Denkt man in Deutschland an Detroit im US-Bundesstaat Michigan, so begegnet man meistens einer von zwei Assoziationen: der ehemaligen Autostadt oder der Ruinenstadt. Während sich dieses öffentliche Image in den USA mittlerweile wandelt und faktisch in seiner Totalität auch nicht mehr zutrifft, so wirken die mentalen Bilder und Fotografien verlassener postindustrieller Landschaften und zerfallender Monumentalbauten weiter nach.
Detroit gilt nicht ohne Grund als "ikonografischste Stadt Amerikas" und wird in Mediendarstellungen und öffentlicher Wahrnehmung stellvertretend für andere, wenn nicht alle US-amerikanischen Postindustriestädte eingesetzt.
Im Folgenden stehen Bilder und Sichtweisen in und auf Detroit im Fokus. Aufbauend auf der industriellen Geschichte und dem postindustriellen Niedergang der Stadt, der in der Kommunalinsolvenz 2013 kulminierte, liegt der Fokus auf den monumentalen, materiellen Wahrzeichen. Diese Perspektive ist jedoch nicht nur rückwärts gerichtet auf den Verfall der Gebäude und ihre äußere Stilisierung zu stadtfernen, menschenleeren, apokalyptischen Ruinenlandschaften. Vielmehr bezieht sie sich auf die andauernden Bemühungen der lokalen Bevölkerung, mit dem Image und der innerstädtischen Situation Detroits umzugehen, und lenkt den Blick auf das Zukunftspotenzial der ruinösen Wahrzeichen der Stadt, ganz im Sinne des Wahlspruchs von Detroit: Speramus Meliora; Resurget Cineribus – Wir hoffen auf Besseres; Sie soll aus der Asche auferstehen.
Industriehauptstadt des 20. Jahrhunderts
Das Interesse am Niedergang Detroits erklärt sich durch die schon vorher vorhandene Prominenz als ikonische Welt- und (Industrie)Hauptstadt des 20. Jahrhunderts, deren Vorreiterrolle im Aufschwung sich auch in ihrem Niedergang zeigen sollte.
Zum Aufstieg Detroits in den 1920er Jahren trug maßgeblich die neu entwickelte Automobilindustrie bei. Die Fabriken von Ford und General Motors waren seinerzeit das weltweit größte Ballungszentrum für diese Branche.
Der überschüssige Reichtum der Industriestädte führte zu Beginn und in der Mitte des 20. Jahrhunderts auch zu städtebaulichen Ambitionen sowie zu Investitionen anderer Wirtschaftszweige, die vom Aufschwung profitierten, was sich in der Autostadt Detroit im Bau von Wolkenkratzern und anderen modischen Markenzeichen der damaligen Zeit niederschlug. Andere charakteristische Gebäude dienten der neu aufkommenden Freizeitgestaltung der Arbeiter und Bewohner dieser Städte, vom Sport bis hin zu prestigeträchtigen kulturellen Einrichtungen wie Theatern und Konzertsälen, die häufig von Industriemäzenen finanziert und errichtet wurden.
Doch waren es vor allem die gewaltigen Industriebauten, die das Stadtbild Detroits und seine Wahrnehmung in der Welt prägten. Bis heute sind viele Gebäude, die für die industrielle Produktion errichtet wurden, in ihrer Größe, Ikonografie und Pracht weiterhin herausragend. Die Menge an Ressourcen, die in der industriellen Produktion abgebaut und verwendet wurde, machte groß angelegte Bauten und neue architektonische Innovationen erforderlich, die auch die Stadtplanung und -Entwicklung beeinflussten. Mit Blick auf Detroit lassen sich beispielsweise in vielen Bereichen Parallelen zwischen der fordistischen industriellen Entwicklung und dem modernistischen Denken in Architektur und Stadtplanung nachweisen. So kann die Geschichte der modernen Architektur nicht ohne Bezugnahme auf die Entwicklung der Automobilindustrie und des Kraftverkehrs geschrieben werden.
Es überrascht daher nicht, dass einer der Gründerväter der Industriearchitektur, Albert Kahn, in Detroit wirkte und nicht nur als "der Architekt" seiner Stadt bekannt wurde, sondern auch als führender Experte auf seinem Gebiet.
Niedergang und Fetischisierung
Mit Rezessionen, Ölkrisen sowie politischen Kurswechseln und Veränderungen im Welthandel und der Industrie wendete sich das Blatt für Detroit Ende der 1950er Jahre.
Auf den wirtschaftlichen Niedergang und die damit verbundenen finanziellen Einbußen und Funktionsverluste zahlreicher Gebäude folgte der Leerstand, Verfall und die Zerstörung vieler Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt. Hinzu kam eine fehlende historische Tiefe der Bausubstanz aus der vorindustriellen Zeit, denn Detroit wurde erst 1701 als französischer Grenzposten an der Siedlungslinie gegründet und war in der Folgezeit wiederholt Opfer von Brandschatzung. So entstand eine besonders eindrückliche Form postindustrieller Landschaft mit Blick auf Grundriss, Topografie und Leerstände. Solche Stadtlandschaften wurden gewiss nicht ganzheitlich geplant und nur teilweise vorhergesehen. Vielmehr sind sie "Akkumulationen einer Reihe von Entscheidungen, die im Laufe der Zeit getroffen wurden, jede für sich rational, und die zum aktuellen Stadium der Urbanisierung führten".
Postindustrielle Wahrzeichen zeigen an, um es mit den Worten der Amerikanistin Sherry Lee Linkon zu sagen, dass "Deindustrialisierung eine Halbwertszeit hat".
Mit diesen verfallsbedingten "Versteinerungen" und dem einsetzenden Strukturwandel dominierten verschiedene Niedergangsnarrative die öffentliche Darstellung Detroits. Zuerst zeigten sie sich in der Berichterstattung über gewaltsame Unruhen und Straßenschlachten als Symptom von und Konsequenz aus größeren sozialen und ethnischen Krisen und Konflikten. Derartige Berichterstattungen, auch in Popkultur und Nachrichten, haben vor allem in den 1980er und 1990er Jahren wesentlich dazu beigetragen, "die kulturelle Resonanz der Angst vor dem postindustriellen städtischen Raum zu etablieren"
Dieses Narrativ geht Hand in Hand mit dem der Maschinenstadt, das vor allem durch Detroit Techno verbreitet wurde. In diesem musikalischen Subgenre fand der Abbau von Industriearbeitsplätzen durch die fortschreitende Maschinisierung und Technologisierung einen futuristischen Ausdruck – jedoch mit einem positiven Ausblick. Denn die technologiebasierten Klänge und Rhythmen sprachen sowohl für die Resilienz der verbleibenden Bevölkerung und waren ein Beispiel "dafür, wie wichtig es ist, Technologie und neue Ideen für eine postindustrielle Zukunft anzunehmen".
Mit den Bildern der Ruinen- und Maschinenstadt Detroit verschwanden fortan die Menschen komplett aus der Berichterstattung. Stattdessen repräsentierten nun verfallene Bauten die Stadt, allen voran der ehemalige Prunkbahnhof Michigan Central Station (MCS). Schon die Größe der MCS lässt auf ihre repräsentative Rolle als Abbild Detroits von Aufschwung zu Niedergang zum Wiederaufschwung schließen, denn ihre Fassade von 70 mal 105 Meter bietet genug Projektionsfläche. Das Gebäude im Beaux-Arts-Stil wurde 1913 eröffnet – im selben Jahr, in dem Henry Ford das erste Fließband einrichtete – und diente als Bürogebäude und Bahnhof. MCS sollte damals "ein Imperium heraufbeschwören" und "einen großartigen Zugang zu einer neuen und besseren Stadt bieten".
In Videos und Fotos ging ein ausgewähltes Repertoire an geframten und stilisierten Ruinen um die Welt und stand nunmehr stellvertretend für Detroit. Mit dem Soziologen Rolf Lindner kann man die Stadt als kulturell kodierten Raum beschreiben, der sich aus mentalen Bildern zusammensetzt, die den physischen Raum überlagern, denn man (er)lebt diesen Raum durch seine begleitenden Bilder und Symbole.
Im Gegenteil, es fand eine Fetischisierung des Verfalls von Detroit im populären, ästhetischen Genre des "Ruin Porn" statt. In diesem Genre werden Bilder verfallender Gebäude häufig manipuliert, indem Menschen herausgeschnitten werden und man durch Blickwinkel und Farbgebung eine möglichst tragische und dystopische Stimmung kreiert.
Es ist somit unverkennbar, dass die industriellen Überreste und Ruinen in Detroit eine bildgebende Qualität besitzen und selbst Wahrzeichen sind – als Identifikationsmarker, historische Zeugen und Orte, an denen über die Zukunft der Stadt entschieden wird. Sie fungieren tatsächlich und metaphorisch als Landmarken. Landmarken markieren sowohl Grenzen und sind Sicht- und Orientierungshilfen. Sie sind sichtbare Erkennungsmerkmale der bebauten und (un)natürlichen Umwelt. Sie sind jedoch auch Objekte, "die mit einem Ereignis oder einer Phase in einem Prozess verbunden sind; insbesondere ein Merkmal, eine Veränderung oder ein Ereignis, das einen Zeitraum oder einen Wendepunkt in der Geschichte einer Sache markiert".
Reaktion von Innen
Dieser Handlungsaufforderung nimmt sich die Detroiter Bevölkerung, die in der Berichterstattung oftmals aus dem Stadtbild herausgeschrieben wurde, an. Denn im Gegensatz zu Darstellungen Detroits als verlassene Stadt ist sie auch ein "Ort der Gegenwart", und es lässt sich ein "Widerstand im kollektiven Unterbewusstsein der Stadt" gegen diese Fremdbeschreibungen feststellen.
In Downtown Detroit haben private Großunternehmer im vergangenen Jahrzehnt aufgrund mangelnder städtischer finanzieller Mittel den Freiraum genutzt, Gebäude und Grundstücke zu erwerben und eine Art "Central Business District" nach ihrem Belieben zu gestalten. Beworben wurde dies mit dem Konzept der "Comeback City", einer ahistorisch-nostalgischen Neuerzählung, in der ein kleiner Teil der Stadt zurück zu alter Höchstform findet, der jedoch einen Großteil der tatsächlichen, größtenteils schwarzen Detroiter Bevölkerung ausschließt und stattdessen an der Anwerbung von Externen aus der weißen Mittel- und Oberschicht interessiert ist.
Südliches Ende der Packard Plant (© Juliane Borosch, 2021)
Südliches Ende der Packard Plant (© Juliane Borosch, 2021)
Detroits offizielle Lösung für den Umgang mit den Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt war lange Zeit und ist häufig immer noch ein Tabula-Rasa-Ansatz der Räumung und Sanierung oder der Ignoranz und Vernachlässigung.
Doch dieser Ansatz ändert sich nun. Stadterneuerungswissenschaftler um Ryan Locke stellen für Detroit ein "wachsendes Bewusstsein für den anhaltenden Wert historischer Gebäude und Straßenbilder" fest.
Ruinen als Ressource
Eine solche Anpassung der Geschichte an die Besonderheiten postindustrieller Städte und ihrer Überreste als Schauplätze und Ressourcen für die Zukunft verwandelt die Gebäude und Wahrzeichen Detroits in Figuren und Medien. Die Figuren werden durch die materielle Hülle des Gebäudes in verschiedenen Stadien der Nutzung und des Verfalls in Zeit und Raum verortet. Diese Figuren im Raum lösen ein Verhalten ihnen gegenüber aus und geben ihre Interpretation vor, denn "[a]rchitektonische Artefakte sind – neben anderen Artefakten und anderen Formen des Symbolischen – unerlässlich für Prozesse der Vergesellschaftung, sie sind sozial konstitutiv".
Die Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt in ihren verschiedenen zeitlichen Stadien der Existenz stellen somit die Vision einer Stadt von und für sich dar. "Ohne räumliche Strukturen und die symbolischen Gestalten ihrer Architekturen sind Gesellschaften weder vorstellbar, noch existent", wie die Kollektiv- und Kulturwissenschaftlerin Heike Delitz erklärt. Die verschiedenen Stadien, in denen sich ein Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt befinden kann, verkörpern somit auch symbolisch den Zustand sowie die zeitliche Dimension, Reichweite und kontinuierliche Weiterentwicklung einer Gesellschaft. Die Erkenntnis, dass man sich mit den Hinterlassenschaften und Lasten der Vergangenheit auseinandersetzen muss, um sich der Zukunft zuzuwenden, ist in postindustriellen Städten auf der Suche nach neuen Funktionen und Identitäten allgegenwärtig. Es sind die ikonischen materiellen Überreste, die Aktivitäten auslösen und als Knotenpunkte oder entscheidende Momente fungieren, in denen die Zukunft eines bestimmten Narrativs, einer Entwicklung oder sogar einer Stadt bestimmt wird.
In Detroit werden vielerorts die Weichen für die Rehabilitation oder Neuerfindung einzelner Wahrzeichen der ehemaligen Industriestadt, von Stadtteilen und auch Detroit als Ganzem gestellt. In verschiedenen Größenordnungen werden ausgehend von lokalen Ankerpunkten wie der Michigan Central Station oder auch nur einem Community Garden Nachbarschaften wiederbelebt und aufgewertet. Auch hier ist der Bahnhof wieder ein Vorreiter. Als er 2018 von der Ford Motor Company gekauft wurde und als neues Zentrum des Entwicklungscampus für autonomes Fahren designiert wurde, machte dies international Schlagzeilen. Begleitet von einer in der Schicksalsgemeinschaft von Ford und Detroit verankerten Innovationserzählung, löste dieses Großprojekt auch in der umliegenden Nachbarschaft Erneuerungsmaßnahmen und einen Zustrom an Kapital und Bewohnern aus. Die feierliche Wiedereröffnung findet nun im Juni 2024 statt. Auch das ökologische Zukunftspotenzial von Industrieerbestätten ist mittlerweile erkannt worden. So wurde beispielsweise eine Gründach-Filteranlage auf der River Rouge Fabrik installiert, und alte Bahntrassen, Brachflächen und Industrieanlagen werden saniert und zu Grüngürteln, Parks oder dem "RiverWalk" umgebaut. Das überregionale Bild der Stadt wandelt sich durch diese Projekte: der RiverWalk wurde von "USA Today" in den vergangenen drei Jahren jeweils zur "besten Uferpromenade Amerikas" gewählt, und die National Football League vergab den massenanziehenden NFL-Draft 2024 an Detroit. Aus der Asche der designierten Ruinenstadt auferstanden, kann Detroit, auch durch die harte Arbeit seiner Bewohner, wieder auf bessere Zeiten blicken.