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Sanktionen in der Grundsicherung | Sanktionen | bpb.de

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Sanktionen in der Grundsicherung Aktuelle Entwicklung und empirische Befunde

Markus Wolf

/ 15 Minuten zu lesen

Sanktionen für erwerbsfähige Leistungsbeziehende in der Grundsicherung, die nicht an ihrer Arbeitsmarktintegration mitwirken, stehen immer wieder im Zentrum hitziger Debatten. Wie haben sich die Sanktionsregelungen entwickelt und wie wirksam sind sie?

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende steht häufig im Zentrum hitziger Debatten. Früher umgangssprachlich als „Hartz IV“ bezeichnet – heute ist der offizielle Name „Bürgergeld“ –, erfüllt die Grundsicherung eine wichtige Funktion: Sie unterstützt Haushalte, die es nicht aus eigener Kraft schaffen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zu dieser Unterstützung gehören die finanziellen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie Beratungs- und Eingliederungsleistungen. Im Gegenzug für diese Unterstützung wird von Leistungsbeziehenden erwartet, dass sie alle Möglichkeiten zur Beendigung des Leistungsbezugs ausschöpfen. Dazu gehört insbesondere, dass Leistungsbeziehende – soweit sie erwerbsfähig sind – an ihrer Arbeitsmarktintegration mitwirken und bestimmte Pflichten erfüllen. Tun sie das nicht, können sie sanktioniert werden, das heißt, die Leistungen werden für einen begrenzten Zeitraum gemindert oder ganz gestrichen.

Beim Thema Sanktionen zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen verschiedenen Zielen der Grundsicherung: Einerseits soll durch die finanziellen Leistungen den Leistungsbeziehenden ein menschenwürdiges Leben ermöglicht werden. Andererseits können diese Leistungen vorübergehend gemindert oder gestrichen werden, um so die Einhaltung der Mitwirkungspflichten einzufordern und zu einer zügigen Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit beizutragen. Entlang dieser Konfliktlinien wird in der Politik regelmäßig über Sinn und Nutzen von Sanktionen debattiert.

Die Diskussion flammte auch nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. November 2019 zur Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen wieder auf. Mit der 2023 in Kraft getretenen Bürgergeld-Reform, die die Sanktionsregelungen deutlich entschärfte, fand die Diskussion einen vorläufigen Kulminationspunkt. Zuletzt wurde jedoch unter dem Eindruck der angespannten wirtschaftlichen Lage wieder über eine Verschärfung der Sanktionsregelungen diskutiert. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen zeichne ich im Folgenden zunächst die Reformdynamik und die politische Diskussion rund um die Sanktionsregelungen nach. Darauf aufbauend blicke ich auf Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Sanktionen.

Sanktionsregelungen unter „Hartz IV“

Die Sanktionsregelungen der Grundsicherung, die bis zum Urteil des BVerfG galten, entstanden im Wesentlichen durch das 2005 in Kraft getretene vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) und das 2007 in Kraft getretene Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Diese Sanktionsregelungen waren nicht komplett neu, sondern das Ergebnis einer Zusammenführung der bis dahin bestehenden Sanktionsregelungen der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe. Auch heute noch bestehen diese Regelungen im Kern aus zwei Elementen: aus den Pflichten für Leistungsbeziehende und den Sanktionen, die als Rechtsfolge auf die Nichteinhaltung dieser Pflichten folgen.

Bei den Pflichten wurde unter „Hartz IV“ – und wird auch im Bürgergeld – unterschieden zwischen Meldeversäumnissen und Pflichtverletzungen: Ein Meldeversäumnis liegt vor, wenn Leistungsbeziehende beispielsweise einen Termin beim Jobcenter nicht wahrnehmen. Um eine Pflichtverletzung handelt es sich, wenn Leistungsbeziehende sich weigern, eine zumutbare Arbeit oder Ausbildung aufzunehmen. Bevor eine Sanktion aufgrund der Nichteinhaltung solcher Pflichten eintreten kann, müssen Leistungsbeziehende über die Rechtsfolgen belehrt worden sein und die Möglichkeit haben, sich im Rahmen einer Anhörung zu äußern. Bringen sie in der Anhörung keinen wichtigen Grund für die Nichteinhaltung vor, so ist eine Sanktion zu verhängen.

Die Sanktion selbst ist eine vorübergehende Minderung der Leistungen. Gemäß den unter „Hartz IV“ gültigen Sanktionsregelungen dauerte diese Minderung in aller Regel drei Monate. Die Höhe wurde nach verschiedenen Kriterien bestimmt und berechnete sich meist als Prozentwert des maßgebenden Regelbedarfs. Dessen Höhe wiederum wird gesetzlich festgelegt. Derzeit beträgt er für Alleinstehende 563 Euro pro Monat. Neben dem Regelbedarf erhalten Leistungsbeziehende auch Mittel, um angemessene Kosten für Unterkunft und Heizung zu decken, sowie Leistungen für etwaige Mehrbedarfe, zum Beispiel während einer Schwangerschaft.

Vergleichsweise niedrige Sanktionen in Höhe von 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfes wurden bei Meldeversäumnissen verhängt. Deutlich höhere Sanktionen waren bei Pflichtverletzungen vorgesehen: Bei Leistungsbeziehenden im Alter ab 25 Jahren führte eine erste Pflichtverletzung zu einer Minderung in Höhe von 30 Prozent. Eine zweite Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres ab Beginn der vorangegangenen Sanktion führte zu einer Minderung in Höhe von 60 Prozent und eine weitere Pflichtverletzung in diesem Zeitraum zum vollständigen Wegfall der Leistungen, inklusive der Kosten für Unterkunft und Heizung. Für unter 25-Jährige waren die Sanktionen aufgrund von Pflichtverletzungen deutlich schärfer: So reduzierte bereits die Sanktion infolge einer ersten Pflichtverletzung die Leistungen für Unterkunft und Heizung, und eine weitere Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres führte zum vollständigen Wegfall der Leistungen.

Die „Hartz IV“-Sanktionsregelungen wurden in der Folgezeit immer wieder heftig diskutiert. So brachten die Bundestagsfraktionen der Parteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen regelmäßig Anträge ein, in denen mitunter die vollständige Abschaffung der Sanktionsregelungen gefordert wurde. Dabei argumentierten die Parteien, dass die Sanktionen eine Minderung unter das menschenwürdige Existenzminimum bedeuteten, weitreichende negative Folgen für die Betroffenen hätten – zum Beispiel drohende Wohnungslosigkeit oder Existenzängste – und arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv seien. Besonders heftig kritisiert wurden die Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige und die Möglichkeit der Streichung von Leistungen für Unterkunft und Heizung. Letztere Punkte kritisierte auch die SPD, die allerdings generell die Bedeutung von Mitwirkungspflichten betonte und sich gegen eine vollständige Abschaffung von Sanktionen aussprach. Die Unionsparteien betonten hingegen regelmäßig, dass Sanktionen für die Einforderung von Mitwirkungspflichten wichtig seien und dazu beitragen würden, dass Leistungsbeziehende Beschäftigung aufnehmen. Ähnlich argumentierte die FDP, die jedoch ebenfalls die Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige kritisch sah. Auch die AfD sprach sich 2018 gegen die Abschaffung der Sanktionen aus.

Reformdynamik nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Dem Urteil des BVerfG im November 2019 folgten weitreichende Änderungen der Sanktionsregelungen. Das BVerfG hatte sich mit der Frage befasst, ob die damals gültigen Sanktionsregelungen aufgrund von Pflichtverletzungen für ab 25-Jährige mit der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie dem Grundrecht auf Berufsfreiheit vereinbar sind. Das BVerfG stellte zunächst fest, dass die Möglichkeit von Sanktionen nicht grundsätzlich gegen das Grundgesetz verstößt. Die damals gültigen Sanktionsregelungen entsprächen aber den strengen Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit nur teilweise. Bei Sanktionen in Höhe von über 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs würden die vorliegenden Erkenntnisse nicht ausreichen, um die Eignung und Erforderlichkeit solcher Sanktionen für die Einhaltung der Mitwirkungspflichten durch die Leistungsbeziehenden zu belegen. Daher seien solch hohe Sanktionen nicht verhältnismäßig und nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Zudem müsse grundsätzlich die Möglichkeit bestehen, auf eine Sanktion zu verzichten, falls diese im Einzelfall eine außergewöhnliche Härte bedeute, und die starre Dauer von drei Monaten zu verkürzen, falls Leistungsbeziehende die Mitwirkungspflichten wieder erfüllten oder sich hierzu bereit erklärten.

Vor diesem Hintergrund gab das BVerfG dem Gesetzgeber den Auftrag, die Sanktionsregelungen neu zu fassen. Bis dahin seien die Sanktionen mit folgender Maßgabe als Übergangsregelung anzuwenden: Sanktionen aufgrund von Pflichtverletzungen durften 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs – auch bei weiteren Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres – nicht übersteigen. Außerdem wurden eine Härtefallregelung und die Möglichkeit der Verkürzung der Sanktionsdauer unter den oben beschriebenen Voraussetzungen eingeführt. Die Bundesagentur für Arbeit setzte diese Maßgaben im Dezember 2019 um, auch im Hinblick auf die Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige und für Sanktionen aufgrund von Meldeversäumnissen.

Nach dem Urteil wurde im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 wiederum entlang der bereits beschriebenen Konfliktlinien über die Sanktionsregelungen gerungen. Mit der Bürgergeld-Reform strebte die Ampel-Koalition schließlich eine umfassende Reform der Grundsicherung an. Der Grundsatz des „Förderns und Forderns“ blieb bestehen, aber die Grundsicherung sollte stärker auf soziale Teilhabe, Qualifizierung und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Leistungsbeziehenden und Jobcentern ausgerichtet werden. Dafür waren eine Reihe von Maßnahmen vorgesehen sowie weitreichende Änderungen bei den Sanktionen, die seit der Reform offiziell „Leistungsminderungen“ heißen.

Im Vorfeld der Reform führte die Bundesregierung zunächst ein Sanktionsmoratorium ein: Im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 waren keine Sanktionen aufgrund von Pflichtverletzungen und nur bei wiederholten Meldeversäumnissen möglich. Mit der Reform selbst wurden zum einen die Vorgaben aus dem Urteil des BVerfG gesetzlich verankert. Auch die Sonderregelungen für unter 25-Jährige wurden abgeschafft. Zum anderen entschärfte die Regierung die Sanktionsregelungen weiter. Bei Meldeversäumnissen wurde die Dauer der Leistungsminderung auf einen Monat verkürzt. Bei Pflichtverletzungen wurden nach Verhandlungen im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat folgende Minderungsstufen für die erste, die erste wiederholte und weitere wiederholte Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres festgelegt: 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs für einen Monat, 20 Prozent für zwei Monate und 30 Prozent für drei Monate. Die so abgestimmten Änderungen traten im Januar 2023 in Kraft.

Zuletzt änderte die Bundesregierung ihren Kurs deutlich und diskutierte wieder verstärkt über Verschärfungen der Sanktionsregelungen. Mit dem zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetz wurde befristet von Ende März 2024 bis Ende März 2026 die Möglichkeit geschaffen, eine Sanktion in Höhe des Regelbedarfs für eine Dauer von zwei Monaten zu verhängen. Voraussetzung ist, dass Leistungsbeziehende sich willentlich weigern, ein konkret vorliegendes Arbeitsangebot anzunehmen, und ihnen bereits innerhalb des vergangenen Jahres eine Sanktion aufgrund bestimmter Pflichtverletzungen auferlegt wurde.

Wirksamkeit von Sanktionen

In der Praxis ist nur ein geringer Anteil der Leistungsbeziehenden von Sanktionen betroffen. Der Anteil der erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden mit mindestens einer gültigen Sanktion an allen erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden zum jeweiligen Stichtag lag im Jahresdurchschnitt zwischen 2007 und 2019 durchschnittlich bei 3 Prozent pro Monat. Alternativ zu dieser monatlichen Betrachtungsweise kann man darauf blicken, welcher Anteil der erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden innerhalb eines Jahres mindestens einmal sanktioniert wurde. Diese seit 2017 ausgewiesene Sanktionsverlaufsquote lag 2018 beispielsweise bei 8,6 Prozent. Im Zeitraum nach dem Urteil des BVerfG wurden Sanktionen deutlich seltener ausgesprochen: Die Sanktionsverlaufsquote lag 2023 bei 2,6 Prozent, die Quote gemessen an der Gesamtheit aller erwerbsfähigen Leistungsbeziehenden lag im Juni 2024 bei 0,7 Prozent. Mit rund 88 Prozent wurden die allermeisten der zuletzt neu ausgesprochenen Sanktionen nicht aufgrund von Pflichtverletzungen, sondern wegen Meldeversäumnissen verhängt.

Wie ist die Wirksamkeit der Sanktionen im Hinblick auf die Ziele der Grundsicherung aus wissenschaftlicher Sicht zu beurteilen? Sanktionen konkretisieren den Grundsatz des Forderns. Somit ist die Wirksamkeit von Sanktionen zunächst daran zu messen, ob sie unmittelbar zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit von Leistungsbeziehenden – insbesondere durch die Integration in Arbeit – und zur Einhaltung der auf dieses Ziel ausgerichteten Pflichten beitragen. Darüber hinaus können von Sanktionen auch „Nebenwirkungen“ ausgehen, die in einem mittelbaren Zusammenhang mit diesen Zielen stehen können.

Sanktionen können aus theoretischer Sicht auf zwei Arten wirken: Zum einen können sie durch die Minderung der Leistung bewirken, dass Personen beispielsweise intensiver nach Beschäftigung suchen. Dies wird als „Ex-post-Effekt“ einer Sanktion bezeichnet. Zum anderen kann bereits die Möglichkeit einer Sanktionierung eine solche Wirkung entfalten, ohne dass einer Person die Leistung tatsächlich gemindert wurde. Dies wird als „Ex-ante-Effekt“ bezeichnet.

Bei den dargestellten Untersuchungen ist überdies zu unterscheiden zwischen Kausalanalysen einerseits, die anstreben, mithilfe statistischer Methoden die kausale Wirkung von Sanktionen zu analysieren. Andererseits gibt es eine Reihe von Befragungsstudien, die quantitative Befragungen und qualitative Interviews nutzen. Letztere können wertvolle Hinweise auf die Wirksamkeit von Sanktionen liefern. Allerdings können diese Ergebnisse nicht hinsichtlich der kausalen Wirkung von Sanktionen interpretiert werden. In den beiden folgenden Absätzen gehe ich näher auf ausgewählte Studien ein, die zumeist Zeiträume vor dem Urteil des BVerfG betrachten.

Arbeitsmarktintegration und Mitwirkung

Durch verschiedene Kausalanalysen ist vergleichsweise gut belegt, dass Leistungsbeziehende nach einer Sanktion schneller Beschäftigung aufnehmen, es also einen positiven Ex-post-Effekt gibt. So zeigt beispielsweise eine Studie zu in Westdeutschland lebenden unter 25-jährigen Männern, dass sowohl eine erste Sanktion infolge eines Meldeversäumnisses und noch stärker infolge einer Pflichtverletzung die Übergangsrate aus dem Leistungsbezug in Beschäftigung erhöht. Allerdings findet eine Studie für über 25-jährige Leistungsbeziehende auch, dass eine erste Sanktion aufgrund einer Pflichtverletzung die Stabilität der aufgenommenen Beschäftigung verringert. Die Folge davon ist, dass sich zwei bis drei Jahre nach einer solchen Sanktion eine negative Wirkung auf die Beschäftigungswahrscheinlichkeit zeigt.

Weniger gut belegt ist die Ex-ante-Wirkung von Sanktionen. Eine Studie zu über 25-jährigen Leistungsbeziehenden zeigt, dass von Sanktionen die erwartete Ex-ante-Wirkung ausgeht. Hierfür nutzt die Studie die vorhergesagte individuelle Wahrscheinlichkeit, aufgrund eines Meldeversäumnisses oder einer Pflichtverletzung sanktioniert zu werden. Je höher diese Wahrscheinlichkeit ist, desto schneller gehen Leistungsbeziehende in Beschäftigung über.

Neben diesen Kausalanalysen geben Befragungen von Leistungsbeziehenden Hinweise darauf, dass Sanktionen für die Einhaltung der Pflichten relevant sind. Bei einer in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Befragung äußerte die große Mehrheit der sanktionierten Leistungsbeziehenden Verständnis dafür, dass das Jobcenter mit Kürzungen drohe und dass ohne eine solche Drohung „alle machen würden, was sie wollen“. In einer im Herbst 2022 durchgeführten Befragung stimmten immerhin rund 29 Prozent der befragten Leistungsbeziehenden der Aussage zu, dass Vereinbarungen mit den Beratern ohne Sanktionen nicht verbindlich seien. In zwei Befragungen von Fachkräften in verschiedenen Jobcentern in Nordrhein-Westfalen, die bereits nach dem Urteil des BVerfG durchgeführt wurden, sprachen sich diese zudem deutlich gegen eine Aussetzung von Sanktionen beziehungsweise verminderte Sanktionen im Bürgergeld aus. Dies deutet darauf hin, dass Fachkräfte Sanktionen einen hohen Stellenwert für ihre tägliche Arbeit einräumen.

Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die Zweckmäßigkeit von Sanktionen von ihrer Höhe abhängt. In einer mit Fachkräften durchgeführten Interviewstudie zu den damals gültigen Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige hielten nur vier der 26 Befragten die hohen Sanktionen aufgrund wiederholter Pflichtverletzungen für richtig. Alle anderen sahen diese als zu scharf an. Gesehen wurde hier auch ein Widerspruch zwischen einer kompletten Leistungsstreichung und dem Ziel der Arbeitsmarktintegration, beispielsweise wenn Leistungsbeziehende ihre Wohnung nach einer Sanktion verlieren. Hingegen wurden niedrigere Sanktionen aufgrund von Meldeversäumnissen am ehesten positiv bewertet, da sie zum Beispiel die Beziehung zwischen Fachkraft und Leistungsbeziehenden verbindlicher machten.

Zudem gibt es Belege, dass von Sanktionen nichtintendierte Wirkungen ausgehen können. Eine Studie zu in Westdeutschland lebenden unter 25-jährigen Männern zeigt unter anderem, dass sich alleinstehende Personen nach Sanktionen aufgrund von Pflichtverletzungen rascher komplett vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Ähnlich berichteten in der Befragung in Nordrhein-Westfalen über 25-Jährige mit hohen Sanktionen häufiger als solche mit niedrigen Sanktionen, dass sie den Kontakt zum Jobcenter abgebrochen hätten.

Zusammengefasst zeigen diese Ergebnisse, dass von Sanktionen durchaus die intendierte arbeitsmarktpolitische Wirkung ausgeht. So tragen Sanktionen zu einer schnelleren Beschäftigungsaufnahme und zur Einhaltung der Pflichten bei. Allerdings können sie auch für die Arbeitsmarktintegration kontraproduktive Wirkungen entfalten, zum Beispiel, wenn sich Sanktionierte vom Arbeitsmarkt zurückziehen.

„Nebenwirkungen“

Als mögliche Nebenwirkung von Sanktionen werden häufiger nachteilige Auswirkungen auf die Beschäftigungsqualität diskutiert. Zwei Studien lieferten hierfür Belege: Die eine zeigt, dass bei einer Beschäftigungsaufnahme das Tagesentgelt von sanktionierten Leistungsbeziehenden im Vergleich zu nicht sanktionierten Leistungsbeziehenden etwas geringer ausfällt. Die andere findet zudem, dass die Beschäftigungsqualität, zum Beispiel im Hinblick auf die Höhe des Einkommens, auch über einen längeren Zeitraum von fünf Jahren nach der Sanktion geringer ist. Komplexer scheint die Lage bei der Ex-ante-Wirkung zu sein. So zeigt die oben genannte Studie eine nicht-lineare Ex-ante-Wirkung: Bei einer vergleichsweise niedrigen Sanktionswahrscheinlichkeit ist beispielsweise das Erwerbseinkommen niedriger als bei einer etwas höheren Sanktionswahrscheinlichkeit. Bei einer noch höheren Sanktionswahrscheinlichkeit sinkt das Erwerbseinkommen jedoch wieder.

Zuletzt finden sich in den Befragungsstudien eine Reihe von Hinweisen auf weitere Nebenwirkungen, die insbesondere im Zeitraum der Sanktionierung selbst auftreten können. So berichteten sanktionierte Leistungsbeziehende, dass sie sich im Hinblick auf die Qualität der Ernährung einschränken müssen und regelmäßige Ausgaben wie Miete, Zinsen für Immobilien oder Stromrechnungen nicht pünktlich zahlen können. Zudem können Sanktionen Schuldenprobleme verschärfen. Vereinzelt gibt es auch Hinweise darauf, dass Personen nach einer Sanktion Kleinkriminalität oder Schwarzarbeit nachgehen. Aus Interviews mit unter 25-jährigen Leistungsbeziehenden ergibt sich, dass insbesondere Alleinlebende nach hohen Sanktionen vom Sperren der Energieversorgung oder von Wohnungsverlust bedroht sein können. Vier der zehn interviewten Personen, deren Leistungen vollständig gestrichen wurden, berichteten, dass sie ihre Wohnung verloren haben und vorübergehend in Obdachlosenunterkünfte ziehen mussten. Zudem können Sanktionen zur psychischen Belastung und Überforderung der Betroffenen beitragen und die angestrebte Aktivierung so behindert werden. Besonders bei hohen Sanktionen berichteten Leistungsbeziehende, dass sie sich mehr Sorgen um ihre Situation machen und die Kürzung als sehr belastend empfinden.

Fazit

In Summe sprechen die Forschungsergebnisse für eine ausgewogene Ausgestaltung der Sanktionsregelungen. Einerseits dürften sehr hohe Sanktionen, die zu einer Streichung des Regelbedarfs oder zum Wegfall aller Leistung führen, in den allermeisten Fällen nicht zur Arbeitsmarktintegration der Betroffenen beitragen. Aus Sicht der Forschung ist die Einschränkung solch hoher Sanktionen, wie sie nach dem Urteil des BVerfG stattfand, deshalb zu begrüßen. Andererseits liefern die Forschungsergebnisse keine Begründung dafür, Sanktionen in der Grundsicherung vollständig abzuschaffen. Vielmehr sollten Sanktionsregelungen so ausgestaltet sein, dass sie zwar Anreize zur Arbeitsaufnahme und zur Mitwirkung aufrechterhalten, aber starke Einschränkungen der Lebensbedingungen der Betroffenen und die damit einhergehenden Folgen vermeiden.

Mit der Einführung des Bürgergeldes 2023 wurden die Sanktionsregelungen über die Maßgaben des BVerfG hinaus entschärft. Ob von diesen Sanktionsregelungen eine maßgebliche Wirkung auf die Arbeitsmarktintegration und die Einhaltung der Pflichten ausgeht, ist eine offene Frage. Zugleich könnten solche Entschärfungen dazu beitragen, dass Nebenwirkungen auf die Beschäftigungsqualität und die Lebensverhältnisse der Betroffenen verringert oder vermieden werden. Weitere Forschung zur Wirksamkeit von Sanktionen unter den Bedingungen des Bürgergeldes ist notwendig, um hierzu genauere Aussagen treffen zu können.

Auch wenn Sanktionen ein wichtiges Element einer auf den Prinzipien des „Förderns und Forderns“ ausgerichteten Grundsicherung sind: Sie sind kein Allheilmittel. Leistungsbeziehende in der Grundsicherung sind mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert, die ihre Arbeitsmarktintegration erschweren. Hierzu zählen beispielsweise geringe formale Bildung sowie sprachliche, gesundheitliche und familiäre Probleme. Die Bewältigung solcher Herausforderungen bedarf einer auf die individuellen Problemlagen ausgerichteten Aktivierung, zu der insbesondere die intensive Begleitung durch die Integrationsfachkräfte und der zielgenaue Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente gehören.

Die jüngst wieder aufgeflammte Debatte um eine Verschärfung der Sanktionsregelungen ist ein Beispiel dafür, dass dieser Komplexität oft nicht Rechnung getragen wird. Denn es fehlen Anhaltspunkte dafür, dass Leistungsbeziehende im großen Stil jegliche Mitwirkung verweigern, wie dies in der Diskussion um die vermeintlichen „Totalverweigerer“ anklingt. Solche Debatten orientieren sich zu wenig an den gewichtigsten Herausforderungen der Grundsicherung und scheinen eher Ausdruck eines immer wiederkehrenden Narrativs vom „faulen Arbeitslosen“ zu sein, das häufig vor Wahlen Konjunktur hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine ausführliche Darstellung dieser Sanktionsregelungen vgl. Joachim Wolff/Andreas Moczall, Übergänge von ALG-II-Beziehern in die erste Sanktion, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB-Forschungsbericht 11/2012.

  2. Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sanktionsregelungen im Sozialrecht. Gesetzliche Änderungen der Sanktionsregelungen im BSHG, SGB II und SGB XII, Berlin 2019.

  3. Der tatsächlich ausbezahlte Regelbedarf kann geringer ausfallen als der maßgebende Regelbedarf, zum Beispiel aufgrund der Anrechnung von verfügbarem Erwerbseinkommen.

  4. Bei besonders hohen Sanktionen gab es verschiedene Milderungsmöglichkeiten, zum Beispiel die Bereitstellung von Lebensmittelgutscheinen. Leistungsbeziehende konnten gegen die Sanktion klagen oder Widerspruch einlegen. Dies hatte allerdings keine aufschiebende Wirkung.

  5. Vgl. zum Beispiel Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 18/6128, 24.9.2015; BT-Drs. 19/2748, 14.6.2018.

  6. Vgl. BVerfGE (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) 152, 68 (Sanktionen im Sozialrecht), 5.11.2019.

  7. Vgl. Bundesagentur für Arbeit (BA), Statistik: Leistungsminderungen Deutschland, West/Ost und Länder (Zeitreihe Monats- und Jahreszahlen ab 2007).

  8. Vgl. BA, Grundlagen: Methodenbericht. Jährliche Sanktionsverlaufsquote, April 2020, S. 16.

  9. Vgl. BA, Statistik: Leistungsminderungen Deutschland, West/Ost, Länder und Jobcenter (Monatszahlen).

  10. Vgl. BVerfGE (Anm. 6).

  11. Vgl. Veronika Knize/Markus Wolf/Joachim Wolff, Zentrale Befunde aus Studien zu Sanktionen im SGB II mit einem Fokus auf Sanktionswirkungen und Sanktionswahrscheinlichkeit, IAB-Forschungsbericht 17/2022.

  12. Vgl. beispielsweise Bernhard Boockmann/Stephan L. Thomsen/Thomas Walter, Intensifying the Use of Benefit Sanctions: An Effective Tool to Increase Employment?, in: IZA Journal of Labor Policy 3/2014, Artikelnr. 21, Externer Link: https://doi.org/10.1186/2193-9004-3-21; Gerard J. van den Berg/Arne Uhlendorff/Joachim Wolff, Sanctions for Young Welfare Recipients, in: Nordic Economic Policy Review 1/2014, S. 177–208; Gerard J. van den Berg/Arne Uhlendorff/Joachim Wolff, The Impact of Sanctions for Young Welfare Recipients on Transitions to Work and Wages, and on Dropping Out, in: Economica 353/2022, S. 1–28; Markus A. Wolf, Persistent or Temporary? Effects of Social Assistance Benefit Sanctions on Employment Quality, in: Socio-Economic Review 3/2024, S. 1531–1557.

  13. Vgl. van den Berg et al. 2022 (Anm. 12).

  14. Vgl. Wolf (Anm. 12).

  15. Vgl. ders., Ex-ante-Effekte von Sanktionen in der Grundsicherung: Bereits die Möglichkeit einer Sanktionierung zeigt Wirkung, IAB-Kurzbericht 15/2024.

  16. Vgl. Helmut Apel/Dietrich Engels, Unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach §31 SGB II und nach dem SGB III in NRW, Köln 2013.

  17. Vgl. Matthias Collischon et al., Eine Mehrheit in der Bevölkerung befürwortet Sanktionen mit Augenmaß, 20.12.2023, Externer Link: http://www.iab-forum.de/eine-mehrheit-in-der-bevoelkerung-befuerwortet-sanktionen-mit-augenmass.

  18. Vgl. Fabian Beckmann et al., Erfahrungsbilanz Bürgergeld: Jobcenterbeschäftigte sehen kaum Verbesserungen, in: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW Wochenbericht 17/2024, S. 251–259; Fabian Beckmann et al., Hartz-IV-Reformvorschlag: Weder sozialpolitischer Meilenstein noch schleichende Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, in: DIW aktuell 58/2021, S. 1–8.

  19. Vgl. Susanne Götz/Wolfgang Ludwig-Mayerhofer/Franziska Schreyer, Sanktionen im SGB II: Unter dem Existenzminimum, IAB-Kurzbericht 10/2010.

  20. Vgl. van den Berg et al. 2022 (Anm. 12).

  21. Vgl. Apel/Engels (Anm. 16).

  22. Vgl. van den Berg et al. 2022 (Anm. 12).

  23. Vgl. Wolf (Anm. 12).

  24. Vgl. Wolf (Anm. 15).

  25. Vgl. Apel/Engels (Anm. 16); Franziska Schreyer/Franz Zahradnik/Susanne Götz, Lebensbedingungen und Teilhabe von jungen sanktionierten Arbeitslosen im SGB II, in: Sozialer Fortschritt 9/2012, S. 213–220.

  26. Vgl. Apel/Engels (Anm. 16).

  27. Vgl. ebd.; Schreyer/Zahradnik/Götz (Anm. 25).

  28. Vgl. Götz/Ludwig-Mayerhofer/Schreyer (Anm. 19); Schreyer/Zahradnik/Götz (Anm. 25).

  29. Vgl. Schreyer/Zahradnik/Götz (Anm. 25).

  30. Vgl. ebd. Auch in der Studie von Apel/Engels (Anm. 16) gibt es hierzu Hinweise.

  31. Vgl. Apel/Engels (Anm. 16).

  32. Vgl. Knize/Wolf/Wolff (Anm. 11).

  33. Vgl. Frank Oschmiansky, Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch, in: APuZ 6–7/2003, S. 10–16.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Markus Wolf für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierter Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Den vorliegenden Beitrag hat er als freier Autor verfasst.