Denkt man an Ruinen, kommt einem schnell der Urlaub in Griechenland, in der Türkei oder Italien in den Sinn. Man sieht Relikte griechischer Tempel, Spuren bronzezeitlicher Stadtmauern oder Überreste römischer Amphitheater vor dem geistigen Auge, erinnert sich vielleicht an die in der Antike berühmte kleinasiatische Stadt Ephesos, an Besuche auf Kreta mit seinem minoischen Erbe oder an das Kolosseum in Rom. Vielleicht denkt der eine oder die andere aber auch an ein Gemälde von Caspar David Friedrich, etwa "Ruine Eldena im Riesengebirge" (1830–1834), ein Landschaftsgemälde, das die mittelalterliche Klosterruine Eldena bei Greifswald mit dem weit entfernten Riesengebirge im heutigen Tschechien und Polen kombiniert, oder an den Ruinenberg in Potsdam, der antikisierende, also künstliche, Ruinen als Element der seit dem späten 18. Jahrhundert beliebten Gartenkunst beherbergt. Diese Beispiele stehen für jene Ruinen, die in der modernen Welt positiv besetzt sind – nicht selten schwingt hier eine Ruinenästhetik mit, die ihre Wurzeln in der deutschen Romantik besitzt. Es gibt aber auch andere Ruinen, die deutlich weniger positiv konnotiert sind, beispielsweise die Frauenkirche in Dresden, die als Mahnmal dient, die Garnisonkirche in Potsdam, deren Überreste noch immer umstritten sind, oder etwa die Beelitzer Heilstätten bei Potsdam, denen im wahrsten Sinne des Wortes Ruinöses anhaftet. Letztere wurden Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts als Sanatorium errichtet, dienten den Sowjets nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Abzug in den 1990er Jahren als Militärkrankenhaus und verfielen dann zügig – befördert durch Vandalismus. Sie zählen wie viele andere moderne Ruinen des 19. und 20. Jahrhunderts – beispielsweise aufgegebene Industrieanlagen, nicht mehr benutzte Bunker oder das 1986 havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine – zu den sogenannten Lost Places, die zu den zentralen Destinationen der Ruinentouristen, den sogenannten Urban Explorers, gehören.
Zu den modernen Ruinen zählen aber auch Bauwerke der NS-Zeit, vor allem Großanlagen wie etwa das KdF-Seebad Prora auf Rügen, das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg oder der U-Boot-Bunker Valentin in Bremen. Diese NS-Ruinen sind Teil der deutschen Erinnerungskultur, viele von ihnen wurden musealisiert und sind heute Gedenkstätten, beherbergen Dauerausstellungen oder ein Dokumentationszentrum. Daneben gibt es aber auch zahllose NS-Ruinen, die weitgehend vergessen beziehungsweise "sichtbar-unsichtbar" sind, wie etwa die sogenannten Thingstätten, die das NS-Regime Mitte der 1930er Jahre zu Beginn der Machtübernahme im gesamten Deutschen Reich zu Propagandazwecken erbauen ließ. Mit dem Thing-Begriff, der 1933 von dem Kölner Theaterwissenschaftler Carl Niessen eingebracht worden war, knüpfte man seinerzeit bewusst an das althochdeutsche "thing" (Versammlung) an, um eine Verbindung zu germanischen Versammlungs- und Kultstätten zu suggerieren.
Als "steingewordener Nationalsozialismus", so Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seiner "Weiherede" zur Eröffnung der Thingstätte auf dem Heiligenberg bei Heidelberg 1935,
"Stilllegung"
Die Geschichte der NS-Thingstätten lässt sich als eine Geschichte des Wandels und der Umgestaltung schreiben, kurz: als Transformationsgeschichte. Der Ablauf dieses Prozesses, den es im Einzelnen für jede Anlage herauszuarbeiten gilt, ist dabei sehr verschieden. Es gibt aber durchaus eine Gemeinsamkeit, die alle während der NS-Zeit fertiggestellten Stätten betrifft und als Ausgangspunkt der weiteren individuellen Transformationsgeschichte zu begreifen ist: Die Thingstätten mit ihren neuartigen massentheatralen Sprechspielen konnten Mitte der 1930er Jahre weder Zuschauer noch Vertreter des Regimes tatsächlich begeistern. Gerade die Thingspiele wurden von der zeitgenössischen Kritik, die NS-Presse eingeschlossen, zum Teil vernichtend besprochen. Die anfängliche Euphorie bezüglich der Schaffung eines neuen, nationalsozialistischen Massentheaters wich der Ernüchterung. Das lag zum einen daran, dass der Bau der Anlagen nur schleppend vorankam, zum anderen war aber auch die Thingspieldichtung aus Sicht des NS-Regimes wenig ansprechend. Hinzu kam, dass bereits im Oktober 1935 eine Anweisung aus dem Reichspropagandaministerium die Verwendung des Begriffs "Thing" untersagte und eine neue Sprachreglung forderte. Der Rückgriff auf eine wie auch immer geartete germanische Frühgeschichte galt nicht länger als opportun, stattdessen wurden die Anlagen nun neutral als Feier- oder Weihestätten beziehungsweise Freilichtbühnen bezeichnet. Die Aufführung von Thingspielen lief daher nach und nach aus, ab etwa 1937 nutzte dann vielfach die Hitlerjugend die Anlagen etwa für Aufmärsche oder Fackelzüge. Die Folge war, dass die Anlagen noch während der NS-Zeit ihre eigentliche Funktion verloren und nur spärlich genutzt wurden.
Waren die Stätten ursprünglich als Kulturbauten für die Bevölkerung gedacht, gerieten sie bereits während der NS-Diktatur ins Abseits. Sie wurden von den Nationalsozialisten gewissermaßen "stillgestellt", und das im doppelten Sinne: Erstens hatten sie ihre Funktion als Propagandainstrumente eingebüßt und "verstummten" gleichsam; diese Stillstellung führte zweitens wiederum dazu, dass der Prozess der Ruinierung – und damit der Prozess der Transformation – für alle Thingplätze bereits wenige Jahre nach ihrer Fertigstellung einzusetzen begann und sich nach den Zweiten Weltkrieg, wenn auch auf unterschiedliche und individuelle Weise, fortsetzte. Denn mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es für die deutsche Gesellschaft zu einer einschneidenden Zäsur, die sich nicht nur in einem veränderten politischen System manifestierte. Der Transformationsprozess vollzog sich vielmehr multidimensional und betraf nicht zuletzt das Wertesystem, den Lebensstil, soziokulturelle Aspekte sowie die materielle Ebene. Die nationalsozialistischen Thingstätten waren ebenfalls von diesem Umbruch betroffen, auch für sie begann gewissermaßen eine "neue" Zeit.
Vielfältiges Ruinenpanorama
Verfolgt man das Ruinenschicksal
Ruinen sich selbst überlassen
Wer beispielsweise die Thingstätte auf dem Braunschweiger Nußberg besuchen möchte, muss sich auf eine durchaus zeitintensive Spurensuche begeben. Denn von der einstmals großangelegten Stätte ist heute kaum noch etwas zu sehen oder gar zu besichtigen. Die Stadtverwaltung hatte der Anlage nach dem Zweiten Weltkrieg kaum Beachtung geschenkt, sodass nach und nach der natürliche Zerfall einsetzte. Gemäuer fielen in sich zusammen und Zersetzungen durch Wasser, Hitze und Kälte, Mikroorganismen, sich ausbreitende Pflanzen und stöbernde Tiere folgten; die Natur eroberte sich ihr Territorium gewissermaßen zurück, gleich einem "Kompostierungsvorgang".
Über die Braunschweiger Thingstätte wuchs also und wächst weiter Gras – und das im doppelten Sinne: Zum einen führt der Wildwuchs ganz praktisch, und sei es in einer fernen Zukunft, zu ihrer völligen materiellen Zersetzung; zum anderen wächst im übertragenen Sinne über das schwierige Erbe der NS-Zeit Gras. Und das hat Folgen: Die einstigen monumentalen Bauwerke werden unsichtbar, weil ihre materielle Kultur nicht mehr wahrnehmbar und erfahrbar ist. In Braunschweig lag darin offenbar das erklärte Ziel der Stadt, denn rückblickend wird der durch die Vegetation bedingte Zerfall als "genau der richtige Umgang"
Ruinen bespielen
Als "unsichtbare Ruine" ist die Braunschweiger Thingstätte zugleich eine "vergessene Ruine". Die Erinnerung an das Bauwerk und die mit ihm verbundene Geschichte verblasst und das hat vor allem mit ihrem kontinuierlichen materiellen Substanzverlust seit 1945 zu tun. Zu den "vergessenen Ruinen" zählen aber auch Anlagen, deren Ruinierung quasi aufgehalten wurde, indem sie konsequent weitergenutzt wurden. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die sogenannte Nordmark-Feierstätte in Bad Segeberg. In der 1937 eingeweihten Freilichtbühne am Kalkberg fand im Oktober 1945 eine der ersten großen Boxveranstaltungen nach dem Krieg statt – mit dem Schwergewichtsweltmeister und in der deutschen Bevölkerung populären Max Schmeling als Ringrichter. Als einschneidend kann jedoch das Jahr 1950 gelten. Damals unterbreitete der Lübecker Oberspielleiter Robert Ludwig der Stadt die Idee, die Anlage für "Winnetou-Festspiele" zu nutzen. Die Stadt zögerte keine Sekunde und der Magistrat stimmte im Juli 1950 im "Interesse der Hebung des Fremdenverkehrs der Vorlage der Stadtverwaltung" zu.
Das Bespiel illustriert: Die Anlage ist zwar bis heute sicht- und begehbar – über Ein- und Umbauten zweifellos in veränderter Form –, die konstante Nach- und Weiternutzung nach dem Zweiten Weltkrieg hat aber dazu geführt, dass nicht nur der Prozess der Ruinierung aufgehalten wurde, sondern auch die (Vor-)Geschichte des Freilichttheaters verblasst ist. Hier zeigt sich gewissermaßen eine Paradoxie. Denn letztlich ist die Anlage sichtbar-unsichtbar beziehungsweise präsent und abwesend zugleich. Je weiter die Nach- und Weiternutzung fortschreitet und je intensiver sich diese gestaltet, desto mächtiger wird die Schicht des Vergessens, die sich um das Bauwerk legt. Die Überschreibung, die in Bad Segeberg stattgefunden hat – Ähnliches trifft unter anderem auf die Anlagen im sächsischen Borna und im niederbayrischen Passau sowie die heute als Berliner Waldbühne bekannte Stätte zu –, kommt einer performativ hergestellten damnatio memoriae gleich.
Um Ruinen streiten
Die Weiternutzung der Nordmark-Feierstätte in Bad Segeberg nach 1945 verlief weitgehend geräuschlos, schließlich hatte sich die Stadt als zentraler und einziger Akteur hinsichtlich der Thingstätte klar positioniert, indem sie diese weiter als Freilichttheater nutzte. An anderen Orten verlief der Transformationsprozess deutlich lauter, ja kontroverser. Denn nur selten gab es ein klares Konzept, wie man mit diesen speziellen NS-Ruinen umgehen sollte. In Heidelberg etwa diskutierte man Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre in der Stadtverwaltung und in der Öffentlichkeit durchaus intensiv darüber, wie man die riesige Anlage mit ihren etwa 8.000 Sitz- und über 20.000 Stehplätzen auf dem Heiligenberg, idyllisch im Wald gelegen, nutzen könne. Eine Entscheidung wurde allerdings nicht getroffen; man sorgte allenfalls dafür, dass sie nicht verwilderte wie in Braunschweig und hielt sich damit eine zukünftige Nutzung offen. Tatsächlich erarbeitete der Gemeinderat dann in den 1980er Jahren ein Nutzungskonzept, das vier (angemeldete) Großveranstaltungen pro Jahr vorsah. Mit spontanen Veranstaltungen wie den seit Ende der 1990er Jahre einsetzenden Walpurgisfeiern, die über Mund-zu-Mund-Propaganda und abhängig vom Wetter zum Teil weit mehr als 10.000 Menschen an die Thingstätte zogen, hatte man allerdings nicht gerechnet. Das popkulturelle Massenevent sorgte Jahr für Jahr sowohl im Vorfeld als auch im Nachhinein für Aufregung bei zahlreichen Akteuren: bei Stadt und Polizei, beim Forstamt und bei betroffenen Anwohnern. Die Stadt sah sich mit Sicherheitsfragen und die Polizei mit potenziellen Drogendelikten konfrontiert, das Forstamt sorgte sich um den Wald und die Müllmengen, die Anwohner wiederum sahen sich durch die Besucher um ihre Nachtruhe gebracht. Die NS-Ruine avancierte zum jährlichen "Störfall".
Auch die Passauer Anlage wurde zum Streitobjekt als 1980 das erste Passauer Open Air Festival auf dem Platz veranstaltet wurde, von dem damals nur noch spärliche Ruinenreste erhalten geblieben waren. Eine Gruppe junger Erwachsener initiierte die Veranstaltung, um einen Gegenpol zur christlich-konservativ geprägten Stadtkultur zu etablieren. Die Stadt versuchte wiederum das Musikfestival zu verhindern und verbot die Veranstaltung, woraufhin die Initiatoren vor Gericht zogen und Recht bekamen. Im Verlauf der fast 20-jährigen Festival-Geschichte kam es regelmäßig zu Debatten zwischen den Veranstaltern, der Stadtverwaltung und Anwohnern – ganz ähnlich wie in Heidelberg. Gestritten wurde dabei nie um die NS-Ruine beziehungsweise ihre Entstehungsgeschichte, gestritten wurde um die Art der Nutzung und damit um das Massenevent in popkultureller Rahmung mit seinen ganz praktischen Problemen wie Verschmutzung, Lärm und Kriminalität.
Die beiden NS-Ruinen führten also zu latenten Spannungen in der Stadtgesellschaft, allerdings jenseits ihres nationalsozialistischen Bedeutungsgehalts.
Ruinen sinnlich erfahren
Die Heidelberger Thingstätte gehört zu den ausgesprochen gut erhaltenen NS-Ruinen in Deutschland. Sie bildet mit mehreren, sich in direkter Umgebung befindlichen Bodendenkmälern aus ur- und frühgeschichtlicher Zeit – einem eisenzeitlichen Ringwall und zwei mittelalterlichen Klosteranlagen – eine Art Ruinenensemble und steht unter Denkmalschutz.
Die Heidelberger Ruine erweist sich somit als Ort der Erinnerung, dessen greifbare und erlebbare Präsenz im öffentlichen Raum die Besucher mit dem Fremden im Eigenen zu konfrontieren vermag und zur Reflexion herausfordert. Sie trägt also einen erinnerungskulturellen Wert mit sich, der sich über das sinnlich-emotionale Erleben aktivieren lässt und im besten Fall die NS-Propaganda und ideologische Durchdringung aller Lebensbereiche nachvollziehbar macht. Parallel besitzt die Thingstätte aber auch einen ästhetischen Wert, denn vielen Besuchern erscheint die moderne Ruine im Grünen geradezu von ihrer historischen Bürde befreit, evozieren doch ihre Lage und die sie umgebende Landschaft und Natur eine besondere Atmosphäre. Eindrücklich zeigt sich das etwa bei denjenigen Besuchern, die während ihres Aufenthalts auf die Abgeschiedenheit mitten im Wald verweisen, die Ruhe und Stille an dem Ort betonen oder gar eine "silent aura"
Das Beispiel veranschaulicht, wie das sinnliche Erleben sowohl Handlungen als auch Deutungen beeinflusst und Imaginationen hervorruft. Der Atmosphäre als wechselseitiges Zusammenspiel von materieller Kultur, Körper und Raum – und damit als Phänomen ähnlich latent wie die Ruine selbst – kommt dabei eine zentrale Rolle zu.
Wert der NS-Ruinen
Die hier vorgestellten NS-Ruinen unterliegen also nicht nur einem temporal-materiellen, sondern auch einem gesellschaftspolitischen und kulturellen Wandel. Sie wurden und werden beständig umgeformt, umgearbeitet und umgedeutet. Wie alle Ruinen sind auch sie Orte im Dazwischen – changierend zwischen (materieller) Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.
Der Philosoph Georg Simmel hat vor über 100 Jahren in seinem Essay "Die Ruine" über ihren Status reflektiert und sie als Stätten des Lebens bezeichnet, aus denen das Leben gewichen sei.
Simmel hatte seinerzeit zwar antike Ruinen im Blick, aber sein Entwurf einer Ästhetik der Ruine ist keineswegs aus der Zeit gefallen. Er gilt gleichermaßen für NS-Ruinen, die ebenfalls einen ästhetischen Reiz entwickeln (können), der nicht nur sinnlich-emotional erlebbar ist, sondern auch hinsichtlich Nutzung, Aneignung und Deutung eine Unbefangenheit inkludiert, die sie zu "freien Schauplätzen neuer signifikatorischer Akte" macht.
Fazit
2014 plädierte der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei in der Wochenzeitung "Die Zeit" dafür, die bereits in einem fortgeschrittenen ruinierten Stadium befindlichen NS-Bauten – sein Beispiel war die Ehrentribüne (sogenannte Zeppelintribüne) auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg – nicht denkmalpflegerisch zu erhalten, sondern der vollständigen Ruinierung preiszugeben. Aus seiner Sicht verdienten die "architektonischen Monstrositäten der NS-Zeit" keinerlei Renovierung oder Restaurierung, wolle man eine "zusehends leerlaufende Erinnerungspolitik" nicht weiter befördern. Er sprach sich für eine De-Auratisierung und einen "kontrollierten Verfall" aus.
Für viele NS-Ruinen laufen die Fragen allerdings ins Leere beziehungsweise stellen sich erst gar nicht. Die nationalsozialistischen Thingstätten wurden beispielsweise schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg auf ganz unterschiedliche Art nachgenutzt, bespielt und angeeignet; ihre Bedeutung erschöpfte sich aufgrund ihres latenten Status nicht beziehungsweise nie allein in ihrem historischen Wert, sodass sie bis heute gewissermaßen unter dem "erinnerungskulturellen Radar" fliegen konnten. An den NS-Thingstätten als Orten der Latenz manifestieren sich Praktiken und Umgangsweisen, die andernorts – etwa in Museen, Gedenkstätten, Dokumentationszentren – aus erinnerungspolitischen Rahmenbedingungen heraus nicht denkbar sind. Die NS-Thingstätten wurden so zu Veranstaltungsorten, Tourismusdestinationen, Stätten subkultureller Aneignung, Orten gesellschaftlicher Aushandlung und nicht selten: schlicht vergessen. Ihre gesellschaftliche Rolle ist also nicht beschränkt oder gar einseitig auf eine Funktion festgelegt, sondern vielfältig wandel- und formbar. Als NS-Ruinen abseits offizieller Erinnerungsdiskurse liegt in dieser Multidimensionalität und Bedeutungsvielfalt ihr eigentlicher Wert. Nicht selten erweist sich das als gesellschaftlich herausfordernd. Eine gewisse Ambiguitätstoleranz gegenüber den von der erinnerungskulturellen Norm abweichenden Deutungen, Aneignungen und Nutzungen – einschließlich des bewussten Verfallenlassens – scheint dabei erforderlich.