Die heutige Baupolitik produziert enorme Leerstände und behandelt Gebäude als Wegwerfprodukte. Das Ergebnis sind Ruinen, unbewohnt und ungenutzt, unbeachtet und unterschätzt. Wer aber wirksam gegen die Klimakatastrophe und soziale Herausforderungen vorgehen will, muss das erhalten, was bereits gebaut ist, anstatt weitere Gebäude abzureißen und neu zu bauen. Denn selbst wenn dies einen kurzfristigen Mehrwert verspricht, werden auch Neubauten schneller als gedacht dem Verfall preisgegeben. Es braucht ein grundsätzliches Umdenken und ein neues Verständnis des Planens. Gebäude sollten so entwickelt werden, dass sie vielseitig weiternutzbar sind, und – ganz gleich ob als Gebäude oder in Bauteilen – im Kreislauf bleiben.
Fetisch Neubau
Als der Club of Rome bereits 1972 die Grenzen des Wachstums deutlich beschrieb, löste er damit einen Aufschrei aus. Angesichts der Jahre des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und des Wirtschaftswunders, in denen endlich wieder so etwas wie Zuversicht aufgekommen war, stießen diese Befunde auf Empörung. Komfortanspruch, Lebensqualität und auch die Geburtenrate waren gestiegen. Der Traum, dass es den Kindern in jedem Fall besser gehen würde als einer:m selbst, dass jede:r ein sicheres Dach über dem Kopf haben würde, war nun wahr geworden. Staatliche Förderungen und gesetzliche Regelungen wie das Zweite Wohnungsbaugesetz von 1956 hatten die finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen und ermöglichten soziale Sicherheit sowie die Integration breiter Bevölkerungsschichten in den Wohlstand. Die Bauwirtschaft florierte, neue Flächen wurden erschlossen, eine zunehmende Konsumorientierung brach sich Bahn, frei nach dem Motto: höher, schneller, weiter, mehr.
In den 1990er Jahren erlebte das vereinigte Deutschland das nächste Hoch. Es wurde investiert und weitergebaut. Auch in den neuen Bundesländern sollte es "blühende Landschaften" geben. Risiken und Umweltfolgekosten wurden dabei wissentlich ausgeblendet und oft als "Öko-Spielverderberei" abgetan. Ein Narrativ, das sich bis heute hartnäckig hält.
Seit mehr als 50 Jahren wissen wir gesichert, dass die Weise, in der wir aktuell leben und wirtschaften, eine Sackgasse ist. Der sogenannte Erdüberlastungstag, der das Datum markiert, an dem die vorhandenen Ressourcen für das laufende Jahr aufgebraucht sind, liegt heute auf Deutschland bezogen bereits Anfang Mai. Das heißt, dass wir ab diesem Zeitpunkt auf Kosten des Planeten und der nächsten Generation wirtschaften und faktisch über das Maß leben, das wir uns tatsächlich leisten können. Auch der Bausektor trägt erheblich zur Überlastung der planetaren Grenzen bei. Der Bau und Betrieb von Gebäuden ist für etwa 40 Prozent der CO2-Emissionen
Dennoch dominiert das Mantra "Bauen, Bauen, Bauen" weiterhin die öffentliche Debatte rund um verfügbaren und bezahlbaren Wohnraum. Dabei wird oft vergessen, dass dies diametral zur notwendigen Klimapolitik und auch zum eigentlichen sozialen Bedarf steht. Betrachtet man die Fakten, zeigt sich, dass ein gesteigertes Neubau-Volumen die sozialen und wirtschaftlichen Fragen in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelöst hat. Die Leerstandsquote im städtischen Wohnsektor – 1,9 Prozent in den westdeutschen, 5,8 Prozent in den ostdeutschen Bundesländern –,
Im öffentlichen Wohnungsbau muss deshalb auch die Privatisierung von landes- oder stadteigenen Wohnungsbeständen als schädlicher Faktor genannt werden. Die 2021 im Koalitionsvertrag der Ampelregierung versprochene "neue Wohngemeinnützigkeit", die Stärkung von Genossenschaften oder der Griff zu Mietpreisbremsen, wären hier beispielsweise politische Werkzeuge mit wirksamem Lenkungseffekt.
Leerstand allerorten
Die deutlich steigende Mietenentwicklung der vergangenen Jahre hat zu einem Stillstand auf dem Wohnmarkt geführt. Menschen passen ihre Wohnsituation nur selten dem Bedarf ihrer Lebensphase an. Viele verbleiben in Familienhäusern und -wohnungen, obwohl diese inzwischen zu groß und zu umständlich im Unterhalt geworden sind. Oft kostet jedoch eine kleinere Wohnung mehr als die bisher bewohnte.
So bleibt wertvolle Wohnfläche ungenutzt, und gleichzeitig wird immer mehr Wohnraum produziert. In der Regel entsteht er in neu ausgewiesenen Gebieten, sprich mit neuem Ressourcen-, Energie- und Flächenverbrauch. Der Traum vom eigenen Haus im Grünen wird weiter genährt, und für Alternativen fehlt es oft an Vorstellungskraft und auch an Wohnangeboten. Rein rechnerisch sind dabei bereits ausreichend Einfamilienhäuser für alle Familien in Deutschland gebaut. So liegt der gesamte Wohngebäudebestand derzeit bei etwa 19 Millionen Gebäuden, 16 Millionen davon sind Ein- und Zweifamilienhäuser.
Auch die Entwicklungen im ländlichen Raum der vergangenen Jahrzehnte werfen Fragen auf. Während rund um die Städte und Dörfer immer neue Einfamilienhausgebiete ausgewiesen werden, stehen im Ortskern Gebäude leer und werden dem Verfall preisgegeben. Diese als "Donut-Effekt" beschriebene Situation führt dazu, dass sowohl für den Weg zur Arbeit als auch für jeden Einkauf und jede Verabredung der PKW genutzt werden muss und damit der individuelle Emissionsverbrauch deutlich steigt. Das Haus im Grünen ist tatsächlich gar nicht so grün wie viele meinen.
Leerstand betrifft aber nicht nur das Wohnungssegment, er ist bei Gewerbeflächen noch deutlicher zu sehen. Als Beispiel: Während in Berlin allein bis 2026 weitere 1,5 Millionen Quadratmeter neue Büroflächen gebaut werden,
Der viel beschworene Neubau ist also nicht nur ökologisch höchst kritisch zu betrachten, er liefert auch auf die sozialen und städtebaulichen Herausforderungen der Zukunft keine zufriedenstellende Antwort. Es gilt, grundlegend umzudenken: Das neue Bauen heißt, nicht mehr "neu zu bauen". Stattdessen sollte der existierende Bestand weiter- und umgenutzt, saniert oder umgebaut werden.
Baubestand erhalten
Laut einer Studie der TU Darmstadt und des Pestel Instituts könnten im Gebäudebestand 4,3 Millionen Wohneinheiten in Deutschland geschaffen werden.
Das Bauen im Bestand bietet viele Vorteile: Tragstrukturen sind vorhanden, Infrastrukturen technisch wie sozial bereits erschlossen, Transportwege zur Baustelle, aber auch zur Arbeitsstätte sind kürzer. Insgesamt müsste ein Umbau also schneller, materialeffizienter und günstiger sein. Ökologischer und sozialer ist er in jedem Fall.
Gleichzeitig sind die derzeitigen Bauvorschriften in und für Zeiten verfasst worden, in denen der Fokus auf Neubauten lag. Das Bauen im Bestand ist deshalb in Deutschland derzeit nur erschwert umsetzbar. Sobald ein Bestandsgebäude umgenutzt oder aufgestockt wird, müssen die baurechtlichen Anforderungen eines Neubaus eingehalten werden. Das führt etwa dazu, dass die geltenden Brand- und Schallschutzanforderungen auch für den Bestand gelten, wo sie aber oft nicht eins zu eins umgesetzt werden können. Entsprechende Kompensationsmaßnahmen, die die Sicherheit gewährleisten und mit der Grundstruktur vereinbar sind, erfordern oft aufwendige Einzelfallgenehmigungen. So wird ein Umbau zunächst unattraktiv, da er Planungs- und Kostenunsicherheit mit sich bringt. Ein Abriss und Neubau oder das Bauen auf der grünen Wiese als üblicher Weg scheinen in der Regel überschaubarer und rentabler – gerade weil Folgekosten für Umwelt und Gesellschaft nicht eingepreist sind.
UMBauordnung
Um den klimapolitischen Herausforderungen Rechnung zu tragen, fordert die zivilgesellschaftliche Bewegung "Architects for Future" die Betrachtung von Gebäuden im gesamten Lebenszyklus und hat mit Unterstützung etwa der Bundesarchitektenkammer Vorschläge für eine "Muster-UMBauordnung" entwickelt,
Dabei geht es in erster Linie um den Erhalt des Bestandsschutzes bei einem Umbau, aber beispielsweise auch um den Wegfall von Stellplatznachweisen oder einer neuen Auslegung der Abstandsflächenregelungen. So fordern die meisten Bauordnungen bei der Schaffung von neuen Wohnungen den Nachweis eines PKW-Stellplatzes pro Einheit, was in Ballungsgebieten, besonders bei Umnutzung oder Aufstockung, nahezu unmöglich ist. Abstandsflächen sollen die Belüftung und Belichtung von Wohnungen sicherstellen, verhindern aber oft den Ausbau eines Dachgeschosses zu Wohnraum. Auch der Anbau eines Fahrstuhls, um Wohnungen barrierefrei zu erschließen und für Menschen mit Mobilitätseinschränkung bewohnbar zu halten, wird oft ausgebremst.
Es braucht also Standards von anerkannten und erprobten Typenlösungen, um den individuellen Nachweisaufwand möglichst gering zu halten. Auch vereinfachte Umnutzungsverfahren, um beispielsweise Gewerbeflächen in Wohnraum umwidmen zu können, bringen leerstehende Flächen unkompliziert wieder in Nutzung. Hier liegt großes Potenzial. Von allen Gebäuden, die derzeit genutzt werden, wurden über 90 Prozent vor 2017 gebaut, voraussichtlich nur 8 Prozent werden bis 2030 Neubauten sein.
Abriss sichtbar machen
Obwohl wir also auf einen immensen Fundus zurückgreifen können und sich auch die Rahmenbedingungen geändert haben, bleibt die bisher übliche Praxis von Abriss und Neubau bestehen und wird kaum hinterfragt. Das Statistische Bundesamt geht von etwa 14.000 Gebäudeabrissen pro Jahr aus,
Die Aktivist:innen von "Architects for Future" wollen für diese Tatsachen ein öffentliches Bewusstsein schaffen. Gemeinsam mit dem Rechercheverbund Collectiv.org, dem Wissenschaftsteam um den Architekturtheoretiker Alexander Stumm von der Universität Kassel und die Denkmalpflegerin Luise Rellensmann von der Hochschule München fordern sie ein umfassendes Abrissmoratorium.
Der Abrissatlas und die begleitenden Recherchearbeiten der Studierenden zeigen, dass es sich dabei zu einem Großteil um Gebäude aus den 1950er bis 70er Jahren handelt. Viele müssen aus ästhetischen Gründen weichen. Andere sind durch mangelnde Investitionen in Pflege und Wartung in einem inakzeptablen Zustand, der ihren eigentlichen Wert nicht annähernd wiedergibt und auch dadurch dem Abrissbagger zum Opfer fallen. Ihnen haftet weiterhin das Urteil an, hässlich, unpraktisch und im Material schlecht zu sein. Häufig werden auch Gründe wie Flächeneffizienz oder beschränkte Nutzungsmöglichkeiten, Brand- oder Schallschutz, Barrierefreiheit oder Schadstoffe für einen Abriss angeführt. Auf den ersten Blick erscheinen die vorgebrachten Argumente oft überzeugend. Bei genauerer Betrachtung sind sie aber wenig stichhaltig. Für alle gibt es andere Lösungen, Abriss ist in den wenigsten Fällen alternativlos.
Beispiel: An der Urania 4–10
Schauen wir uns ein breit diskutiertes Fallbeispiel einer innerstädtischen Ruine an. Das ehemalige Verwaltungsgebäude "An der Urania 4–10" im westlichen Zentrum Berlins steht seit sieben Jahren leer. Der viergliedrige, zwölfgeschossige Sternbau wurde 1967 nach den Plänen der Architekten Klaus Bergner, Karlheinz Fischer und Werner Düttmann fertiggestellt.
Nun plant die städtische Wohnungsbaugesellschaft Degewo an gleicher Stelle ein neues Ensemble für Wohnen, Gewerbe und Verwaltung und reißt derzeit die bestehenden Strukturen ab. Begründungen für den Abriss sind in diesem Fall vor allem die Flächeneffizienz und Schadstoffbelastung. Im Neubau sollen etwa 24.000m2 Bruttogrundfläche entstehen, also rund 6.000m2 mehr, als aktuell im Bestand zur Verfügung stehen. Dieser Zuwachs wäre allerdings auch durch Anbauten erreichbar.
Fakt ist: Bei vielen in den 1960er und 70er Jahren entstandenen Gebäuden wurden Baustoffe wie Asbest, PAK (Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) und PCB (Polychlorierte Biphenyle) unter anderem für Bauteilverbindungen oder Brandschutz eingesetzt, die heute als Gefahrstoffe eingestuft werden. Dann heißt es, ein Abriss sei aus gesundheitlichen Gründen unvermeidbar – so auch im Beispiel an der Urania.
Schadstoffe sind wie Brandschutz, Barrierefreiheit und Energieeffizienz im Betrieb häufig genannte Totschlagargumente zur Rechtfertigung eines Abrisses. Ihnen können nur Expert:innen widersprechen. Selbstverständlich soll und darf kein Menschenleben durch die Nutzung eines Gebäudes in Gefahr geraten. Dies gelingt in der Regel aber auch mit der Weiternutzung des Bestands.
Eine Tatsache, über die in diesem Kontext wenig gesprochen wird, ist, dass alle Schadstoffe auch im Falle eines Abrisses zunächst vollständig unter erhöhten Schutzmaßnahmen entfernt und als Gefahrstoff entsorgt werden müssen, genau wie im Fall einer Sanierung. Zu einem bestimmten Punkt der Sanierung haben wir es hier also mit einer schadstofffreien, dann durchaus gebrauchstauglichen Ruine zu tun.
Für Abriss und Neubau zu argumentieren, den immensen Verbrauch an Ressourcen und Energie dafür aber zu vernachlässigen, ist in Zeiten der Klima- und Ressourcenkrise unverantwortlich und nicht mehr zeitgemäß. Die Initiative "an.ders Urania", die sich für den Erhalt des Gebäudes stark macht, berechnet in ihrer Machbarkeitsstudie, dass durch Abriss und Ersatzneubau 13.000 Tonnen CO2 freigesetzt würden. Eine Sanierung würde dagegen nur 10 Prozent dieser Emissionen verursachen.
Neue Ästhetik und Wertschöpfung
Der durch den römischen Baumeister Vitruv geprägte Dreiklang aus Haltbarkeit, Nützlichkeit und Schönheit gilt als das Selbstverständnis der Architektur. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts prägt außerdem der Leitsatz form follows function die Baukultur der Moderne und Konzeptionen bis heute. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen ist es jedoch an der Zeit, diese Ausrichtung zu überschreiben und um die ökologische und soziale Nachhaltigkeit zu erweitern. Sie muss der Orientierungspunkt, das "neue Nützlich" und das "neue Schön" sein. Es braucht eine andere Definition der Ästhetik, eine neue Baukultur, eine UM-Baukultur. Es geht dabei um die Wertschätzung des architektonischen Erbes, und zwar nicht nur der als pittoresk oder historisch bedeutend deklarierten Gebäude, sondern um den Bestand aller Jahrzehnte, als Bauerbe mit lokalen Identitäten. Es geht darum, das zu gestalten und mit dem weiterzuarbeiten, was vorhanden ist: form follows availability.
Was heute leichtfertig als wertlose Abrissmasse gilt, hat eigentlich einen beträchtlichen Wert. Ein fairer CO2-Preis oder auch die Einrechnung der Umweltfolgekosten würde hier die marktwirtschaftliche Bewertung schnell justieren. CO2 wird im Klimaschutzpaket der Bundesregierung mit derzeit 45 Euro/t beziffert.
Ähnlich steht es um die Umweltfolgekosten: Eine aktuell veröffentlichte Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) schätzt die wirtschaftlichen Kosten, die zukünftige Generationen für die klimawandelbedingte Schäden zahlen müssen, auf 38 Milliarden Dollar pro Jahr.
Können bestehende Gebäude nicht komplett um- oder weitergenutzt werden, sind sie zumindest ein wertvoller Materialspeicher. Betrachtet man die begrenzte Verfügbarkeit von Baustoffen und die Menge an Energie, die für Herstellung, Transport und Aufbau verwendet wurde, steht dies in keinem Verhältnis zu der Unbedachtheit, mit der sie zum Abriss freigegeben werden.
Wiederverwendung von Fenstern, Baubüro in situ (© Martin Zeller)
Wiederverwendung von Fenstern, Baubüro in situ (© Martin Zeller)
Ein wichtiger Baustein der Bauwende ist deshalb auch, Strategien der Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Beim sogenannten Urban Mining geht es um die mehr oder weniger 1:1-Weiternutzung von Bauteilen. Dazu entstehen derzeit neue Wirtschaftszweige und Berufsbilder: Erste "Bauteiljäger:innen" fahren durch die Republik und begutachten leerstehende Gebäude nach brauchbarem Material. Dabei kann es um ganze Dachkonstruktionen, Betonplatten oder Fenster gehen. Die ersten Lager sind bereits entstanden, in denen noch gut erhaltene Bauteile auf ihren nächsten Einsatz warten. In Deutschland mangelt es auch hier noch an Zulassungsvoraussetzungen, andere Länder wie die Schweiz oder die Niederlande zertifizieren Sekundärbaustoffe und machen bereits vor, wie etwa ein gebrauchter Stahlträger noch einmal sicher verwendet werden kann.
Auch Baumaterialien sollten möglichst gleichwertig weiterverwendet werden. Die Recyclingquote von mineralischen Baustoffen wird in Deutschland zwar mit 90 Prozent beziffert und damit als vermeintlich hoch gelobt.
Kies, Sand, Bauholz und Stahl sind schon jetzt knapp. Die damit einhergehende signifikante Preissteigerung für Baustoffe lässt auch die Baukosten explodieren und führt zu einem Stillstand in der Bauwirtschaft. Es ist daher nicht nachzuvollziehen, dass man diese noch wertvollen Materialien zerstört, wegschmeißt und dann wieder neu einkauft und rund um die Welt transportiert, obwohl sie vor Ort verfügbar sind. Eine Weiternutzung im technischen Kreislauf brächte hier Entspannung. Bei ökologischen und nachwachsenden Rohstoffen ist der Kreislauf im Übrigen bereits möglich. Lehm bleibt nahezu dauerhaft weiterverwendbar. Auch Holz, Stroh, Gräser oder Pilze bleiben als Baustoffe nach der Nutzung dem biologischen Kreislauf erhalten.
Die Einführung eines Ressourcenpasses, der im Koalitionsvertrag der Ampelregierung bereits beschlossen wurde, ist dabei zu begrüßen, wenngleich dessen Umsetzung noch aussteht. Voraussetzung ist, dass Gebäude digital dokumentiert und kreislaufgerecht konstruiert werden, sodass eine Wiederverwendung der Bauteile und Materialien möglich wird. Bestehende Gebäude würden dann nicht mehr abgerissen, sondern ressourcenschonend zurückgebaut, sodass der Bau zum Wertstofflager wird und damit einen Wert an sich erhält.
Zukunftsstrategien
Leerstehende und verfallene Gebäude im städtischen oder ländlichen Raum sind eine Herausforderung, bieten aber auch eine große Chance. Durch kreative und nachhaltige Nutzungskonzepte können sie zu wertvollen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Ressourcen werden, statt zu Ruinen zu verkommen.
Natürlich ist dabei jede:r Projektentwickler:in, jede:r Bauherr:in, jede:r Architekt:in aufgerufen, sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für zukunftsfähige Projekte zu entscheiden und dabei die Notwendigkeiten der Klima- und Ressourcenkrise sowie die soziale Gerechtigkeit zu priorisieren. Der eigene Wirkungskreis wird oft unterschätzt und ist in der Regel viel größer als angenommen. Gleichzeitig dürfen wir die Verantwortung für die Lösung der multiplen Herausforderungen nicht individualisieren und allein auf den:die Einzelne:n übertragen. Die großen Hebel für den Wandel liegen in der Politik und Wirtschaft. Davon sind viele mit wenig Aufwand umsetzbar und brächten dabei spürbaren Erfolg.
Strategien und Werkzeuge gegen den Leerstand und Verfall, für die Weiternutzung von vermeintlichen Ruinen und einer neuen Wertschätzung des Bestandes sind etwa:
Überarbeitung der aktuellen Gesetzgebung hin zu einer Umbauordnung. Der Bestandsschutz sollte im Falle einer Sanierung oder eines Umbaus gewahrt bleiben und Abrissgenehmigungen vollständig eingeführt werden. Kreislaufwirtschaft kann etwa durch die Anwendung eines digitalen Ressourcenpasses und Aufbau eines Sekundärbaustoffmarkts ermöglicht werden. Schließlich sollten Um- und Zwischennutzungen ermöglicht werden, etwa durch die rechtliche Vereinfachung für Nutzungsänderungen, um so etwa Gewerbeeinheiten in Wohnraum oder Bildungseinrichtungen umwandeln zu können.
Verschärfung der Gesetzeslage, etwa durch die Einführung von Steuern auf Leerstand, die Bepreisung des im Gebäude gebundenen CO2 im Falle eines Abrisses, die Einpreisung eines fairen CO2-Preises sowie der Umweltfolgekosten über den gesamten Lebenszyklus, einen niedrigeren Mehrwertsteuersatz auf Sanierung und die Berücksichtigung des Bausektors in Gesetzen wie dem Lieferketten- und Abfallwirtschaftsgesetz, Unterbindung von Spekulation durch Mietpreisbremsen und einer neuen Wohnungsbaugemeinnützigkeit.
Förderung von nachhaltigen Konzepten, indem man etwa klimaschädliche Subventionen umlenkt und Förderprogramme für energetische Sanierungen und Umbauten und für genossenschaftliche und gemeinwohlorientierte Projekte ausweitet. Gebiete sollten stärker reaktiviert werden, auch durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Ferner sollten Umzugsunterstützungen bei Verkleinerung der Wohnfläche bereitgestellt werden, verbunden mit gezielten Abfragen nach Bedarfen und entsprechender punktueller Nachverdichtung.
Das neue (Um-)Bauen bietet umfassende Möglichkeiten, auf die Klimakrise zu reagieren und dabei soziale Ungleichheiten zu mindern. Aus potenziellen Ruinen können so wertvolle Bausteine für Gesellschaft und Umwelt werden. Dafür braucht es den Mut der Politik, unkonventionelle Entscheidungen zu treffen und dabei auch Entschlüsse der Vergangenheit kritisch zu überdenken, gegebenenfalls laufende Prozesse zu stoppen und zukunftsfähig neu aufzusetzen, statt sich, wie im Falle des Projekts "An der Urania 4–10", die Verantwortung im Unklaren zu lassen, während auf dem Grundstück Abrissbagger weiter wertvolle Substanz vernichten.
Klima- und Umweltschutz ist kein "Nice-to-Have" mehr. 2019 wurde das Klimaschutzgesetz vom Bundestag beschlossen. Nach einer Verfassungsbeschwerde von jungen Klimaaktivist:innen, mit Unterstützung von "Fridays for Future Deutschland", der Deutschen Umwelthilfe und Greenpeace stellte das Bundesverfassungsgericht 2021 fest, dass dieses Gesetz unzureichend sei und bestätigte, dass Klimaschutz eine Frage der Generationengerechtigkeit ist. Zahlreiche Beispielprojekte zeigen bereits, dass ein Umdenken und anderes (Um-)Bauen möglich ist, ästhetisch, konstruktiv und wirtschaftlich. Wir stehen vor der Wahl, diesen Wandel als Chance mitzugestalten oder von ihm überrollt zu werden.