„Soziale Kontrolle bezieht sich auf die Bemühungen einer Gruppe oder einer Gesellschaft, das Verhalten ihrer Mitglieder auf Konformität mit etablierten Normen auszurichten.“
Begriff und Gegenstand der Soziologie
Als Urheber des Begriffs „soziale Kontrolle“ gilt Edward Ross, der sein 1901 erschienenes Buch „Social Control. A Survey of the Foundations of Order“ betitelte und damit die gesellschaftliche Relevanz sozialer Kontrolle hervorhob. Zunächst wurde der Begriff vor allem in der US-amerikanischen Soziologie weiterentwickelt. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisteten Robert E. Park und Ernest W. Burgess, die alle Prozesse als soziale Kontrolle definierten, „mit deren Hilfe Individuen zur Kooperation in dem dauerhaft bestehenden Kollektiv, das wir Gesellschaft nennen, veranlasst werden“.
Mit dieser Festlegung wird der unmittelbare Zusammenhang zwischen Normen und sozialer Kontrolle deutlich, ziehen doch Normen die Grenze zwischen „Normalität“ beziehungsweise „Normkonformität“ und „Abweichung“. Unterschieden wird dabei nach dem Grad der Verbindlichkeit, mit dem eine Norm gilt, der wiederum an der Härte oder Schärfe deutlich wird, mit der Normverstöße sanktioniert werden:
Verstöße gegen Kann-Normen, etwa Bräuche und Gewohnheiten, werden allenfalls schwach sanktioniert, auf sie wird beispielsweise mit Missbilligung durch das soziale Umfeld reagiert.
Auf Verstöße gegen Soll-Normen wie sittliche Gebote folgen schärfere Sanktionen, die bis zum völligen Abbruch sämtlicher Beziehungen und zum Ausschluss aus dem sozialen Gefüge führen können. In der Soziologie wird das auch als „sozialer Tod“ bezeichnet.
Verstöße gegen Muss-Normen, beispielsweise Gesetze, werden in einem festgelegten Verfahren und mit rechtlich festgeschriebenen Strafen sanktioniert.
Die Auflistung weist auf eine weitere begriffliche Unterscheidung hin: die zwischen informeller und formeller sozialer Kontrolle. Als formelle Kontrolle gilt die Kontrolle durch zumeist staatliche Instanzen wie Polizei, Justiz oder Jugendämter, während informelle Kontrolle durch Personen oder Gruppen aus dem sozialen Umfeld ausgeübt wird, also beispielsweise durch die Familie, die Nachbarschaft, den Freundeskreis oder Kolleg*innen. Allerdings unterscheiden sich formelle und informelle Kontrolle im Hinblick auf ihre Durchsetzungsmacht. Während die staatlichen Instanzen weitreichende Sanktionen verhängen und damit Teilhabechancen entziehen können – etwa durch Haft- oder Geldstrafen –,
Unabhängig von der Unterscheidung zwischen formeller und informeller Kontrolle haben beide Varianten etwas gemeinsam: Sie richten sich von außen an das kontrollierte Individuum. Norbert Elias zufolge bildet dagegen die (zunehmende) Selbstkontrolle eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der Zivilisation.
Rolle von Sanktionen
Fremdkontrolle lebt von Sanktionen, das gilt für die formelle wie für die informelle soziale Kontrolle. Während in den Rechtswissenschaften der Sanktionsbegriff negativ belegt ist, eine Sanktion also gleichgesetzt wird mit einer Strafe, kennt die Soziologie zumindest der Terminologie nach auch positive Sanktionen, die dem Individuum für normgerechtes Verhalten Vorteile verschaffen. Beide Arten der Sanktionierung setzen ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Kontrollierenden und Kontrollierten voraus, auf dem die Durchsetzbarkeit der Sanktionierung beruht: Die Kontrollierenden müssen „Mittel haben, um dem Normbrecher Nachteile zufügen zu können, oder wenigstens ihren Besitz vortäuschen können, um die Nachteile androhen zu können“.
Die Vorstellung von positiven Sanktionen lässt sich allenfalls bedingt mit der Feststellung in Einklang bringen, dass soziale Kontrolle eine Reaktion auf tatsächliches oder erwartetes abweichendes Verhalten ist. Insofern stehen auch aus soziologischer Perspektive negative Sanktionen, insbesondere Strafen, im Zentrum der Beschäftigung mit sozialer Kontrolle. Strafen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die bestraften Personen degradieren und ihre sozialen Teilhabechancen verringern.
Manche Regelungen verbinden Gesundheitsprävention auch unmittelbar mit staatlicher Kontrolle im engeren Sinn. In Nordrhein-Westfalen etwa schreibt die Verordnung zur Datenmeldung der Teilnahme an Kinderfrüherkennungsuntersuchungen seit 2008 vor, dass die Daten von Kindern, die nicht an den Früherkennungsuntersuchungen teilgenommen haben, an die „zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe“ übermittelt werden. Ähnliche Regelungen, die Gesundheitsprävention unmittelbar in staatliche Kontrolle überführen, finden sich in vielen anderen Bundesländern. Ziel ihrer Einführung war es, vor allem Kinder „vor Gefahren, Gewalt und Missbrauch“ zu schützen, dabei richtete man sich insbesondere auf die als Risikogruppen identifizierten Kinder mit „Migrationshintergrund“ und „niedrigem Sozialstatus“.
Selektivität formeller sozialer Kontrolle
Die Tatsache, dass hier sogenannte Risikogruppen identifiziert und zum Objekt von Kontrolle werden, verweist darauf, dass die Einhaltung gesellschaftlicher Normen nicht umfassend, sondern immer selektiv kontrolliert wird. Diese Selektivität ist, so Heinrich Popitz, zunächst einmal grundsätzlich notwendig.
Vollständige Verhaltenstransparenz sei nicht durchsetzbar, sie träfe auf Widerstand. Popitz unterscheidet zwischen „subjektiven“ und „objektiven Sperren“. Als objektive Sperren sieht er die Grenzen des organisatorisch und technisch Machbaren. Die subjektiven Sperren ergeben sich aus den Autonomieforderungen des modernen Individuums, das sich gegen eine umfassende Verhaltenskontrolle wehre. Eine unbegrenzte Verhaltenstransparenz würde jegliches soziale Vertrauen beschädigen und damit die sozialen Gefüge zerstören. Eine (gewisse) Selektivität der sozialen Kontrolle ist insofern funktional für den Erhalt der sozialen Systeme.
Vollständige Verhaltenstransparenz würde auch das Normensystem beschädigen. Zum einen würde die Kontrolle und damit das Aufdecken jeder Normabweichung die Geltung der jeweiligen Norm zerstören: „Kein System sozialer Normen könnte einer perfekten Verhaltenstransparenz ausgesetzt werden, ohne sich zu Tode zu blamieren.“
Schließlich würde, so Popitz’ drittes Argument, vollständige Verhaltenstransparenz auch das Sanktionierungssystem zerstören. Zum einen wirkten auch hier Grenzen des organisatorisch Machbaren, das Sanktionierungssystem würde, wenn jede Normabweichung kontrolliert und sanktioniert werden müsste, wegen Arbeitsüberlastung „sanktionsmüde“, es könnte sogar zusammenbrechen. Zum zweiten, und das ist das weiterreichende Argument, würde Strafe ihre beeindruckende Wirkung verlieren: „Wenn auch der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird, verliert die Strafe ihr moralisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend.“
Soziale Kontrolle von Normabweichungen, Sanktionen im weiteren und Strafen im engeren Sinne hängen also aus guten Gründen allenfalls mittelbar zusammen,
Deutlich wird in der Tabelle auch, dass Selbst- und Fremdkontrolle die Annahme eines rational abwägenden Individuums zugrunde liegt, das etwaige Kosten und den Nutzen seiner Handlungsentscheidungen bewusst kalkuliert. Auf Normverstöße, die aus spontanen Affekten resultieren, lassen sich die Unterscheidungen nicht anwenden. Zudem ist der Grundgedanke, dass die gesellschaftlichen Fremdzwänge im Zuge der Sozialisation durch Selbstzwänge ersetzt werden, nur so lange unproblematisch, wie man von der Existenz eines weitgehend widerspruchsfreien Normensystems ausgeht.
Diese Widerspruchsfreiheit ist in einer modernen pluralistischen Gesellschaft nicht gegeben, die von einer „Vielfalt unterschiedlicher, zum Teil gegensätzlicher Weltanschauungen, Werte, Interessen, Lebensstile und Verhaltensweisen“
Um trotzdem soziale Stabilität herzustellen und damit den Erhalt der Gesellschaft zu sichern, sollen zum Beispiel das Erziehungs-, Bildungs- und das Rechtssystem für eine Angleichung der Wert- und Handlungsorientierungen sorgen. Dem Rechtssystem wird dabei eine besondere Bedeutung zugeschrieben: „Die Beziehungen der Bürger werden in modernen Gesellschaften durch allgemein gültige Normen, durch Vertrag und Recht, geregelt.“
Technisierung und Digitalisierung
Angesichts der grundlegenden Bedeutung sozialer Kontrolle sind soziale, politische, wirtschaftliche und technische Entwicklungen immer auch mit Veränderungen der Mechanismen sozialer Kontrolle verwoben. Kritisch beobachtet werden Kontrollmechanismen und ihre Veränderungen im Hinblick auf mit ihnen verbundene Folgen für individuelle Freiheiten, aber auch für die Verfasstheit der Gesellschaft insgesamt. So gilt die sich ab den 1970er Jahren ausbreitende Videoüberwachung des öffentlichen Raums als ein Beispiel für Überwachungstechniken, die dazu führen, dass Kontrolle für die Kontrollierten gleichzeitig sichtbar und unsichtbar wird: Die Kamera ist immer da, ob aber jemand das von der Kamera übertragene Bild wahrnimmt, ob sie gerade beobachtet werden, ist für die Kontrollierten nicht zu erkennen. Vergleichbar ist diese Situation mit jener der Gefangenen in einem Gefängnis, das nach dem Modell des Panoptikons gebaut ist: Im ständigen Bewusstsein der Tatsache, dass jemand sie sehen könnte, passen die Individuen ihr Verhalten an die Normen an, sie disziplinieren sich selbst. In Anlehnung an Michel Foucault wird eine Gesellschaft, die nach Überwachungsprinzipien funktioniert, als „Disziplinargesellschaft“ bezeichnet.
Betrachtet man aktuellere Entwicklungen, so zeigt sich, dass die digitale Transformation soziale Kontrolle tiefgreifender beeinflusst, als es die beispielhaft genannten Überwachungstechniken getan haben. Für den Bereich der formellen sozialen Kontrolle sei hier nur verwiesen auf die Diskussion über das sogenannte Predictive Policing oder über Software, die Aussagen trifft über Rückfallwahrscheinlichkeiten von Straftäter*innen, um Richter*innen bei der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung zu unterstützen. Da diese Anwendungen auf Datensammlungen aus der Vergangenheit zurückgreifen, reproduzieren sie vorhandene Vorurteile – der frühere Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Peter Schaar spricht von „algorithmischer Diskriminierung“
Bei aller politischen Kritikwürdigkeit sind diese Entwicklungen letztlich „nur“ eine Fortsetzung dessen, was auch vor der Nutzung digitaler Prognosesoftware formelle soziale Kontrolle gekennzeichnet hat: an sozialen Merkmalen orientierte Selektivität. Sie formen soziale Kontrolle nicht entscheidend neu. Andere Entwicklungen haben jedoch durchaus das Potenzial, soziale Kontrolle grundlegend zu verändern. So wirken Fitness-Tracker, die spielerische Belohnungselemente wie die Vergabe von Punkten oder das Erreichen neuer Levels und Feedbackfunktionen beinhalten, als Autorität,
War die Nachverfolgung des Aufenthaltsorts lange staatlichen Kontrollinstanzen vorbehalten, zum Beispiel im Rahmen von Observation oder mit einer elektronischen Fußfessel, werden GPS-Tracking-Funktionen von Smartphone-Apps oder Wearables heute auch privat genutzt: Eltern überwachen damit den Aufenthaltsort ihrer Kinder, Paare teilen in Echtzeit ihren Standort, Familienmitglieder kontrollieren den Aufenthaltsort demenzkranker Angehöriger. Wie und zu welchem Zweck solche Anwendungen genutzt werden, variiert.
Strafen durchzusetzen, ist zwar formal betrachtet nach wie vor der staatlichen Kontrolle vorbehalten. Mit der Ausbreitung digitaler und insbesondere sozialer Medien gewinnt aber eine Variante informeller Kontrolle an Macht: Das sogenannte Public Shaming kann Betroffene nachhaltig degradieren und ihre Teilhabechancen deutlich reduzieren, wenn sie öffentlich zur Persona non grata erklärt werden oder infolge der Bloßstellung ihren Arbeitsplatz verlieren. Zu beobachten ist zudem eine Ausbreitung des Vigilantismus, in dem digital organisierte Bürgerwehren mithilfe von Meldeportalen (vermeintlich) Normabweichende jenseits des staatlichen Gewaltmonopols verfolgen. Dabei muss es sich nicht um Verstöße gegen Rechtsnormen handeln, sondern verfolgt werden auch Verstöße gegen moralische Normen, die von den Betreibenden der Plattformen und den Nutzer*innen für sanktionswürdig erachtet werden. Daniel Trottier, Qian Huang und Rashid Gabdulhakow bezeichnen solche Phänomene als „stay-at-home vigilantism“ und sprechen vom „Court of Public Opinion“, in dem die „Abweichenden“ verurteilt und sanktioniert werden.
Das zuletzt genannte Beispiel verweist auf eine weitreichende Veränderung sozialer Kontrolle: Verfügten in der modernen Gesellschaft bislang nur die staatlichen Instanzen, also die formelle Kontrolle, über starke Mittel zur Erzwingung des geltenden Ordnungsverständnisses, finden sich solche Mittel nun auch (wieder) aufseiten der informellen Kontrolle. Doch im Gegensatz zur traditionellen Gesellschaft ist das kontrollierende soziale Umfeld nicht mehr auf den Lebensraum beschränkt, beruht die „Verflechtung der Menschen (…) nicht darauf, dass sie in einem gemeinsamen geografischen Raum leben“.
Gilles Deleuze hat den Begriff der „Kontrollgesellschaft“
Unabhängig davon, dass dieser Feststellung sicherlich zuzustimmen ist, bleiben doch hinsichtlich der digitalen informellen Kontrolle zwei Fragen offen. Zum einen stellt sich die Frage nach den Folgen sozialer Kontrolle in und durch digitale Medien: Die Annahme, dass digitale soziale Kontrolle Freiräume im Hinblick auf Verhaltensweisen, Lebensstile und so weiter (wieder) einengt, ist verbreitet. Unerheblich sei dabei, ob das Individuum tatsächlich überwacht würde, die Vorstellung, dass es überwacht werden könnte, reiche dafür aus. Unter anderem Byung-Chul Han spricht deswegen auch vom „digitalen Panoptikum“.
Die zweite offene Frage betrifft die Kontrolle der Kontrollierenden. In einem demokratischen Rechtsstaat muss sich auch die formelle Kontrolle kontrollieren lassen – darüber, wie gut oder schlecht diese Forderung eingelöst ist, kann und muss politisch immer wieder gestritten werden. Für die informelle Kontrolle in der digitalen Öffentlichkeit ist sie zum derzeitigen Stand nicht hinreichend beantwortet, was auch damit zu tun hat, dass sich eine solche Kontrolle der Kontrollierenden in einem hochkomplexen Geflecht aus individuellen Freiheitsrechten, überwiegend nationalstaatlich geregelten Persönlichkeits- und Datenschutzrechten sowie den (echten oder vermeintlichen) Geschäftsgeheimnissen und -interessen der hinter den meisten Anwendungen stehenden, weltweit agierenden Konzerne bewegen muss.