Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Soziale Kontrolle, Normen und Sanktionen | Sanktionen | bpb.de

Sanktionen Editorial Alternative zum Krieg? Sanktionen als Instrument in der internationalen Politik Ziel verfehlt? Bilanz der Sanktionen gegen Russland Wie Sanktionen wirken. Eine iranische Perspektive Soziale Kontrolle, Normen und Sanktionen. Eine soziologische Perspektive Strafrechtliche Sanktionen in Deutschland. Normative Grundlagen und Anwendungspraxis Sanktionen in der Grundsicherung. Aktuelle Entwicklung und empirische Befunde

Soziale Kontrolle, Normen und Sanktionen Eine soziologische Perspektive

Birgit Menzel

/ 16 Minuten zu lesen

Soziale Kontrolle soll gewährleisten, dass die Mitglieder einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft sich an die jeweils geltenden Regeln halten. Somit ist sie wesentlich für den Erhalt sozialer Gefüge, ihre Veränderung kann aber auch gesellschaftliche Entwicklungen prägen.

„Soziale Kontrolle bezieht sich auf die Bemühungen einer Gruppe oder einer Gesellschaft, das Verhalten ihrer Mitglieder auf Konformität mit etablierten Normen auszurichten.“ Mit diesem Satz leitet Fritz Sack im „Lehrbuch der Soziologie“ seine Erläuterung des Begriffs ein und bringt damit auch die Relevanz zum Ausdruck, die soziale Kontrolle für soziale Gefüge hat: Soziale Kontrolle soll dafür sorgen, dass die Mitglieder einer Gruppe, einer Organisation oder einer Gesellschaft sich an die jeweils geltenden Regeln halten. Sie leistet somit einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt der sozialen Gefüge, denn Interaktion, gemeinsames Handeln, setzt Regelmäßigkeit und Erwartbarkeit voraus. Jedes soziale Gefüge entwickelt und etabliert Normen: Verhaltensregeln, die die Mitglieder befolgen soll(t)en. Normen und soziale Kontrolle sind also unmittelbar miteinander verknüpft. Zudem weisen beide Begriffe einen direkten Zusammenhang mit der Entstehung und dem Erhalt sozialer Gefüge auf, infolgedessen haben sie die Soziologie von Beginn an geprägt.

Begriff und Gegenstand der Soziologie

Als Urheber des Begriffs „soziale Kontrolle“ gilt Edward Ross, der sein 1901 erschienenes Buch „Social Control. A Survey of the Foundations of Order“ betitelte und damit die gesellschaftliche Relevanz sozialer Kontrolle hervorhob. Zunächst wurde der Begriff vor allem in der US-amerikanischen Soziologie weiterentwickelt. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten Robert E. Park und Ernest W. Burgess, die alle Prozesse als soziale Kontrolle definierten, „mit deren Hilfe Individuen zur Kooperation in dem dauerhaft bestehenden Kollektiv, das wir Gesellschaft nennen, veranlasst werden“. Park und Burgess legten jedoch auch den Grundstein für eine langjährige und bis heute andauernde Auseinandersetzung, indem sie drei Typen sozialer Kontrolle identifizierten: elementare soziale Kontrolle (Zeremonien), kommunikative Kontrolle (öffentliche Meinung) und institutionelle Kontrolle (Gesetze und Gerichtsbarkeit). Kritisiert wurde die Typologie Parks und Burgess’ insbesondere wegen der nahezu unbegrenzten Ausweitung des Begriffs „soziale Kontrolle“, die ihn für analytische Zwecke untauglich mache. Eine bis heute einflussreiche Eingrenzung legten Mitte der 1960er Jahre Alexander L. Clark und Jack P. Gibbs vor: Nicht alles, was „auf irgendeine Weise zur sozialen Ordnung beitragen“ könne, sei soziale Kontrolle, sondern nur das, was auf als abweichend definiertes Verhalten oder auf die Vorwegnahme abweichenden Verhaltens reagiere. Dazu gehöre „sowohl Überanpassung an wie Verletzung von Normen“.

Mit dieser Festlegung wird der unmittelbare Zusammenhang zwischen Normen und sozialer Kontrolle deutlich, ziehen doch Normen die Grenze zwischen „Normalität“ beziehungsweise „Normkonformität“ und „Abweichung“. Unterschieden wird dabei nach dem Grad der Verbindlichkeit, mit dem eine Norm gilt, der wiederum an der Härte oder Schärfe deutlich wird, mit der Normverstöße sanktioniert werden:

  • Verstöße gegen Kann-Normen, etwa Bräuche und Gewohnheiten, werden allenfalls schwach sanktioniert, auf sie wird beispielsweise mit Missbilligung durch das soziale Umfeld reagiert.

  • Auf Verstöße gegen Soll-Normen wie sittliche Gebote folgen schärfere Sanktionen, die bis zum völligen Abbruch sämtlicher Beziehungen und zum Ausschluss aus dem sozialen Gefüge führen können. In der Soziologie wird das auch als „sozialer Tod“ bezeichnet.

  • Verstöße gegen Muss-Normen, beispielsweise Gesetze, werden in einem festgelegten Verfahren und mit rechtlich festgeschriebenen Strafen sanktioniert.

Die Auflistung weist auf eine weitere begriffliche Unterscheidung hin: die zwischen informeller und formeller sozialer Kontrolle. Als formelle Kontrolle gilt die Kontrolle durch zumeist staatliche Instanzen wie Polizei, Justiz oder Jugendämter, während informelle Kontrolle durch Personen oder Gruppen aus dem sozialen Umfeld ausgeübt wird, also beispielsweise durch die Familie, die Nachbarschaft, den Freundeskreis oder Kolleg*innen. Allerdings unterscheiden sich formelle und informelle Kontrolle im Hinblick auf ihre Durchsetzungsmacht. Während die staatlichen Instanzen weitreichende Sanktionen verhängen und damit Teilhabechancen entziehen können – etwa durch Haft- oder Geldstrafen –, haben informelle Kontrollinstanzen nur bedingt Mittel zur Verfügung, mit denen sie die Durchsetzung des geltenden Ordnungsverständnisses erzwingen können.

Unabhängig von der Unterscheidung zwischen formeller und informeller Kontrolle haben beide Varianten etwas gemeinsam: Sie richten sich von außen an das kontrollierte Individuum. Norbert Elias zufolge bildet dagegen die (zunehmende) Selbstkontrolle eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der Zivilisation. Soziale Kontrolle werde „zunächst durch gesellschaftliche Fremdzwänge gewährleistet, die später durch ansozialisierte Selbstzwänge ersetzt werden. Intrinsische, normgeleitete Motivationen ersetzen extrinsische, sanktionsorientierte Motivationen.“ Heinrich Popitz spricht davon, dass „Sollansprüche (…) aus einer Zumutung von außen zu einer ‚Selbstverständlichkeit von innen‘ werden“ können. Zu unterscheiden ist also zwischen Fremdkontrolle und Selbstkontrolle (Tabelle), wobei Letztere als Folge der Verinnerlichung sozialer Normen und somit als Ergebnis gelungener Sozialisation gilt.

Rolle von Sanktionen

Fremdkontrolle lebt von Sanktionen, das gilt für die formelle wie für die informelle soziale Kontrolle. Während in den Rechtswissenschaften der Sanktionsbegriff negativ belegt ist, eine Sanktion also gleichgesetzt wird mit einer Strafe, kennt die Soziologie zumindest der Terminologie nach auch positive Sanktionen, die dem Individuum für normgerechtes Verhalten Vorteile verschaffen. Beide Arten der Sanktionierung setzen ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Kontrollierenden und Kontrollierten voraus, auf dem die Durchsetzbarkeit der Sanktionierung beruht: Die Kontrollierenden müssen „Mittel haben, um dem Normbrecher Nachteile zufügen zu können, oder wenigstens ihren Besitz vortäuschen können, um die Nachteile androhen zu können“.

Die Vorstellung von positiven Sanktionen lässt sich allenfalls bedingt mit der Feststellung in Einklang bringen, dass soziale Kontrolle eine Reaktion auf tatsächliches oder erwartetes abweichendes Verhalten ist. Insofern stehen auch aus soziologischer Perspektive negative Sanktionen, insbesondere Strafen, im Zentrum der Beschäftigung mit sozialer Kontrolle. Strafen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die bestraften Personen degradieren und ihre sozialen Teilhabechancen verringern. Dass auch Prävention – also Versuche, Abweichungen von Normalitätsstandards, die das Funktionieren des Individuums in der und für die Gesellschaft beeinträchtigen, möglichst frühzeitig zu unterbinden – einen in diesem Sinne strafenden Charakter entfalten kann, zeigt ein Blick auf entsprechende Maßnahmen aus dem Gesundheitsbereich. Dort wurden vielfältige Vorsorgeuntersuchungen implementiert mit dem Ziel, zukünftigen Einschränkungen oder Erkrankungen – und damit auch Kosten – vorzubeugen. Die Nicht-Inanspruchnahme mancher angebotenen Vorsorgeuntersuchung wird sanktioniert: So bekommt, wer nicht nachweisbar jährlich bei der zahnärztlichen Untersuchung war, seit 2005 nur noch den Regelsatz in Höhe von 50 Prozent der entstandenen Kosten für Zahnersatz von der Krankenkasse erstattet. Abhängig von der Höhe des Einkommens und/oder Vermögens kann diese Entscheidung des Gesetzgebers Teilhabechancen verringern, gegebenenfalls auch Betroffene sozial degradieren, wenn etwa der Zahnersatz nicht finanziert werden kann. Insgesamt kommt die Maßnahme damit einer Bestrafung im oben definierten Sinn ziemlich nahe.

Manche Regelungen verbinden Gesundheitsprävention auch unmittelbar mit staatlicher Kontrolle im engeren Sinn. In Nordrhein-Westfalen etwa schreibt die Verordnung zur Datenmeldung der Teilnahme an Kinderfrüherkennungsuntersuchungen seit 2008 vor, dass die Daten von Kindern, die nicht an den Früherkennungsuntersuchungen teilgenommen haben, an die „zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe“ übermittelt werden. Ähnliche Regelungen, die Gesundheitsprävention unmittelbar in staatliche Kontrolle überführen, finden sich in vielen anderen Bundesländern. Ziel ihrer Einführung war es, vor allem Kinder „vor Gefahren, Gewalt und Missbrauch“ zu schützen, dabei richtete man sich insbesondere auf die als Risikogruppen identifizierten Kinder mit „Migrationshintergrund“ und „niedrigem Sozialstatus“.

Selektivität formeller sozialer Kontrolle

Die Tatsache, dass hier sogenannte Risikogruppen identifiziert und zum Objekt von Kontrolle werden, verweist darauf, dass die Einhaltung gesellschaftlicher Normen nicht umfassend, sondern immer selektiv kontrolliert wird. Diese Selektivität ist, so Heinrich Popitz, zunächst einmal grundsätzlich notwendig. Keine Gesellschaft könne alle Normabweichungen kontrollieren, sie würde sich selbst destabilisieren, sei „unmöglich“. Popitz begründet diese Feststellung mit folgenden Argumenten:

Vollständige Verhaltenstransparenz sei nicht durchsetzbar, sie träfe auf Widerstand. Popitz unterscheidet zwischen „subjektiven“ und „objektiven Sperren“. Als objektive Sperren sieht er die Grenzen des organisatorisch und technisch Machbaren. Die subjektiven Sperren ergeben sich aus den Autonomieforderungen des modernen Individuums, das sich gegen eine umfassende Verhaltenskontrolle wehre. Eine unbegrenzte Verhaltenstransparenz würde jegliches soziale Vertrauen beschädigen und damit die sozialen Gefüge zerstören. Eine (gewisse) Selektivität der sozialen Kontrolle ist insofern funktional für den Erhalt der sozialen Systeme.

Vollständige Verhaltenstransparenz würde auch das Normensystem beschädigen. Zum einen würde die Kontrolle und damit das Aufdecken jeder Normabweichung die Geltung der jeweiligen Norm zerstören: „Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren.“ Zum anderen würde eine Gesellschaft, in der Normabweichungen grundsätzlich wahrgenommen und sanktioniert werden, statisch. Jede Gesellschaft braucht ein gewisses Maß an Normabweichungen zur Weiterentwicklung. Nur wenn diese übersehen werden können, kann sich Neues entwickeln, das dann möglicherweise irgendwann zur neuen Norm wird. Eine (gewisse) Selektivität der sozialen Kontrolle ist insofern funktional für den Erhalt und die Weiterentwicklung des Normensystems.

Schließlich würde, so Popitz’ drittes Argument, vollständige Verhaltenstransparenz auch das Sanktionierungssystem zerstören. Zum einen wirkten auch hier Grenzen des organisatorisch Machbaren, das Sanktionierungssystem würde, wenn jede Normabweichung kontrolliert und sanktioniert werden müsste, wegen Arbeitsüberlastung „sanktionsmüde“, es könnte sogar zusammenbrechen. Zum zweiten, und das ist das weiterreichende Argument, würde Strafe ihre beeindruckende Wirkung verlieren: „Wenn auch der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird, verliert die Strafe ihr moralisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend.“ Eine (gewisse) Selektivität der sozialen Kontrolle ist insofern funktional für den Erhalt des Sanktionierungssystems.

Soziale Kontrolle von Normabweichungen, Sanktionen im weiteren und Strafen im engeren Sinne hängen also aus guten Gründen allenfalls mittelbar zusammen, soziale Kontrolle muss selektiv sein. Ein Blick in die Praxis der im weiteren Sinn formellen sozialen Kontrolle zeigt allerdings, dass deren Selektivität den (fast) immer gleichen Merkmalen folgt. Die Begründung der Regelung zur U-Untersuchung-Teilnahmedaten-Verordnung ist nur ein Beispiel von vielen, die zeigen, dass soziale Kontrolle zu großen Teilen sozial selektiv ist. Als besonders relevant erweisen sich dabei zwei Arten von Personenmerkmalen: erstens solche, die dazu führen, dass Menschen als „fremd“ wahrgenommen werden können – etwa der „Migrationshintergrund“. So erhöht die Zugehörigkeit zu einer als „fremd“ wahrgenommenen Personengruppe die Anzeigebereitschaft der Opfer und Zeug*innen von Straftaten deutlich. Zweitens sind Angehörige unterer sozialer Schichten einem vergleichsweise höheren Sanktionierungsrisiko ausgesetzt.

Deutlich wird in der Tabelle auch, dass Selbst- und Fremdkontrolle die Annahme eines rational abwägenden Individuums zugrunde liegt, das etwaige Kosten und den Nutzen seiner Handlungsentscheidungen bewusst kalkuliert. Auf Normverstöße, die aus spontanen Affekten resultieren, lassen sich die Unterscheidungen nicht anwenden. Zudem ist der Grundgedanke, dass die gesellschaftlichen Fremdzwänge im Zuge der Sozialisation durch Selbstzwänge ersetzt werden, nur so lange unproblematisch, wie man von der Existenz eines weitgehend widerspruchsfreien Normensystems ausgeht.

Diese Widerspruchsfreiheit ist in einer modernen pluralistischen Gesellschaft nicht gegeben, die von einer „Vielfalt unterschiedlicher, zum Teil gegensätzlicher Weltanschauungen, Werte, Interessen, Lebensstile und Verhaltensweisen“ sowie einer Ausdifferenzierung in autonome Subsysteme – Erziehungs-, Bildungs-, Wirtschafts-, politisches System und so weiter – und Sozialschichten geprägt ist. Für die Gesellschaftsmitglieder entstehen in dieser modernisierungstheoretischen Perspektive aus der Tatsache, dass sie nie nur einem, sondern immer einer ganzen Reihe von Subsystemen angehören, individuelle Freiheiten, weil niemand mehr das Handeln des Individuums in seiner Gänze überblicken kann. Anders als in traditionellen Gesellschaften, in denen das Ausmaß sozialer Kontrolle durch das soziale Umfeld hoch, weil umfassend, war, kann sich das Individuum in der modernen Gesellschaft der umfassenden Kontrolle entziehen, was individuelle Spielräume im Hinblick auf die Lebensgestaltung eröffnet. Zudem kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass alle Mitglieder der Gesellschaft im Laufe der Sozialisation die gleichen Wert- und Normorientierungen erwerben, weil unterschiedliche Sozialisationsverläufe möglich werden.

Um trotzdem soziale Stabilität herzustellen und damit den Erhalt der Gesellschaft zu sichern, sollen zum Beispiel das Erziehungs-, Bildungs- und das Rechtssystem für eine Angleichung der Wert- und Handlungsorientierungen sorgen. Dem Rechtssystem wird dabei eine besondere Bedeutung zugeschrieben: „Die Beziehungen der Bürger werden in modernen Gesellschaften durch allgemein gültige Normen, durch Vertrag und Recht, geregelt.“ Jenseits aller Kritik, mit der die Modernisierungstheorie konfrontiert ist, liefert sie eine Erklärung dafür, warum staatliche Kontrollinstanzen mit einer großen Macht zur Sanktionierung und damit zur Durchsetzung des geltenden Normverständnisses ausgestattet werden: Sie dient aus einer solchen Perspektive zum einen dem Schutz der Individuen, indem Konflikte institutionalisiert geregelt und nicht mit Willkür oder Gewalt beendet werden, zum anderen dient sie dem Erhalt der geltenden gesellschaftlichen Ordnung – um es mit Edward Ross’ Buchtitel zu sagen: Sie sichert das „Fundament der Ordnung“.

Technisierung und Digitalisierung

Angesichts der grundlegenden Bedeutung sozialer Kontrolle sind soziale, politische, wirtschaftliche und technische Entwicklungen immer auch mit Veränderungen der Mechanismen sozialer Kontrolle verwoben. Kritisch beobachtet werden Kontrollmechanismen und ihre Veränderungen im Hinblick auf mit ihnen verbundene Folgen für individuelle Freiheiten, aber auch für die Verfasstheit der Gesellschaft insgesamt. So gilt die sich ab den 1970er Jahren ausbreitende Videoüberwachung des öffentlichen Raums als ein Beispiel für Überwachungstechniken, die dazu führen, dass Kontrolle für die Kontrollierten gleichzeitig sichtbar und unsichtbar wird: Die Kamera ist immer da, ob aber jemand das von der Kamera übertragene Bild wahrnimmt, ob sie gerade beobachtet werden, ist für die Kontrollierten nicht zu erkennen. Vergleichbar ist diese Situation mit jener der Gefangenen in einem Gefängnis, das nach dem Modell des Panoptikons gebaut ist: Im ständigen Bewusstsein der Tatsache, dass jemand sie sehen könnte, passen die Individuen ihr Verhalten an die Normen an, sie disziplinieren sich selbst. In Anlehnung an Michel Foucault wird eine Gesellschaft, die nach Überwachungsprinzipien funktioniert, als „Disziplinargesellschaft“ bezeichnet. Im Unterschied zur Annahme der Internalisierung von Normen im Zuge der Sozialisation steht hinter der Selbstdisziplinierung in der Disziplinargesellschaft die Sanktionsdrohung einer mächtigen Instanz. Zentraler (wenn auch nicht einziger) Bezugspunkt bleibt damit die formelle Sozialkontrolle.

Betrachtet man aktuellere Entwicklungen, so zeigt sich, dass die digitale Transformation soziale Kontrolle tiefgreifender beeinflusst, als es die beispielhaft genannten Überwachungstechniken getan haben. Für den Bereich der formellen sozialen Kontrolle sei hier nur verwiesen auf die Diskussion über das sogenannte Predictive Policing oder über Software, die Aussagen trifft über Rückfallwahrscheinlichkeiten von Straftäter*innen, um Richter*innen bei der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung zu unterstützen. Da diese Anwendungen auf Datensammlungen aus der Vergangenheit zurückgreifen, reproduzieren sie vorhandene Vorurteile – der frühere Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Peter Schaar spricht von „algorithmischer Diskriminierung“ –, verstärken damit den dargestellten Bias der formellen sozialen Kontrolle und tragen so gegebenenfalls auch zur Legitimation und Verstärkung vorhandener sozialer Ungleichheit bei.

Bei aller politischen Kritikwürdigkeit sind diese Entwicklungen letztlich „nur“ eine Fortsetzung dessen, was auch vor der Nutzung digitaler Prognosesoftware formelle soziale Kontrolle gekennzeichnet hat: an sozialen Merkmalen orientierte Selektivität. Sie formen soziale Kontrolle nicht entscheidend neu. Andere Entwicklungen haben jedoch durchaus das Potenzial, soziale Kontrolle grundlegend zu verändern. So wirken Fitness-Tracker, die spielerische Belohnungselemente wie die Vergabe von Punkten oder das Erreichen neuer Levels und Feedbackfunktionen beinhalten, als Autorität, wobei für die Nutzer*innen unklar bleibt, auf welche Basis sich die Autorität beruft, die die einzuhaltende Norm setzt und ihre Einhaltung kontrolliert. Trotzdem ist sie – obwohl keine staatliche Instanz – durchsetzungsmächtig, insbesondere dann, wenn die eigenen Fitness-Daten über Online-Plattformen mit anderen geteilt werden. Dadurch werden die Übergänge zwischen Selbst- und Fremdkontrolle fließend, es entsteht ein „digitales Geflecht aus technischer Kontrolle, Selbstkontrolle und sozialer Kontrolle“.

War die Nachverfolgung des Aufenthaltsorts lange staatlichen Kontrollinstanzen vorbehalten, zum Beispiel im Rahmen von Observation oder mit einer elektronischen Fußfessel, werden GPS-Tracking-Funktionen von Smartphone-Apps oder Wearables heute auch privat genutzt: Eltern überwachen damit den Aufenthaltsort ihrer Kinder, Paare teilen in Echtzeit ihren Standort, Familienmitglieder kontrollieren den Aufenthaltsort demenzkranker Angehöriger. Wie und zu welchem Zweck solche Anwendungen genutzt werden, variiert. Unabhängig davon bedeuten sie aber eine Veränderung der Kontrollpraktiken und ermöglichen auch Akteur*innen informeller Kontrolle Einblicke in das Verhalten der Kontrollierten, die ohne die Technologien nicht möglich wären. Für die Kontrollierten gilt, dass sie sich gegenüber dieser Kontrolle kaum behaupten können, entweder, weil sie machtunterworfen sind und sich der Aufforderung zur Standortteilung fügen müssen, etwa jüngere Kinder, oder aber, weil sie sich moralischem Druck nicht entziehen können („Was ist denn dabei, Du hast doch nichts zu verbergen – oder?“).

Strafen durchzusetzen, ist zwar formal betrachtet nach wie vor der staatlichen Kontrolle vorbehalten. Mit der Ausbreitung digitaler und insbesondere sozialer Medien gewinnt aber eine Variante informeller Kontrolle an Macht: Das sogenannte Public Shaming kann Betroffene nachhaltig degradieren und ihre Teilhabechancen deutlich reduzieren, wenn sie öffentlich zur Persona non grata erklärt werden oder infolge der Bloßstellung ihren Arbeitsplatz verlieren. Zu beobachten ist zudem eine Ausbreitung des Vigilantismus, in dem digital organisierte Bürgerwehren mithilfe von Meldeportalen (vermeintlich) Normabweichende jenseits des staatlichen Gewaltmonopols verfolgen. Dabei muss es sich nicht um Verstöße gegen Rechtsnormen handeln, sondern verfolgt werden auch Verstöße gegen moralische Normen, die von den Betreibenden der Plattformen und den Nutzer*innen für sanktionswürdig erachtet werden. Daniel Trottier, Qian Huang und Rashid Gabdulhakow bezeichnen solche Phänomene als „stay-at-home vigilantism“ und sprechen vom „Court of Public Opinion“, in dem die „Abweichenden“ verurteilt und sanktioniert werden.

Das zuletzt genannte Beispiel verweist auf eine weitreichende Veränderung sozialer Kontrolle: Verfügten in der modernen Gesellschaft bislang nur die staatlichen Instanzen, also die formelle Kontrolle, über starke Mittel zur Erzwingung des geltenden Ordnungsverständnisses, finden sich solche Mittel nun auch (wieder) aufseiten der informellen Kontrolle. Doch im Gegensatz zur traditionellen Gesellschaft ist das kontrollierende soziale Umfeld nicht mehr auf den Lebensraum beschränkt, beruht die „Verflechtung der Menschen (…) nicht darauf, dass sie in einem gemeinsamen geografischen Raum leben“. Geht eine öffentliche Diskreditierung viral, erreicht sie sehr viel mehr Menschen als eine gerichtliche Verurteilung (von prominenten Ausnahmen vielleicht abgesehen), zudem ist sie kaum noch aus der Welt zu bekommen. Die „kommunikative Kontrolle“ kehrt damit in einem neuen Gewand und durch die neuen Technologien mit mehr Macht ausgestattet zurück.

Gilles Deleuze hat den Begriff der „Kontrollgesellschaft“ geprägt für Gesellschaften, in denen die Individuen durch ein „allgegenwärtiges Netzwerk verschiedener Technologien und Gelegenheiten“ kontrolliert werden. Er entwirft damit die Dystopie einer von den Interessen eines fortentwickelten Kapitalismus geprägten Herrschaftsform, deren Ziel die Anpassung der Menschen an die Regeln des Konsums ist und der nicht zu entkommen ist. Das Beispiel der Fitness-Tracker ließe sich hier noch einordnen, aber bei der privaten Nutzung des GPS-Trackings ebenso wie beim Public Shaming verfolgen die Kontrollierenden gegebenenfalls ganz andere Kontrollzwecke. Insofern ist Nils Zurawski zu folgen, wenn er schreibt, dass das Modell der Kontrollgesellschaft – ebenso wie das der Disziplinargesellschaft – ausgeht von „einer asymmetrischen Beziehung, meist zwischen einem herrschenden Staat und einer beherrschten Bevölkerung oder einer kapitalistischen Großunternehmenskrake und den nahezu ohnmächtigen Konsument:innen“, hinter der Unterschiede zwischen konkreten Varianten sozialer Kontrolle und ihrer jeweiligen Zwecke verschwinden. Diese konkreten Varianten einschließlich ihrer unterschiedlichen Zwecke und der Handlungsmotive sowohl der Kontrollierenden als auch derjenigen, die kontrolliert werden und sich gegebenenfalls sogar wissentlich kontrollieren lassen, wären zu untersuchen, um die Zusammenhänge zwischen sozialer Kontrolle und Digitalisierung erfassen zu können. Die Technologie trage ihre Zwecke nicht in sich, sie könne sowohl kontrollierend als auch emanzipierend eingesetzt werden.

Unabhängig davon, dass dieser Feststellung sicherlich zuzustimmen ist, bleiben doch hinsichtlich der digitalen informellen Kontrolle zwei Fragen offen. Zum einen stellt sich die Frage nach den Folgen sozialer Kontrolle in und durch digitale Medien: Die Annahme, dass digitale soziale Kontrolle Freiräume im Hinblick auf Verhaltensweisen, Lebensstile und so weiter (wieder) einengt, ist verbreitet. Unerheblich sei dabei, ob das Individuum tatsächlich überwacht würde, die Vorstellung, dass es überwacht werden könnte, reiche dafür aus. Unter anderem Byung-Chul Han spricht deswegen auch vom „digitalen Panoptikum“. Welche sozialisierenden und gegebenenfalls auch kontrollierenden Einflüsse zum Beispiel KI-Chatbots, die soziale Beziehungen simulieren, haben (können), bleibt abzuwarten.

Die zweite offene Frage betrifft die Kontrolle der Kontrollierenden. In einem demokratischen Rechtsstaat muss sich auch die formelle Kontrolle kontrollieren lassen – darüber, wie gut oder schlecht diese Forderung eingelöst ist, kann und muss politisch immer wieder gestritten werden. Für die informelle Kontrolle in der digitalen Öffentlichkeit ist sie zum derzeitigen Stand nicht hinreichend beantwortet, was auch damit zu tun hat, dass sich eine solche Kontrolle der Kontrollierenden in einem hochkomplexen Geflecht aus individuellen Freiheitsrechten, überwiegend nationalstaatlich geregelten Persönlichkeits- und Datenschutzrechten sowie den (echten oder vermeintlichen) Geschäftsgeheimnissen und -interessen der hinter den meisten Anwendungen stehenden, weltweit agierenden Konzerne bewegen muss.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Fritz Sack, Abweichung und Kriminalität, in: Hans Joas/Steffen Mau (Hrsg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt/M.–New York 20204, S. 275–319, hier S. 290.

  2. Teile des folgenden Textes basieren auf älteren Beiträgen: Birgit Menzel, Notat Soziale Kontrolle, in: Kriminologisches Journal 1/2019, S. 72–78; dies./Jan Wehrheim, Soziologie Sozialer Kontrolle, in: Georg Kneer/Markus Schroer (Hrsg.), Handbuch Spezielle Soziologien, Wiesbaden 2010, S. 509–524.

  3. Robert E. Park/Ernest W. Burgess, Introduction to the Science of Sociology, Chicago–London 1970 [1921], S. 42 (eig. Übersetzung).

  4. Vgl. ebd., S. 368.

  5. Alexander L. Clark/Jack P. Gibbs, Soziale Kontrolle: Eine Neuformulierung, in: Klaus Lüderssen/Fritz Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten I: Die selektiven Normen der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1975, S. 153–185, hier: S. 157f.

  6. Vgl. Werner Fuchs-Heinritz, Sozialer Tod, in: Héctor Wittwer/Daniel Schäfer/Andreas Frewer (Hrsg.), Handbuch Sterben und Tod. Geschichte – Theorie – Ethik, Berlin 20204, S. 155–158.

  7. Siehe auch den Beitrag von Jörg Kinzig in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  8. Vgl. Helge Peters, Soziale Probleme und soziale Kontrolle, Wiesbaden 2002, S. 115.

  9. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976.

  10. Volker Eichener, Ratio, Kognition und Emotion, in: Zeitschrift für Soziologie 5/1989, S. 346–361, hier S. 356.

  11. Heinrich Popitz, Soziale Normen, in: Europäisches Archiv für Soziologie 2/1961, S. 185–198, hier S. 197.

  12. Vgl. Michael R. Gottfredson/Travis Hirschi, A General Theory of Crime, Stanford 1990.

  13. Hubert Treiber, Sanktionspotenzial, in: Daniela Klimke et al. (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 20206, S. 678.

  14. Vgl. Karl F. Schumann, Zeichen der Unfreiheit. Zur Theorie und Messung sozialer Sanktionen, Freiburg/Br. 1968, S. 26ff.

  15. Heidrun Thaiss et al., Früherkennungsuntersuchungen als Instrument im Kinderschutz, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 10/2010, S. 1029–1047, hier S. 1029, S. 1031.

  16. Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968, nachgedruckt in: Daniela Klimke/Aldo Legnaro (Hrsg.), Kriminologische Grundlagentexte, Wiesbaden 2016, S. 34–46.

  17. Ebd., S. 39.

  18. Vgl. Émile Durkheim, Regeln der soziologischen Methode. Soziologische Texte 3, Neuwied/Rh. 1961 [1895], nachgedruckt in: Klimke/Legnaro (Anm. 16), S. 26–31, hier S. 30f.

  19. Popitz (Anm. 16), S. 43.

  20. Vgl. Claudius Ohder, Sanktion und Strafe, in: Peter Heinrich/Jochen Schulz zur Wiesch, Wörterbuch zur Mikropolitik, Wiesbaden 1998, S. 238–241, hier S. 239.

  21. Vgl. Jürgen Mansel/Günter Albrecht, Die Ethnie des Täters als ein Prädiktor für das Anzeigeverhalten von Opfern und Zeugen, in: Soziale Welt 3/2003, S. 339–372.

  22. Vgl. z.B. Dorothee Peters, Richter im Dienst der Macht, Stuttgart 1973; Birgit Menzel/Helge Peters, Sexuelle Gewalt. Eine definitionstheoretische Untersuchung, Konstanz 2003; Ronen Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich, Berlin 2022.

  23. Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 20075, S. 683f.

  24. Ansgar Weymann, Interaktion, Institution und Gesellschaft, in: Joas/Mau (Anm. 1), S. 171–207, hier S. 196.

  25. Edward Ross, Social Control. A Survey of the Foundations of Order, New York 1901.

  26. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994.

  27. Peter Schaar, Überwachung, Algorithmen und Selbstbestimmung, in: Harald Gapski/Monika Oberle/Walter Staufer (Hrsg.), Medienkompetenz. Herausforderungen für Politik, politische Bildung und Medienbildung, Bonn 2017, S. 73–81.

  28. Vgl. zusammenfassend z.B. Claude-Hélène Mayer, Voreingenommenheit, Vorurteile und Scham in der prädiktiven Polizeiarbeit, in: dies./Elisabeth Vanderheiden/Paul T.P. Wong (Hrsg.), Scham 4.0, Cham 2024, S. 117–139.

  29. Vgl. Ramón Reichert, Digitale Selbstvermessung – Verdatung und soziale Kontrolle, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2/2015, S. 66–77.

  30. Ebd., S. 72.

  31. Vgl. Sarah Berg/Jan Wehrheim, Parental Control Technologies und die Überwachung kindlicher Mobilität, in: suburban – Zeitschrift für kritische Stadtforschung 3–4/2021, S. 105–121.

  32. Daniel Trottier/Qian Huang/Rashid Gabdulhakow, Digital Media, Denunciation and Shaming. The Court of Public Opinion, London–New York 2025 (Open-access-Version 2024), S. 1.

  33. Volker Boehme-Neßler, Das Ende der Demokratie?, Berlin 2018, S. 7.

  34. Park/Burgess (Anm. 3).

  35. Vgl. Gilles Deleuze, Das elektronische Halsband. Innenansicht der kontrollierten Gesellschaft, in: Kriminologisches Journal 3/1992, S. 181–186.

  36. Nils Zurawski, Überwachen und konsumieren. Kontrolle, Normen und soziale Beziehungen in der digitalen Gesellschaft, Bielefeld 2021, S. 22.

  37. Ebd., S. 23.

  38. Byung-Chul Han, Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt/M., S. 18.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Birgit Menzel für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Professorin für Sozialwissenschaften und Prodekanin für Studium und Lehre der Fakultät Wirtschaft und Soziales an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.