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Ruinen mit Zukunft | Ruinen | bpb.de

Ruinen Editorial Wachstum und Niedergang in Chinas "Geisterstädten" Eine kleine Geschichte des Ruinenmotivs Sichtbar-unsichtbare Orte. NS-Thingstätten abseits vom Erinnerungsdiskurs Konfliktraum UNESCO Ruinen mit Zukunft. Detroits Wandel im Blick Wertvolle Ruinen. Plädoyer für die Bauwende

Ruinen mit Zukunft Detroits Wandel im Blick

Juliane Borosch

/ 15 Minuten zu lesen

Aufstieg und Niedergang von Detroit haben mit dem Verfall überdimensionaler Industrieanlagen wirkmächtige Bilder und Symbole geschaffen. Die Bewohner bleiben in dieser Erzählung oft unsichtbar, obwohl ihr Engagement zur Weiterentwicklung der Stadt beiträgt.

Denkt man in Deutschland an Detroit im US-Bundesstaat Michigan, so begegnet man meistens einer von zwei Assoziationen: der ehemaligen Autostadt oder der Ruinenstadt. Während sich dieses öffentliche Image in den USA mittlerweile wandelt und faktisch in seiner Totalität auch nicht mehr zutrifft, so wirken die mentalen Bilder und Fotografien verlassener postindustrieller Landschaften und zerfallender Monumentalbauten weiter nach.

Detroit gilt nicht ohne Grund als "ikonografischste Stadt Amerikas" und wird in Mediendarstellungen und öffentlicher Wahrnehmung stellvertretend für andere, wenn nicht alle US-amerikanischen Postindustriestädte eingesetzt. Diese Darstellungen fokussieren sich häufig auf einen bestimmten Zustand des industriellen Niedergangs und des städtischen Bankrotts. Für solch eine durchdringende Kraft der Bilder, ja fast ein "kollektives (…) Vokabular visueller Ausdrücke", müssen Bilder sowohl an ein großes Publikum verbreitet werden und immer wieder eine Reihe wiedererkennbarer Symbole, Ikonen und Zeichen enthalten. Diese können dann vom Publikum erkannt, interpretiert und weitergedacht werden. Zielpublikum, Aktualität und Darstellungsweise entscheiden maßgeblich über die Wahrnehmung und Auslegung dieser Bilder.

Im Folgenden stehen Bilder und Sichtweisen in und auf Detroit im Fokus. Aufbauend auf der industriellen Geschichte und dem postindustriellen Niedergang der Stadt, der in der Kommunalinsolvenz 2013 kulminierte, liegt der Fokus auf den monumentalen, materiellen Wahrzeichen. Diese Perspektive ist jedoch nicht nur rückwärts gerichtet auf den Verfall der Gebäude und ihre äußere Stilisierung zu stadtfernen, menschenleeren, apokalyptischen Ruinenlandschaften. Vielmehr bezieht sie sich auf die andauernden Bemühungen der lokalen Bevölkerung, mit dem Image und der innerstädtischen Situation Detroits umzugehen, und lenkt den Blick auf das Zukunftspotenzial der ruinösen Wahrzeichen der Stadt, ganz im Sinne des Wahlspruchs von Detroit: Speramus Meliora; Resurget Cineribus – Wir hoffen auf Besseres; Sie soll aus der Asche auferstehen.

Industriehauptstadt des 20. Jahrhunderts

Das Interesse am Niedergang Detroits erklärt sich durch die schon vorher vorhandene Prominenz als ikonische Welt- und (Industrie)Hauptstadt des 20. Jahrhunderts, deren Vorreiterrolle im Aufschwung sich auch in ihrem Niedergang zeigen sollte. Dieser Niedergang war einer Entwicklung geschuldet, die mindestens eine des nordatlantischen Raums war, aber langfristig zum globalen Phänomen werden würde, nämlich die Abwanderung und der Zerfall der lokalen Kernindustrien. Schon allein deshalb war Detroit die Aufmerksamkeit der Welt sicher, und Postindustrieregionen in Deutschland und anderswo übertrafen sich in Abgrenzungsbekundungen getreu dem Motto "This is not Detroit".

Zum Aufstieg Detroits in den 1920er Jahren trug maßgeblich die neu entwickelte Automobilindustrie bei. Die Fabriken von Ford und General Motors waren seinerzeit das weltweit größte Ballungszentrum für diese Branche. Sie wurden zum Anziehungspunkt für Arbeitssuchende, vor allem für tausende in den Südstaaten lebende schwarze Amerikaner, eine Entwicklung, die als "Great Migration" bezeichnet wird. Zwischen 1920 und 1950 war Detroit die viertgrößte Stadt der USA und hatte am Höhepunkt ihrer industriellen Entwicklung fast zwei Millionen Einwohner. Die Stadt wurde so nicht nur Ballungsraum industrieller Innovation, sondern auch ein Zentrum der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung sowie für afroamerikanischen politischen Aktivismus.

Der überschüssige Reichtum der Industriestädte führte zu Beginn und in der Mitte des 20. Jahrhunderts auch zu städtebaulichen Ambitionen sowie zu Investitionen anderer Wirtschaftszweige, die vom Aufschwung profitierten, was sich in der Autostadt Detroit im Bau von Wolkenkratzern und anderen modischen Markenzeichen der damaligen Zeit niederschlug. Andere charakteristische Gebäude dienten der neu aufkommenden Freizeitgestaltung der Arbeiter und Bewohner dieser Städte, vom Sport bis hin zu prestigeträchtigen kulturellen Einrichtungen wie Theatern und Konzertsälen, die häufig von Industriemäzenen finanziert und errichtet wurden.

Doch waren es vor allem die gewaltigen Industriebauten, die das Stadtbild Detroits und seine Wahrnehmung in der Welt prägten. Bis heute sind viele Gebäude, die für die industrielle Produktion errichtet wurden, in ihrer Größe, Ikonografie und Pracht weiterhin herausragend. Die Menge an Ressourcen, die in der industriellen Produktion abgebaut und verwendet wurde, machte groß angelegte Bauten und neue architektonische Innovationen erforderlich, die auch die Stadtplanung und -Entwicklung beeinflussten. Mit Blick auf Detroit lassen sich beispielsweise in vielen Bereichen Parallelen zwischen der fordistischen industriellen Entwicklung und dem modernistischen Denken in Architektur und Stadtplanung nachweisen. So kann die Geschichte der modernen Architektur nicht ohne Bezugnahme auf die Entwicklung der Automobilindustrie und des Kraftverkehrs geschrieben werden. Darüber hinaus wurden viele fordistische Prinzipien der industriellen Produktion auch auf Bauprozesse sowie die Stadt- und Regionalplanung übertragen.

Es überrascht daher nicht, dass einer der Gründerväter der Industriearchitektur, Albert Kahn, in Detroit wirkte und nicht nur als "der Architekt" seiner Stadt bekannt wurde, sondern auch als führender Experte auf seinem Gebiet. Er entwarf 1908 das Automobilwerk in Highland Park, das nicht nur "das größte damals existierende Fabrikgebäude war und zu einer Ikone wurde", sondern auch das erste Werk, das um das berühmte Fließband herum konzipiert wurde. Der River Rouge Komplex, der 1928 fertiggestellt wurde, war die größte integrierte Fabrik der Welt, in der alles an einem Ort produziert werden konnte. Von Anfang an wurde die Fabrik auch zu einem Touristenmagneten. Ford bot Führungen durch das an, was man als "Höhepunkt des industriellen Fortschritts hin zur Massenproduktion" propagierte, und zwar von erhöhten Aussichtspunkten aus, um die verschiedenen Produktionsschritte nicht als Einzelteile, sondern als einen zusammenhängenden Prozess zu erleben. Ausländer, wie der deutsche Ingenieur Otto Moug in den 1920er Jahren, staunten und machten beim Besuch dieser Musterfabrik eine "erhebende, fast religiöse Erfahrung". Auch die international führenden Politiker der Zeit einte, über ideologische Grenzen hinweg, die Bewunderung für diese innovative Anlage. Bis zum Zweiten Weltkrieg und der Zeit unmittelbar danach waren Detroit und die Automobilindustrie, auch aufgrund der Produktion für den Kriegseinsatz, weiterhin führend.

Niedergang und Fetischisierung

Mit Rezessionen, Ölkrisen sowie politischen Kurswechseln und Veränderungen im Welthandel und der Industrie wendete sich das Blatt für Detroit Ende der 1950er Jahre. Städtebauliche Veränderungen im Zuge des sogenannten Urban Renewal und eine massiv einsetzende Suburbanisierung sowie eine damit einhergehende Abwanderung aus dem Stadtzentrum, vor allem der weißen Ober- und Mittelschicht und damit verbundenen Steuereinnahmen, taten ihr Übriges.

Auf den wirtschaftlichen Niedergang und die damit verbundenen finanziellen Einbußen und Funktionsverluste zahlreicher Gebäude folgte der Leerstand, Verfall und die Zerstörung vieler Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt. Hinzu kam eine fehlende historische Tiefe der Bausubstanz aus der vorindustriellen Zeit, denn Detroit wurde erst 1701 als französischer Grenzposten an der Siedlungslinie gegründet und war in der Folgezeit wiederholt Opfer von Brandschatzung. So entstand eine besonders eindrückliche Form postindustrieller Landschaft mit Blick auf Grundriss, Topografie und Leerstände. Solche Stadtlandschaften wurden gewiss nicht ganzheitlich geplant und nur teilweise vorhergesehen. Vielmehr sind sie "Akkumulationen einer Reihe von Entscheidungen, die im Laufe der Zeit getroffen wurden, jede für sich rational, und die zum aktuellen Stadium der Urbanisierung führten".

Postindustrielle Wahrzeichen zeigen an, um es mit den Worten der Amerikanistin Sherry Lee Linkon zu sagen, dass "Deindustrialisierung eine Halbwertszeit hat". Sie stellt die überzeugende These auf, dass der Übergang von einer Epoche zur nächsten, ähnlich wie bei toxischen Abfällen, nicht abgeschlossen ist, da noch Rückstände übrig sind, mit denen man umgehen muss. Von dieser "Halbwertszeit" sind materielle Überreste am offensichtlichsten: Die allmähliche Verlagerung der Industrie aus den Stadtzentren in die Vororte oder an die Peripherie während des 20. Jahrhunderts sowie der Strukturwandel generell haben viele charakteristische Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt ohne Bedeutung oder Funktion zurückgelassen – ein Zustand, den der österreichische Raumplaner Benjamin Davy als "versteinert" beschreibt.

Mit diesen verfallsbedingten "Versteinerungen" und dem einsetzenden Strukturwandel dominierten verschiedene Niedergangsnarrative die öffentliche Darstellung Detroits. Zuerst zeigten sie sich in der Berichterstattung über gewaltsame Unruhen und Straßenschlachten als Symptom von und Konsequenz aus größeren sozialen und ethnischen Krisen und Konflikten. Derartige Berichterstattungen, auch in Popkultur und Nachrichten, haben vor allem in den 1980er und 1990er Jahren wesentlich dazu beigetragen, "die kulturelle Resonanz der Angst vor dem postindustriellen städtischen Raum zu etablieren" , wie die Amerikanistin Rebecca Kinney unter Berufung auf die Arbeit des Medienwissenschaftlers Steve Macek zu "Urban Nightmares" feststellt. Diese "Landschaften der Angst", in denen Menschen noch präsent waren, wurden anschließend mehr und mehr durch ein "Drama der Landschaft", dem Narrativ der Ruinenstadt ersetzt.

Dieses Narrativ geht Hand in Hand mit dem der Maschinenstadt, das vor allem durch Detroit Techno verbreitet wurde. In diesem musikalischen Subgenre fand der Abbau von Industriearbeitsplätzen durch die fortschreitende Maschinisierung und Technologisierung einen futuristischen Ausdruck – jedoch mit einem positiven Ausblick. Denn die technologiebasierten Klänge und Rhythmen sprachen sowohl für die Resilienz der verbleibenden Bevölkerung und waren ein Beispiel "dafür, wie wichtig es ist, Technologie und neue Ideen für eine postindustrielle Zukunft anzunehmen". Dieser "machine soul music" wurde von den sogenannten Belleville Three, drei jungen afroamerikanischen DJs aus der Detroiter Party Club Szene und Mittelschicht der Weg bereitet, der sie zuerst in den postindustriellen Zentren Europas, dann global und schließlich auch in den USA populär machen sollte. In Detroit selbst bot die postindustrielle Ruinenlandschaft zahlreiche Spielorte für (illegale) Raves, die die Menschen zusammenbrachten und die verlassenen Orte zumindest temporär wiederbelebten.

Restaurierung der Michigan Central Station (© Juliane Borosch, 2021)

Mit den Bildern der Ruinen- und Maschinenstadt Detroit verschwanden fortan die Menschen komplett aus der Berichterstattung. Stattdessen repräsentierten nun verfallene Bauten die Stadt, allen voran der ehemalige Prunkbahnhof Michigan Central Station (MCS). Schon die Größe der MCS lässt auf ihre repräsentative Rolle als Abbild Detroits von Aufschwung zu Niedergang zum Wiederaufschwung schließen, denn ihre Fassade von 70 mal 105 Meter bietet genug Projektionsfläche. Das Gebäude im Beaux-Arts-Stil wurde 1913 eröffnet – im selben Jahr, in dem Henry Ford das erste Fließband einrichtete – und diente als Bürogebäude und Bahnhof. MCS sollte damals "ein Imperium heraufbeschwören" und "einen großartigen Zugang zu einer neuen und besseren Stadt bieten". Die Zunahme des Autobesitzes und des Flugverkehrs nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Rezession in der lokalen Automobilindustrie zum Ende der 1950er Jahre bedeuteten auch den Niedergang des Bahnhofs. Seine Bedeutung schwand mehr und mehr, bis zu seiner endgültigen Schließung 1988. Danach geriet das Gebäude in Verfall, da keine unmittelbare Nachnutzung gesichert war und die Besitzer nicht in den Erhalt wie beispielsweise in die Erneuerung der Fenster investierten. Aufgrund der einstigen Pracht und prominenten Lage wurde der verfallene Bahnhof zu der prototypischen Detroit-Ruine. Dies bedeutete, dass die MCS häufig als Stockfoto in Berichten über den finanziellen Niedergang und (städtebaulichen) Verfall der Stadt verwendet wurde, auch wenn der Bahnhof selbst wenig bis gar nichts mit den behandelten Problemen oder Nachrichten zu tun hatte.

In Videos und Fotos ging ein ausgewähltes Repertoire an geframten und stilisierten Ruinen um die Welt und stand nunmehr stellvertretend für Detroit. Mit dem Soziologen Rolf Lindner kann man die Stadt als kulturell kodierten Raum beschreiben, der sich aus mentalen Bildern zusammensetzt, die den physischen Raum überlagern, denn man (er)lebt diesen Raum durch seine begleitenden Bilder und Symbole. Dieses öffentliche, externe Erleben von Detroit stand oftmals nicht nur im Gegensatz zum Alltagsleben in der Stadt, sondern verhinderte lange Zeit im Herauslösen der Bilder aus ihrem Kontext und ihrer Ästhetisierung auch ihre Weiterentwicklung, etwa das Lernen aus der Geschichte und die Lösungsfindung für soziopolitische Probleme.

Im Gegenteil, es fand eine Fetischisierung des Verfalls von Detroit im populären, ästhetischen Genre des "Ruin Porn" statt. In diesem Genre werden Bilder verfallender Gebäude häufig manipuliert, indem Menschen herausgeschnitten werden und man durch Blickwinkel und Farbgebung eine möglichst tragische und dystopische Stimmung kreiert. Die Popularität und Allgegenwärtigkeit dieser Bilder führte jahrelang tausende Menschen im Zuge eines regelrecht voyeuristischen Ruinentourismus nach Detroit, um die imaginierte Einöde der gefallenen Industriemetropole zu erleben. Ruin Porn mündete auch in Ideen wie der des Fotografen Camilo Jose Vergara, der 1995 vorschlug, zwölf Straßenblöcke in Downtown Detroit in einer Art Ruinen-Themenpark zu konservieren und zu inszenieren. Er sprach, angelehnt an die untergegangenen Reiche des antiken Griechenlands und Ägyptens, von der Schaffung einer "amerikanischen Akropolis" oder einem "Tal der Monumente".

Es ist somit unverkennbar, dass die industriellen Überreste und Ruinen in Detroit eine bildgebende Qualität besitzen und selbst Wahrzeichen sind – als Identifikationsmarker, historische Zeugen und Orte, an denen über die Zukunft der Stadt entschieden wird. Sie fungieren tatsächlich und metaphorisch als Landmarken. Landmarken markieren sowohl Grenzen und sind Sicht- und Orientierungshilfen. Sie sind sichtbare Erkennungsmerkmale der bebauten und (un)natürlichen Umwelt. Sie sind jedoch auch Objekte, "die mit einem Ereignis oder einer Phase in einem Prozess verbunden sind; insbesondere ein Merkmal, eine Veränderung oder ein Ereignis, das einen Zeitraum oder einen Wendepunkt in der Geschichte einer Sache markiert". Die Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt sind Paradebeispiele für solche Prozessmarker, die einen Wendepunkt anzeigen – sowohl zum Zeitpunkt ihrer Errichtung als auch in ihrem heute unklaren zukünftigen Status und der durch sie signalisierten Handlungsaufforderung.

Reaktion von Innen

Dieser Handlungsaufforderung nimmt sich die Detroiter Bevölkerung, die in der Berichterstattung oftmals aus dem Stadtbild herausgeschrieben wurde, an. Denn im Gegensatz zu Darstellungen Detroits als verlassene Stadt ist sie auch ein "Ort der Gegenwart", und es lässt sich ein "Widerstand im kollektiven Unterbewusstsein der Stadt" gegen diese Fremdbeschreibungen feststellen. Neben der Verbreitung von Berichten von und über Menschen und Projekte aus verschiedensten Detroiter Stadtteilen und Nachbarschaften schließt dies auch eine Umgangsstrategie mit den allgegenwärtigen materiellen Überresten der Industriestadt ein. Die lokale Bevölkerung hat sich hier häufig für den Erhalt historischer Stätten und Gebäude interessiert und eingesetzt. Kleinere Stadtplanungs- und -entwicklungsunternehmen sowie NGOs nutzen ebenfalls Zuschussprogramme und Steuervorteile, die sich aus der Schaffung und Ausweisung historischer Bezirke und Gebäude ergeben, um Wahrzeichen und charakteristische Merkmale der ehemaligen Industriestadt zu erhalten, sie zu sanieren und wiederzubeleben, wie man in der Woodbridge-Nachbarschaft, der Ferry Street oder dem heutigen Sugar Hill Arts District sehen kann.

In Downtown Detroit haben private Großunternehmer im vergangenen Jahrzehnt aufgrund mangelnder städtischer finanzieller Mittel den Freiraum genutzt, Gebäude und Grundstücke zu erwerben und eine Art "Central Business District" nach ihrem Belieben zu gestalten. Beworben wurde dies mit dem Konzept der "Comeback City", einer ahistorisch-nostalgischen Neuerzählung, in der ein kleiner Teil der Stadt zurück zu alter Höchstform findet, der jedoch einen Großteil der tatsächlichen, größtenteils schwarzen Detroiter Bevölkerung ausschließt und stattdessen an der Anwerbung von Externen aus der weißen Mittel- und Oberschicht interessiert ist.

Südliches Ende der Packard Plant (© Juliane Borosch, 2021)

Detroits offizielle Lösung für den Umgang mit den Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt war lange Zeit und ist häufig immer noch ein Tabula-Rasa-Ansatz der Räumung und Sanierung oder der Ignoranz und Vernachlässigung. Diese Herangehensweise an (gebaute) Geschichte ist eine Auslegung, in der "die Vergangenheit nichts Dynamisches zu den zeitgenössischen Problemen von Form und Wachstum beizutragen hat. Wir müssen ‚bei Null anfangen‘ mit einer ‚tabula rasa‘ – was bedeutet, dass das Kulturerbe nichts weiter als ein museales Relikt ist, ohne generative Rolle in der Gegenwart". Ein Überangebot an Flächen und erhebliche Sanierungskosten, verschärft durch die fehlende Verantwortlichkeit für industrielle Hinterlassenschaften und Sanierungen durch frühere Grundstückseigentümer, haben die Nichtbeachtung riesiger Strukturen wie der Packard Plant möglich gemacht und wenig "Anreiz zur Wiederverwendung bestehender Gebäude und anderer historischer Strukturen geboten".

Doch dieser Ansatz ändert sich nun. Stadterneuerungswissenschaftler um Ryan Locke stellen für Detroit ein "wachsendes Bewusstsein für den anhaltenden Wert historischer Gebäude und Straßenbilder" fest. Dieses wachsende Bewusstsein wird durch die Nachfrage der Menschen nach "den Eigenschaften, die nur durch die Zeit und die Geschichte entstehen und niemals wirklich nachgeahmt oder imitiert werden können" oder, anders ausgedrückt, durch einen Trend der Authentizität gefördert. In einer Stadt, deren wirtschaftlicher Schwerpunkt auf der Revitalisierung liegt, werden die Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt vor allem deshalb ernst genommen, "weil die wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Vorteile zunehmend erkannt werden".

Ruinen als Ressource

Eine solche Anpassung der Geschichte an die Besonderheiten postindustrieller Städte und ihrer Überreste als Schauplätze und Ressourcen für die Zukunft verwandelt die Gebäude und Wahrzeichen Detroits in Figuren und Medien. Die Figuren werden durch die materielle Hülle des Gebäudes in verschiedenen Stadien der Nutzung und des Verfalls in Zeit und Raum verortet. Diese Figuren im Raum lösen ein Verhalten ihnen gegenüber aus und geben ihre Interpretation vor, denn "[a]rchitektonische Artefakte sind – neben anderen Artefakten und anderen Formen des Symbolischen – unerlässlich für Prozesse der Vergesellschaftung, sie sind sozial konstitutiv". Architektonische Artefakte funktionieren nicht nur als Medium im Allgemeinen, sondern speziell als "Medium des Sozialen".

Die Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt in ihren verschiedenen zeitlichen Stadien der Existenz stellen somit die Vision einer Stadt von und für sich dar. "Ohne räumliche Strukturen und die symbolischen Gestalten ihrer Architekturen sind Gesellschaften weder vorstellbar, noch existent", wie die Kollektiv- und Kulturwissenschaftlerin Heike Delitz erklärt. Die verschiedenen Stadien, in denen sich ein Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt befinden kann, verkörpern somit auch symbolisch den Zustand sowie die zeitliche Dimension, Reichweite und kontinuierliche Weiterentwicklung einer Gesellschaft. Die Erkenntnis, dass man sich mit den Hinterlassenschaften und Lasten der Vergangenheit auseinandersetzen muss, um sich der Zukunft zuzuwenden, ist in postindustriellen Städten auf der Suche nach neuen Funktionen und Identitäten allgegenwärtig. Es sind die ikonischen materiellen Überreste, die Aktivitäten auslösen und als Knotenpunkte oder entscheidende Momente fungieren, in denen die Zukunft eines bestimmten Narrativs, einer Entwicklung oder sogar einer Stadt bestimmt wird.

In Detroit werden vielerorts die Weichen für die Rehabilitation oder Neuerfindung einzelner Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt, von Stadtteilen und auch Detroit als Ganzem gestellt. In verschiedenen Größenordnungen werden ausgehend von lokalen Ankerpunkten wie der Michigan Central Station oder auch nur einem Community Garden Nachbarschaften wiederbelebt und aufgewertet. Auch hier ist der Bahnhof wieder ein Vorreiter. Als er 2018 von der Ford Motor Company gekauft wurde und als neues Zentrum des Entwicklungscampus für autonomes Fahren designiert wurde, machte dies international Schlagzeilen. Begleitet von einer in der Schicksalsgemeinschaft von Ford und Detroit verankerten Innovationserzählung, löste dieses Großprojekt auch in der umliegenden Nachbarschaft Erneuerungsmaßnahmen und einen Zustrom an Kapital und Bewohnern aus. Die feierliche Wiedereröffnung findet nun im Juni 2024 statt. Auch das ökologische Zukunftspotenzial von Industrieerbestätten ist mittlerweile erkannt worden. So wurde beispielsweise eine Gründach-Filteranlage auf der River Rouge Fabrik installiert, und alte Bahntrassen, Brachflächen und Industrieanlagen werden saniert und zu Grüngürteln, Parks oder dem "RiverWalk" umgebaut. Das überregionale Bild der Stadt wandelt sich durch diese Projekte: der RiverWalk wurde von "USA Today" in den vergangenen drei Jahren jeweils zur "besten Uferpromenade Amerikas" gewählt, und die National Football League vergab den massenanziehenden NFL-Draft 2024 an Detroit. Aus der Asche der designierten Ruinenstadt auferstanden, kann Detroit, auch durch die harte Arbeit seiner Bewohner, wieder auf bessere Zeiten blicken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Kate Wells, Detroit Was Always Made of Wheels: Confronting Ruin Porn in Its Hometown, in: Siobhan Lyons (Hrsg.), Ruin Porn and the Obsession With Decay, London 2018, S. 15. Bei allen folgenden Zitaten aus englischsprachiger Literatur handelt es sich um eigene Übersetzungen.

  2. Vgl. Benedikt Feldges, American Icons: The Genesis of a National Visual Language, London 2007, S. 3.

  3. Vgl. ebd.

  4. Vgl. Ellen Braae, Beauty Redeemed. Recycling Post-Industrial Landscapes, Basel 2015, S. 38, S. 27.

  5. Vgl. Tracy Neumann, Remaking the Rust Belt: The Postindustrial Transformation of North America, Philadelphia 2016, S. 3.

  6. Vgl. Olaf Kröck/Katja Aßmann/Sabine Reich, Detroit oder nicht Detroit?, in: Urbane Künste Ruhr und Schauspielhaus Bochum (Hrsg.), Schichtwechsel. Das Detroit-Projekt, Ein Handbuch für Städte im Wandel, Berlin 2014, S. 16–21.

  7. Vgl. Braae (Anm. 4), S. 27.

  8. Vgl. Kimberley Kinder, Guerrilla-Style Defensive Architecture in Detroit: A Self-Provisioned Security Strategy in a Neoliberal Space of Disinvestment, in: International Journal of Urban and Regional Research 5/2014, S. 1767–1784, hier S. 1771.

  9. Vgl. ebd., S. 1771f.

  10. Vgl. Braae (Anm. 4), S. 32.

  11. Vgl. ebd., S. 30.

  12. Vgl. John L. Dorman, In Energized Detroit, Savoring an Architectural Legacy, 26.3.2018, Externer Link: http://www.nytimes.com/2018/03/26/travel/architecture-detroit-albert-kahn.html.

  13. Vgl. Braae (Anm. 4), S. 28.

  14. Vgl. David E. Nye, Narrating the Contested Space of Detroit’s River Rouge, 1600–2015, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 1/2016, S. 27–41, hier S. 33.

  15. Vgl. ebd.

  16. Vgl. Braae (Anm. 4), S. 30.

  17. Vgl. ebd., S. 34.

  18. Vgl. Braae (Anm. 4), S. 20.

  19. Sherry Lee Linkon, The Half-Life of Deindustrialization. Working-Class Writing About Economic Restructuring, Ann Arbor 2018, S. 2.

  20. Ebd. sowie Benjamin Davy, Die Neunte Stadt. Wilde Grenzen und Städteregion Ruhr 2030, Wuppertal 2004, S. 244.

  21. Vgl. Rebecca J. Kinney, Beautiful Wasteland. The Rise of Detroit as America’s Postindustrial Frontier, Minneapolis 2016, S. 19.

  22. Vgl. Steve Macek, Urban Nightmares. The Media, the Right, and the Moral Panic Over the City, Minneapolis 2006, S. 12–16, eigene Übersetzung; Wells (Anm. 1), S. 23.

  23. Deborah Che, Techno: Music and Entrepreneurship in Post-Fordist Detroit, in: Ola Johansson and Thomas L. Bell (Hrsg.), Sound, Society and Geography of Popular Music, Surrey 2009, S. 277.

  24. Ebd. S. 261.

  25. Vgl. ebd., S. 15f.

  26. Vgl. Thomas Morton, Something, Something, Something Detroit, 1.8.2009, Externer Link: http://www.vice.com/en_us/article/ppzb9z/something-something-something-detroit-994-v16n8; vgl. auch Juliane Borosch, Changing the Metonymy: Michigan Central Station and the Face of Detroit, in: Astrid Böger/Florian Sedlmeier (Hrsg.), U.S. American Culture as Popular Culture, Heidelberg 2022, S. 407–428.

  27. Vgl. Rolf Lindner, The Imaginary of the City, in: Günter H. Lenz et al. (Hrsg.), Toward a New Metropolitanism. Reconstituting Public Culture, Urban Citizenship, and the Multicultural Imaginary in New York and Berlin, Heidelberg 2006, S. 209–215, hier S. 210.

  28. Vgl. Jerry Herron, The Forgetting Machine: Notes Toward a History of Detroit, Januar 2012, Externer Link: https://placesjournal.org/article/the-forgetting-machine-notes-toward-a-history-of-detroit/?cn-reloaded=1.

  29. Vgl. Wells (Anm. 1), S. 14; Morton (Anm. 26).

  30. James Bennet, A Tribute To Ruin Irks Detroit, 10.12.1995, Externer Link: http://www.nytimes.com/1995/12/10/us/a-tribute-to-ruin-irks-detroit.html.

  31. Oxford English Dictionary, Landmark, N., März 2024, Externer Link: https://doi.org/10.1093/OED/7068291356.

  32. Vgl. Eve Avdoulos, Re-reading the Ruins: Exploring Conditions of Insecurity and Uncertainty in Detroit, in: Architecture 36/2019, S. 20; Wells (Anm. 1), S. 14.

  33. Für eine beispielhafte, detaillierte Abhandlung der Widerstandsmaßnahmen der Detroiter Bevölkerung vgl. Borosch (Anm. 26).

  34. Für eine detaillierte Beschreibung und Analyse des Comeback City Konzepts vgl. ebd., S. 409, S. 416.

  35. Vgl. Julia Sattler, Finding Words: American Studies in Dialogue with Urban Planning, in: Frank Kelleter/Alexander Starre (Hrsg.), Projecting American Studies. Essays on Theory, Method and Practice, Heidelberg 2018, S. 121–134, hier S. 128.

  36. Vgl. Ryan Locke et al., Urban Heritage as a Generator of Landscapes: Building New Geographies from Post-Urban Decline in Detroit, in: Urban Science 2/2018, S. 92.

  37. Ebd.

  38. Ebd.

  39. Vgl. ebd.; vgl. außerdem Conrad Kickert, Downtown Detroit’s Development Paradoxes, in: Daily Detroit Podcast, 24.1.2020, Externer Link: https://de.everand.com/listen/podcast/448106213. Es ist anzumerken, dass viele Projekte so groß und kostspielig sind, dass sie ohne die Unterstützung großer (lokaler) Investoren, die bereit sind, ein Risiko in Detroit einzugehen, nicht durchgeführt werden könnten.

  40. Locke et al. (Anm. 36), S. 92.

  41. Heike Delitz, Architektur als Medium des Sozialen. Der Blick der Soziologie, in: Susanne Hauser/Julia Weber (Hrsg.), Architektur in transdisziplinärer Perspektive. Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen, Bielefeld 2015, S. 257–282, hier S. 257.

  42. Ebd.

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ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Nordamerikastudien der Universität Duisburg-Essen und Doktorandin in der Graduiertengruppe "Scripts for Postindustrial Urban Futures: American Models, Transatlantic Interventions" der Universitätsallianz Ruhr.