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Konfliktraum UNESCO | Ruinen | bpb.de

Ruinen Editorial Wachstum und Niedergang in Chinas "Geisterstädten" Eine kleine Geschichte des Ruinenmotivs Sichtbar-unsichtbare Orte. NS-Thingstätten abseits vom Erinnerungsdiskurs Konfliktraum UNESCO Ruinen mit Zukunft. Detroits Wandel im Blick Wertvolle Ruinen. Plädoyer für die Bauwende

Konfliktraum UNESCO

Christoph Brumann

/ 17 Minuten zu lesen

Das Kulturerbe scheint eines der wenigen Themen zu sein, das die Weltgemeinschaft eindrucksvoll zu einen vermag. Tatsächlich sind die Komiteesitzungen mehr und mehr Bühne für die Eigeninteressen von Staaten und ungelöste Konflikte.

Nichts scheint die Welt so sehr zu einen wie ihr Erbe. Das 1972 verabschiedete "Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt" haben inzwischen 195 Staaten – so gut wie alle – unterzeichnet, und 168 von diesen haben erfolgreich Stätten für die Welterbeliste nominiert, die mittlerweile 1199 Einträge umfasst. Die jährlichen Sitzungen des Welterbekomitees sind vom kleinen Spezialist:innenzirkel zum globalen Event mit tausenden Teilnehmenden herangewachsen und werden von noch viel mehr Menschen im Internet verfolgt. Hatte mich in jüngeren Jahren die Bronzeplatte am Kölner Dom, die diesen als Welterbe auswies, noch verwundert, ist das Welterbe mittlerweile ein weltweit bekanntes und erstrebtes Gütesiegel, das für Besuchszahlen, Lokal- und Nationalstolz und Investitionen Wunder wirken kann. Die Welterbekonvention ist der gefragteste Aufgabenbereich im bunten Portfolio der UNESCO, der Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen, und hat dort einen breiteren Fokus auf Kultur und Erbe angeregt, etwa mit dem ebenfalls hochgeschätzten "Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes" von 2003. Doch ist die Welt dadurch wirklich einiger geworden?

Bei der Frage, wie mit den Zeugnissen der Vergangenheit umzugehen ist, steht eines fest: Nichts hat so sehr zur Verbreitung und Standardisierung der Denkmals- und auch der Naturschutzpolitiken und -diskurse beigetragen wie das Welterbe. Nichts anderes hat zudem so sehr das Bewusstsein für deren eurozentrische Erblasten geweckt. Denn schon nach einem guten Jahrzehnt wurde deutlich, dass das freie Nominierungsrecht für alle Vertragsstaaten vor allem europäische Paläste, Kirchen und Altstädte auf die Liste brachte. Ob dies dem dafür erforderlichen "außergewöhnlichen universellen Wert" tatsächlich entsprach, erschien zweifelhaft. In der Annahme, dass für die Schieflage vor allem eine eurozentrisch-monumentale Vorstellung vom Kulturerbe verantwortlich war, wurde in den 1990er Jahren unter Federführung des Internationalen Rats für Denkmalpflege (ICOMOS), der als Beratungsorganisation für das Kulturerbe fungiert, ein Reformkurs eingeschlagen: Kulturlandschaften als Orte markanter Mensch-Umwelt-Interaktionen von der Landwirtschaft bis hin zum Ahnenkult kamen als neue Kategorie hinzu, die Kriterien für die vom Kulturerbe geforderte Authentizität wurden erweitert, sodass nun auch Bauten aus Holz und Lehm eine Chance hatten, und eine "Global Strategy" mit Ausrichtung auf einen ethnologisch breiten statt elitären Kulturbegriff wurde verabschiedet. Handels-, Pilger- und Wasserstraßen, heilige Berge und prähistorische Fundstätten, Vernakulararchitektur und Weinbaugebiete waren nun gegenüber Prachtbauten und Herrschaftszeichen nicht mehr im Nachteil. Die Welterbeliste und damit die Vorstellung von dem, was für die Menschheit wichtig ist, hat sich so nachhaltig diversifiziert, und einen Beitrag zur Dekolonialisierung der Denkmalskategorien kann man der Konvention nicht absprechen.

Neue Rolle des Globalen Südens

Zu einer weniger eurozentrischen Welterbeliste führte dies jedoch nicht, und da der Welterbetitel der hauptsächliche Anreiz des nur spärlich finanzierten Systems ist, förderte dies die Unzufriedenheit vor allem der Länder des Global Südens. Hierbei waren es weniger die Konzepte als die bürokratischen Praktiken, die sich auswirkten. Der Weg zum Welterbetitel führt über die Nominierung durch den eigenen Staat, und die Kapazitäten für die Erarbeitung des erforderlichen Dokuments mit mittlerweile hunderten oder gar tausenden Seiten sind weltweit sehr ungleich verteilt. Was die Staaten nominieren, steht ihnen zudem frei, und so erwünscht heilige Haine, pastoralnomadische Landschaften und andere Zeugnisse des Alltagslebens auch sein mögen, so wenig ist die Nominierung weiterer Barockpaläste oder gotischer Kathedralen zu verhindern, auch wenn von ihnen bereits Dutzende auf der Liste stehen. Nominierungsquoten (gegenwärtig eine Stätte pro Land und Jahr) verhindern in der Tat vorherige Auswüchse, wie etwa die gleich zehn Nominierungen, die Italien zur Komiteesitzung 1997 mitbrachte. Sie halfen aber nicht, die bereits entstandene Lücke zu schließen, zumal die europäischen Spitzenreiter der Liste immer noch neue Kandidaten finden. Es blieb also bei einer zur Hälfte mit europäischen Stätten gefüllten Welterbeliste, was dem universalen Anspruch schlecht zu Gesicht stand. Vertreter:innen südlicher Länder fühlten sich ausgegrenzt und vorgeführt, wenn ihre Kandidatenstätten nach der Begutachtung durch die Beratungsorganisationen auf den Komiteesitzungen abgewiesen wurden und nur die Erhaltungsprobleme ihrer bereits ernannten Welterbestätten breiten Raum einnahmen.

Verantwortlich dafür waren zum einen ICOMOS, die für das Naturerbe zuständige Weltnaturschutzunion (IUCN) und das Welterbezentrum, also die Verwaltungszentrale der Konvention innerhalb des Pariser UNESCO-Hauptquartiers. Allesamt haben diese Gremien ihren Sitz in Europa und wurden als westlich geprägt empfunden. Zum anderen schloss sich das Welterbekomitee in seinen jährlichen Sitzungen zumeist den Expert:innen an. Dieses Komitee besteht aus 21 für vier Jahre gewählten Vertragsstaaten, also selbst interessierten Parteien. Bis 2009 war hier noch das Bemühen leitend, mittels des Komitees die gemeinsamen Interessen zu schützen. So wurde in diesem Jahr das Dresdner Elbtal wegen eines nicht genehmigten Brückenbaus von der Liste gestrichen. Es ging den Komiteestaaten nicht speziell um Deutschland, sondern um die generelle Missachtung der Entscheidungen der Vorjahre, die nun nicht mehr ungeahndet bleiben konnte.

Mit der Komiteesitzung 2010 in Brasilia änderte sich dies jedoch schlagartig. In Echtzeit war zu beobachten, wie sich eine neue Praxis etablierte, die Expert:innen-Empfehlungen einfach zu übergehen, wenn sie den betroffenen Nationalstaaten nicht gefielen. Diese hatten sich zuvor per Lobbying unter den Komiteestaaten Unterstützung gesichert – zumeist werden die Delegationen von Diplomat:innen angeführt, die sich in Pariser UNESCO-Kreisen regelmäßig begegnen. ICOMOS und IUCN protestierten, und einzelne Staaten leisteten ebenfalls Widerstand, doch über die nächsten Jahre hinweg setzten sich die neuen Sitten durch. Da es für alle Länder so einfach wie nie geworden ist, sich eigene Welterbewünsche zu erfüllen, fehlte ein starkes Motiv, diese Entwicklung aufzuhalten, und nach anfänglichem Streit ist die Atmosphäre nun wieder friedlich.

Ohne die Ausgrenzung des Globalen Südens wäre es kaum dazu gekommen: Die Revolte von Brasilia wurde im Komitee von großen außereuropäischen Ländern – China, Ägypten, Mexiko und Brasilien – im Verein mit Russland angeführt, und elf der zwölf ohne den ICOMOS- und IUCN-Segen mit Welterbetiteln versehenen Stätten lagen im Globalen Süden. Ganz deutlich reflektierte dies ein gestiegenes Selbstbewusstsein, doch etablierte sich keine dauerhafte südliche Solidarität. Vielmehr haben einzelne außereuropäische Länder – China, Iran, Indien, Japan und Saudi-Arabien – bei den Welterbetiteln stark aufgeholt, während gleichzeitig das subsaharische Afrika vor allem beim Kulturerbe so marginal ist wie eh und je. Hier macht sich einerseits bemerkbar, dass ICOMOS trotz aller guten Absichten immer noch von an westlichen Bauwerken geschulten Denkmalschützer:innen dominiert ist und etwa mit den Nominierungen afrikanischer Kulturlandschaften oft nur wenig anzufangen weiß. Aber auch spontane Unterstützung im Komitee für nur mäßig bewertete Nominierungen ist selten – die Staatsvertreter:innen treten nur dann auf den Plan, wenn sie zuvor darum gebeten worden sind, und machen dann keinen Unterschied zwischen den an Welterbe reichen und armen Ländern.

Auf die Spitze trieb dies die Komiteesitzung von 2021, die wegen der Pandemie online stattfand: Afrikanische Vertreter:innen waren aufgrund eines neuen Wahlmodus so zahlreich und auch so aktiv wie nie zuvor im Komitee. Gemeinsam verhinderten sie die Streichung eines kürzlich mit einem Staudamm versehenen Naturreservats in Tansania, verhalfen zwei afrikanischen Kandidatenstätten zum von ICOMOS verweigerten Welterbetitel und kippten den vorgeschlagenen Verzicht auf weitere Welterbeehren für die Gedenkstätten rezenter Kriege und Konflikte. Auch thematisierten sie globale Ungleichgewichte ausgiebig, wo sich dies zur Unterstützung der eigenen Position anbot. Doch hinderten sie und andere Länder des Südens das Komitee nicht daran, den größten europäischen Fischzug seit 2001 zu genehmigen – 17 von 34 neuen Welterbetiteln gingen an diesen einen Kontinent.

Das Hemd der durch wechselseitige Gefallen zu erwirkenden Vorteile im Staatenverkehr ist den Diplomat:innen näher als der Rock einer Welterbeliste, die ihren ersten Namensbestandteil auch tatsächlich verdient. Deutlich leisten die von der Hegemonie des Nordens Betroffenen also selbst einen Beitrag zu ihrer Fortführung und zur Verschleppung der Dekolonialisierung des Erbes, doch so sehr dies einzelnen Staaten und vielen Expert:innen missfällt, so sehr trägt die permissive Linie zur Zufriedenheit der vielen Länder bei, denen ihr nächstes Nominierungsprojekt im Zweifel wichtiger ist.

Dominanz nationaler Interessen

Eigentlich war das Welterbe anders konzipiert. Mit dem gemeinsamen Erbe der Menschheit wurde eine Rechtsfigur aus anderen internationalen Verträgen übernommen und erstmals nicht auf außerstaatliche (das Weltall, der Mond, die Hochsee, die Antarktis), sondern nationale Territorien angewendet. Mit dem Eintrag in die Welterbeliste werden die Stätten der Sorge der gesamten Menschheit unterstellt. Die praktische Umsetzung war lange zögerlich, und Berichtspflichten der Staaten und durch die Beratungsorganisationen und das Welterbezentrum vorgenommene Kontrollbesuche an gefährdeten Stätten etablierten sich nur allmählich. Einhergehend mit der wachsenden Prominenz des Welterbes in den 1990er und 2000er Jahren mischte sich das Welterbekomitee jedoch stärker ein – der Kölner Dom meiner Jugend erhielt so keinen Hochhauspark gegenübergestellt, denn für den angedrohten Verlust des Titels wollten die Investor:innen nicht verantwortlich sein. Mit der Streichung Dresdens schien hier der Höhepunkt erreicht – ein gemeinsam gestütztes Weltgremium, so schien es, konnte uneinsichtige Staaten zur Räson bringen. Hätten die Staaten des Südens die Welt dieses Weltgremiums auch als die ihre empfunden, hätte sich dieser Anspruch vielleicht auch noch länger halten können, doch Brasilia besiegelte das Primat nationaler Eigeninteressen.

Dies hat das Welterbekomitee auch darin geschwächt, zwischenstaatliche Konflikte zu schlichten. Typischerweise brechen diese dann auf, wenn Welterbestätten umstrittenes Territorium umfassen, und einige von ihnen beschäftigen das Komitee seit Jahrzehnten. So hat Serbien seine Ansprüche auf den im Jugoslawienkrieg unabhängig gewordenen Kosovo durch die Welterbenominierung mehrerer Kirchen und Klöster unterstrichen – Kosovo selbst war dies verwehrt, da es weder UNESCO-Mitglied noch Welterbevertragsstaat ist, und die Einschreibung zu verhindern, hätte seine Unterstützer:innen dem Vorwurf ausgesetzt, sich nicht um gefährdetes Kulturerbe zu kümmern. Sie liefern nun also die jährlichen Berichte an ICOMOS, und wenn nicht, wie so oft, die Sitzungsdiskussion auf das Folgejahr verschoben wird, beklagt Serbien, an seinem Beitrag zum Erhalt des Welterbes gehindert zu sein. 2008 kam der Khmer-Tempel Preah Vihear auf Antrag Kambodschas auf die Liste, anfangs noch mit Unterstützung Thailands, das diese dann aber im letzten Moment aufkündigte. In der Folge lieferten sich die Armeen beider Länder an diesem beiderseits beanspruchten Ort blutige Gefechte, und 2011 verließ die thailändische Delegation unter Protest die Sitzung, als die Stätte nicht von der Tagesordnung genommen wurde. Der angedrohte Austritt aus der Konvention blieb jedoch aus, und im Rahmen eines internationalen Koordinationsgremiums, dem beide Länder angehören, ist es um Preah Vihear wieder ruhiger geworden.

Wenig überraschend ist es der Nahostkonflikt, der die intensivsten Auseinandersetzungen in den Sitzungen nach sich gezogen hat. 1981 nominierte Jordanien die Altstadt von Jerusalem als Welterbe, also ein Gebiet im Ostteil, das zwar laut UN-Beschluss wie die gesamte Stadt einen internationalen Status genießt, seit 1967 aber von Israel besetzt ist, sowohl von Israel als auch von Palästina als Hauptstadt beansprucht wird und mit dem über die Verwaltung der heiligen islamischen Stätten (Felsendom, al-Aqsa-Moschee) auch Jordanien verbunden ist. 1982 wurde die Altstadt dann als gefährdetes Welterbe eingestuft, was bis heute anhält. Israel unterzeichnete die Welterbekonvention erst 1999, und seither werden jährlich "side tables" gebildet, bei denen die Kontrahenten und die zwischen getrennten Räumen hin- und herpendelnden Vermittler:innen versuchen, eine einvernehmliche Minimalentscheidung zu finden. Selten regelt diese Entscheidung grundsätzliche Erhaltungsfragen, doch sind die anderen Staaten froh, sie ohne Diskussion durchzuwinken. Auch hat es vor Ort immer wieder substanzielle Kooperation zwischen den verfeindeten Seiten gegeben.

Palästina erhielt 2000 einen Beobachterstatus und wurde 2011 zum Vollmitglied der UNESCO, eine auf UN-Ebene einmalig gebliebene Entscheidung, die es dem Land aber erlaubte, auch die Welterbekonvention zu unterzeichnen. Seither hat es mit der Geburtskirche in Bethlehem, der Altstadt von Hebron/Al-Khalil und der Oliven- und Weinbaulandschaft von Battir drei Stätten im Westjordanland nominiert, alle im für besonders gefährdete Stätten vorgesehenen Eilverfahren. ICOMOS bestritt jedes Mal das Vorliegen einer solchen Notsituation und empfahl das langsamere Regelverfahren, doch jedes Mal fiel die in kontroversen Fällen gerne verlangte geheime Abstimmung zugunsten Palästinas und der unmittelbaren Einschreibung aus. Die Bereitschaft, sich im Hinterzimmer auf einen Minimalkonsens zu einigen, hat vor allem seit 2015 gelitten, und die Komiteesitzung fungiert nun als Bühne für gegenseitige Schuldzuweisungen und Beschimpfungen, die mit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und dem Gazakrieg kaum an Schärfe verlieren dürften. Israel und zeitweilig auch die USA haben wegen der Aufwertung Palästinas die UNESCO verlassen; der Welterbekonvention gehören sie jedoch weiterhin an, sodass sich das Konfliktpotenzial hier fokussiert.

Doch nicht nur über Territorien, sondern auch über die angemessene Teilung der Geschichte können sich Staaten entzweien. Für die Komiteesitzung 2015 in Bonn nominierte Japan eine Reihe von frühen Industriestätten aus der Meiji-Zeit. Doch sparte das Nominierungsdokument die im Zweiten Weltkrieg dort tätigen koreanischen Zwangsarbeiter:innen aus, sodass Südkorea – ebenso wie Japan gerade Mitglied des Komitees – sich gegen die Einschreibung sperrte. Auch hier waren lange Verhandlungen hinter verschlossenen Türen und eine ausgefeilte Choreografie von Verfahrensschritten und Erklärungen nötig, um Japan in der Sitzung den Titel zu sichern. Die Delegationsleiterin musste dafür abweichend von der bisherigen Regierungslinie die Zwangsarbeit bestätigen und die Vermittlung der vollständigen Geschichte an den Stätten zusichern. Südkoreas Medien triumphierten, doch die japanische Seite verschleppte in der Folge die Umsetzung.

In all diesen bi- oder trilateralen Auseinandersetzungen sind die nicht involvierten Länder tunlichst darum bemüht, sich herauszuhalten, und die Vermeidung offenen Streits ist das höchste diplomatische Gut, ganz gleich wie wenig dabei für das Kulturerbe herausspringt. Auf paradoxe Weise tritt der überstaatliche Anspruch des Welterbekomitees gerade dann zurück, wenn es am nächsten läge, an den Streitparteien vorbei eine dem Menschheitserbe dienliche Lösung zu beschließen. Doch dafür bleiben die Komiteemitglieder zu sehr Nationalstaaten, die dem allgemeinen Trend entsprechend immer weniger Anlass dazu sehen, sich für ein höheres Interesse zu exponieren.

Schutzbemühungen und Widerstände

Gleichzeitig reduziert dieser Trend die Hemmungen, das Welterbekomitee zur politischen Bühne zu machen. So traf sich das Welterbekomitee im Januar 2023 zu einer außerordentlichen Sitzung in Paris, die eigentlich nur den Austragungsort und das Datum für die später im Jahr anstehende reguläre Sitzung festlegen sollte. Ins russische Kasan wollten die meisten Komiteemitglieder 2022 nach Putins Angriff auf die Ukraine nicht mehr reisen, sodass die dort geplante Sitzung ausfiel und auch kein Ort für 2023 beschlossen werden konnte. Doch nutzten nun in Paris fünf Komiteestaaten – Japan, Belgien, Bulgarien, Griechenland und Italien – die Gelegenheit, die Diskussion von gleich drei über das Eilverfahren für besonders gefährdete Stätten eingereichte Nominierungen einzufordern, darunter auch das historische Zentrum von Odessa. Eine jemenitische und eine libanesische Stätte kamen hinzu, doch blieb unklar, ob dort tatsächlich eine akute Bedrohung vorlag oder sie nicht vielmehr der Legitimierung des so noch nie verwendeten Verfahrens dienten. Genau dies griff die Vertreterin des immer noch im Komitee vertretenen Russlands auf, und sie bestritt die besondere Gefährdung der Altstadt von Odessa, wo zu diesem Zeitpunkt noch kaum Schäden entstanden waren. Außerdem wunderte sie sich – wie auch schon ICOMOS in seiner Evaluierung über die Grenzen der vorgeschlagenen Welterbestätte –, dass auch die modernen Hafenanlagen einbezogen waren. Offenkundig sollte die Notfalleinschreibung der Ukraine nicht nur allgemein den Rücken stärken, sondern auch einem kriegswichtigen und sehr wohl schon unter russischen Beschuss geratenen Hafen zusätzlichen symbolischen Schutz verleihen – jeder weitere Angriff würde nun auf ein Stück Welterbe zielen. Auch hier blieben die Komiteestaaten im geopolitischen Modus: Die Mehrheit enthielt sich, sodass die erwähnten Staaten sich gegen die eine Stimme Russlands durchsetzten. Natürlich ging es den Protagonist:innen für sie um Wichtigeres als um die einwandfreie Befolgung der Welterbeprozeduren, doch wird der Respekt vor diesen so natürlich nicht gestärkt.

Hier mag eine Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs von 2016 eine Rolle gespielt haben. Sie verurteilte Ahmad al-Faqi al-Mahdi, Mitglied der malischen islamistischen Miliz Ansar Dine, als Kriegsverbrecher. Anders als in allen vorherigen Urteilen dieser Art hatte er sich nicht an Menschen vergangen, sondern 2012 die Zerstörung von neun Mausoleen berühmter Sufi-Heiliger und eines Moscheeeingangs in Timbuktu angeführt. In den Vorstellungen der islamistischen Rebellen, die die Kontrolle über den Norden Malis übernommen hatten, waren diese Welterbedenkmäler Häresie und kein Kulturerbe, ein Standpunkt, der pünktlich zur Sitzung des Welterbekomitees auf handfeste Weise bekräftigt wurde – "UNESCO is what?", fragte ein Miliz-Mitglied die Pressevertreter:innen provokant. Doch schien dies die Delegierten im fernen Sankt Petersburg kaum zu erschüttern: Um die gerade laufende Diskussion der Neueinschreibungen – das Kerninteresse vieler Staaten – nicht zu verzögern, wurde die Befassung mit der Provokation in die Randstunden und die Mittagspause verlegt, ganz gleich wie sehr sie die Schlagzeilen der Weltpresse bestimmte. Mehr als ein halbes Jahr vor der französisch geführten Militäroperation, die Timbuktu wieder unter Regierungskontrolle brachte, mochte sich hier Realismus äußern, da keinerlei praktische Handhabe gegen die Zerstörungen bestand. Doch wenig war geeigneter, die Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf Weltvertretung und der von nationalen Eigeninteressen bestimmten Wirklichkeit zu illustrieren. Kurioserweise brachte dann der Internationale Strafgerichtshof die Weltgeltung 2016 wieder ins Spiel – gerade weil die Stätten Welterbe waren, konnte ihre Zerstörung ein strafbares Kriegsverbrechen sein, und dies mag die Einschließung der Hafenanlagen in das Welterbe von Odessa mitmotiviert haben.

Spektakuläre Angriffe auf Welterbe sind auch seither erfolgt: Die Terrormiliz Islamischer Staat sprengte 2015 Teile der archäologischen Überreste von Hatra im Irak und Palmyra in Syrien, nach ihrer Auslegung Stätten des Götzendienstes, und auch hier ging es darum, die Vormacht der Religion gegenüber anderen Wertordnungen, auch dem säkularen Kult des Kulturerbes, öffentlich zu demonstrieren. Gerade die Prominenz des Welterbes kann es zur Zielscheibe für ikonoklastische Akte machen.

Und gerade dies kann im nächsten Schritt den Welterberang so zerstörter Stätten begründen. Die leeren Höhlen der monumentalen Steinbuddhas von Bamiyan, die die Taliban 2001 sprengten, wurden mit der umgebenden Kulturlandschaft 2003 auf die Liste gebracht, und mit der von deutschen Truppen verwüsteten Altstadt von Warschau und der im Balkankrieg zerstörten Brücke von Mostar gibt es gleich zwei triumphale Wiederaufbauten, die aus ebendiesem Grund 1980 beziehungsweise 2005 zum Welterbe erklärt wurden – die üblichen Authentizitätsanforderungen traten hier gegenüber dem Symbolgehalt zurück. Auch die Welterbeeinschreibung anderer Stätten vergangener Gräueltaten und Konflikte – das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, der "Atombombendom" von Hiroshima, die Orte des ruandischen Genozids oder die Gedenkstätten des Ersten Weltkriegs in Frankreich und Belgien – ist vom Wunsch nach der Überwindung dieser Geschehnisse beseelt; ob diese erst kürzlich und gegen starke Widerstände erneut geöffnete Kategorie auf Dauer Konflikte besänftigt oder im Gegenteil schürt, bleibt abzuwarten.

Allgemein ist bei all den beschriebenen Stätten – Orte in umstrittenem Territorium, Opfer religiös motivierter Zerstörungen und die Mahnmale der Gewalttaten von gestern – die Frage nach ihrem Beitrag zur UNESCO als Konfliktraum nicht leicht zu beantworten. Vom Spezialfall des gezielten Welterbe-Ikonoklasmus abgesehen, scheinen diese Stätten anderweitig motivierten Konflikte eher eine Ausdrucksform und eine Bühne zu geben als sie selbst zu verursachen; allenfalls die Welterbeernennung von Preah Vihear könnte hier eine Ausnahme sein. Wäre die Altstadt von Jerusalem nicht noch konfliktbehafteter, wenn sie kein Welterbe wäre? Würden neue Kriege und Genozide wahrscheinlicher, wenn die Zeugnisse der alten nicht auf die Liste gelangten?

Deutlich konfliktträchtiger ist oft die Welterbeernennung an sich, denn sie bringt vor Ort Veränderungen mit sich, die nicht für alle Anwohner:innen und Nutzer:innen positiv ausfallen. In einem größeren Forschungsteam und Publikationsprojekt erwies sich vor allem der lokale Kontrollverlust als Konstante. Die zentralen Organe des Welterbes sind viel zu schwach ausgestattet, um selbst zu regulieren. Stattdessen entscheidet es sich häufig im eigenen Nationalstaat, wie Welterbeerwartungen interpretiert und umgesetzt werden. Oft treten hier neue nationale Institutionen auf den Plan, während lokale Akteur:innen zurückgedrängt werden; Welterbe wird also tatsächlich eher Staatserbe. Diese Vorgänge sind allerdings zu sehr von nationalen und lokalen Spezifika bestimmt, als dass sie sich verallgemeinern ließen. In einer Art Franchise vergibt das Komitee zwar den Titel, hat aber kaum unter Kontrolle, was mit ihm tatsächlich gemacht wird, wem er zu Ehren und Wohlstand verhilft und wer stattdessen ausgegrenzt wird.

Nur um ein Beispiel zu nennen: Seit 2008 steht das malaysische Malakka an der Küste der gleichnamigen Meeresstraße auf der Welterbeliste. Dies hat das multiethnische Erbe der Stadt gestärkt, in dem sich portugiesische, niederländische, britische, malaiische, chinesische und indische Einflüsse mit denen der chinesisch-malaiischen Baba Nyonya, der indisch-malaiischen Chetti und der "Eurasians" mit portugiesisch-asiatischer Abstammung verbinden. Dies stärkt einen Gegenpol zur oftmals von den Interessen der malaiischen Mehrheit bestimmten malaysischen Regierungspolitik und fügt sich in einen allgemeineren Trend ein, kolonial verursachte Hybridität zu wertschätzen. Dem Tourismus hauptsächlich aus anderen asiatischen Ländern hat der Welterbetitel einen enormen Schub verschafft, sodass sich nun ein endloser Strom von Autos, Autorikschas und Motorbooten durch die schmalen Straßen und Kanäle zwängt. Sino-niederländische shop houses erhalten ein zweites Leben als Café, Boutiquehotel, Laden oder Galerie, doch gleichzeitig schießen um die historische Altstadt herum Wohntürme für die vom nostalgischen Vibe angezogenen Zuwanderer:innen in die Höhe, zum Teil auf gewonnenem Land, das den alten Kolonialhafen immer weiter von der Küste entfernt. Die meisten Bewohner:innen begrüßen die wirtschaftlichen Effekte oder profitieren selbst von ihnen, aber die Alteinwohner:innen der Altstadtviertel beklagen den Verlust ihrer Gemeinschaften, selbst wenn die alten Bauten nun strenger geschützt sind. Und mag auch der heritage boom den Chetti und ihren Tempeln Anerkennung und Besuch von der UNESCO-Generaldirektorin bringen, so reicht er trotzdem nicht aus, die in ihre alte Nachbarschaft vordringenden Hochhäuser zu stoppen. An Spannungen und offenen Konflikten ist kein Mangel, aber hier Nutznießer von Opfern zu trennen und die Effekte des Welterbetitels aus dem Konzert anderer dynamischer Entwicklungen herauszufiltern, ist nicht einfach. Trotz der konservierenden Absichten, so wird klar, ist das Welterbe ein Veränderungsfaktor unter vielen.

Fazit

Insgesamt neige ich immer noch dazu, transnationalen Organisationen und den von ihnen ausgeschriebenen symbolischen Anreizen – seien es nun olympische Medaillen, Nobelpreise oder Welterbetitel – eine zivilisierende Wirkung zuzubilligen. Hier zu reüssieren, erfordert eine gewisse Unterwerfung unter ein gemeinsames Rahmenwerk und nimmt nationalen Alleingängen ihren Reiz; zumindest wird hier gewaltlos miteinander kommuniziert. Dass dies die jüngsten Kriege und Konfrontationen nicht verhindert hat, ist jedoch genauso offensichtlich. Symbolischer Weltenbau bleibt auch beim UNESCO-Welterbe Stückwerk und unvollendetes Projekt, zumal die Eigeninteressen der beteiligten Nationen eine grundlegende Reform und Dekolonialisierung der Köpfe behindern. Das Welterbe spiegelt insofern nicht unbedingt wider, wie die Welt sein sollte oder könnte, auch wenn der utopische Impuls des Menschheitserbes weiterhin nicht ganz erloschen ist und viele Anhänger:innen mobilisiert. Vielmehr zeigt sich hier die Welt ganz so, wie sie tatsächlich ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. World Heritage Convention, o.D., Externer Link: https://whc.unesco.org/en/conventiontext.

  2. Vgl. World Heritage List, laufend aktualisiert, Externer Link: https://whc.unesco.org/en/list.

  3. Vgl. Intangible Cultural Heritage, o.D., Externer Link: https://ich.unesco.org/en/home.

  4. Vgl. Christoph Brumann, The Best We Share. Nation, Culture and World-Making in the UNESCO World Heritage Arena, New York 2021, S. 51–66. In dieses Buch und andere Publikationen sind die Ergebnisse ethnografischer Feldforschung von 2009 bis 2015 auf fünf Welterbekomiteesitzungen und weiteren offiziellen Treffen, mehrere Dutzend Interviews mit beteiligten Akteur:innen und die Sichtung einer großen Zahl produzierter Dokumente eingeflossen.

  5. Vgl. ebd., S. 227–233.

  6. Vgl. ebd., S. 1ff. sowie S. 70ff.

  7. Vgl. ebd., S. 83–97.

  8. Vgl. Christoph Brumann/Aurélie Élisa Gfeller, Cultural Landscapes and the UNESCO World Heritage List. Perpetuating European Dominance, in: International Journal of Heritage Studies 2/2022, S. 147–162, hier S. 155ff.

  9. Vgl. Brumann (Anm. 4), S. 233–238 sowie S. 246–253.

  10. Vgl. ders., Capturing the Supra-State. The World Heritage Committee in 2021, Max Planck Institute for Social Anthropology Working Papers 208/2022, Externer Link: http://www.eth.mpg.de/cms/en/publications/working_papers/wp0208.

  11. Vgl. ders. (Anm. 4), S. 38–46.

  12. Vgl. ebd., S. 70–78.

  13. Vgl. ebd., S. 138ff. Der Konflikt um Preah Vihear und damit verbundene Grenzstreitigkeiten zwischen Kambodscha und Thailand gehen unter anderem auf die Phase der Dekolonialisierung zurück, wo der Internationale Gerichtshof in Den Haag 1962 die von Thailand besetzte Tempelanlage Kambodscha zusprach.

  14. Vgl. ebd., S. 135–138.

  15. Vgl. ebd., S. 128–135.

  16. Vgl. Videoaufzeichnung der Sondersitzung am 24./25.1.2023, Externer Link: https://whc.unesco.org/en/sessions/18extcom/records#tcz7b3GBX4cA0.

  17. Vgl. Brumann (Anm. 4), S. 24ff., S. 34ff. sowie S. 258; ders., Imagining the Ground From Afar. Why the Sites Are So Remote in World Heritage Committee Sessions, in: ders./David Berliner (Hrsg.), World Heritage on the Ground. Ethnographic Perspectives, Oxford 2016, S. 294–317, hier S. 309–314.

  18. Vgl. Brumann (Anm. 4), S. 198 sowie S. 200.

  19. Vgl. ders. (Anm. 10), S. 15f.

  20. Vgl. ders./Berliner (Anm. 17).

  21. Vgl. Pierpaolo De Giosa, World Heritage and Urban Politics in Melaka, Malaysia. A Cityscape Below the Winds, Amsterdam 2021.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Christoph Brumann für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale) und Honorarprofessor für Ethnologie an der Universität Halle-Wittenberg.