "der größte Teil des Kollegiums unsichtbar geworden [ist]". Anderseits gab es Schulen, in denen sich das Kollegium wechselseitig "mit erstelltem Material oder im Umgang mit der Lernplattform unterstützte". Lehrkräfte verwendeten zahlreiche, über Schulen und Schulformen hinweg unterschiedliche Kommunikationsmedien, Online-Portale und digitale Anwendungen. Auffällig ist zudem der Unterschied zwischen Regelschulen und Förderschulen. In Letzteren griff man eher auf analoge Pakete zurück, die durch regelmäßige (Kontroll-)Telefonate unterstützt wurden. Mit Fragen des Datenschutzes wurde überwiegend pragmatisch umgegangen, anders sei Fernunterricht angesichts der vielen Kommunikationsapps, Lern- und Videoplattformen gar nicht möglich.
Das selbstständige Lernen habe bei guten Schülerinnen und Schüler relativ gut funktioniert, während schwächere größere Schwierigkeiten gehabt hätten. Dies bereitet den Lehrkräften Sorge: "Die Unterschiede unter den Familien sind hier viel zu groß und werden durch diese Art des Unterrichts noch größer." Anders ausgedrückt: "soziale Unterschiede, die immer schon da waren, werden jetzt noch deutlicher".
Lehrkräfte haben auch positive Erfahrungen mit dem "Homeschooling" gemacht. Für notwendige Übungen sei nun mehr Zeit. Als positive Erfahrung wird von einigen Lehrkräften die bessere Kommunikation und engere Zusammenarbeit mit den Eltern und Schülerinnen und Schülern berichtet. Durch die Einzelgespräche hätte man individuell auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen können. Insgesamt ist die Mehrzahl der Auffassung, dass die Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung nicht unter dem "Homeschooling" gelitten habe.
Es wurde zudem von (Selbst-)Lerneffekten berichtet: "Ich traue mir jetzt im Digitalen viel mehr zu. Das Ganze ist keine Hexerei." Ein Indiz hierfür ist auch, dass häufig zunächst nur über E-Mail kommuniziert wurde, etwa um Arbeitsblätter zu verschicken, im Lauf der Zeit aber zunehmend versiert auch andere technische Möglichkeiten genutzt wurden. Nicht wenige Lehrkräfte berichten, sie würden gewisse Neuerungen beibehalten. Wie eine Lehrkraft treffend und zugleich einschränkend formuliert hat: "Die Digitalisierung hat einen großen Sprung nach vorne gemacht, allerdings nicht überall in gleichem Maße und auf Kosten einzelner Kolleginnen, welche sich in diesem Bereich bereits auskannten." Die Frage, ob Präsenzunterricht auch in Zukunft ganz oder teilweise durch andere Lernformen ersetzt werden könne, wurde rundweg verneint. Das sei ein "Hirngespinst". Schule sei ein soziales Gefüge mit persönlichen Beziehungen, Kontakten und haptischen Erlebnissen, die nur live vermittelt werden können. Soziales Lernen entfalle im Fernunterricht komplett.
Ein erstes Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die befragten Eltern mehrheitlich mit der Gestaltung des "Homeschoolings" durch die Schule und die Begleitung durch die Lehrkräfte zufrieden waren. Als besondere Herausforderung (aus Elternsicht) erwies es sich, die Lernmotivation ihrer Kinder hochzuhalten. Insofern wird man sagen dürfen, Schulen und Lehrkräfte sind ihrer (Eigen-)Verantwortung gerecht worden. Dass vieles hätte besser sein können, ist natürlich unbenommen.
Viele Lehrkräfte haben sich, oft auch für sie selbst überraschend, auf neue Technologien eingelassen. Bildungspolitik und Bildungsadministration hätten also allen Grund, "ihren" Schulen mehr zu vertrauen. Während in Deutschland nur 13 Prozent aller relevanten Entscheidungen (hierzu zählen etwa die Auswahl von Lehrkräften oder die Aufstellung eines Schulbudgets) vor Ort in den Schulen getroffen werden, sind es in erfolgreicheren PISA-Ländern deutlich mehr.
Hingegen deutet sich gemäß unserer Befragung nicht an, dass die Corona-Krise als Katalysator wirken könnte, unerledigte bildungspolitische Reformen zu befördern. Sicherlich wird der Digitalisierungsstand der Schulen eine Beschleunigung erfahren; dies stand aber schon lange auf der Tagesordnung. Manche didaktische Neuerung, etwa hinsichtlich der Vielfalt der Betreuungsmöglichkeiten im Fernunterricht, wird über den Fernunterricht hinaus Bestand haben. Doch die "Grammatik der Schule" erweist sich als krisenresistent. Die zu Recht geforderte Neuorientierung von Kooperations- und Kommunikationsmustern auf mehreren Ebenen der Organisation von Schule,
Die Corona-Krise hat überdeutlich gemacht, dass Schulen nicht nur ein Lernort, sondern auch ein Ort sind, soziale Bedürfnisse zu erfüllen und psychosoziale Fertigkeiten zu üben. Diese Funktion kann die beste digitale Ausstattung nicht ersetzen. Daher abschließend zwei Vorschläge, die sich zwar nicht direkt aus unseren Daten erschließen, aber doch helfen könnten, Schule (noch) besser und krisenfester zu machen.
Der digitale Fernunterricht hat einerseits die Bedeutung des selbstständigen Lernens gezeigt. Selbstgesteuertes Lernen muss also stärker verankert werden. Anderseits wissen wir aber, dass offene Unterrichtsformen den Leistungsschwächeren oft nicht gerecht werden. Eine Möglichkeit, Elemente offenen Unterrichts ohne ihre Nachteile in die Schule zu integrieren, könnte der Einsatz sogenannter Lebenskompetenzprogramme sein. Solche, die persönlichen Ressourcen stärkenden Alltagsfähigkeiten (life skills) können auch die – gerade von den Eltern oft unterschätzten – Fächer wie Musik, Sport, Ernährung und Kunst fördern, die im Übrigen dazu beitragen, dass die Kinder in Hauptfächern bessere Leistungen bringen.
Im Fall einer erneuten Schulschließung kann es nicht sein, dass der Kontakt zu einer Familie abreißt. In solch einem Szenario brauchen die Lehrkräfte Unterstützung. Ähnlich wie in den Gesundheitsämtern Kontaktpersonen-Ermittler ("Containment Scouts") beim Nachverfolgen von Covid-19-Infektionsketten eingesetzt werden, müssten den Schulen "Kontaktscouts" zur Verfügung stehen.
Ein solches Arrangement würde überdies zur Öffnung der Schule in den Sozialraum beitragen.