Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Eine kleine Geschichte des Ruinenmotivs | Ruinen | bpb.de

Ruinen Editorial Wachstum und Niedergang in Chinas "Geisterstädten" Eine kleine Geschichte des Ruinenmotivs Sichtbar-unsichtbare Orte. NS-Thingstätten abseits vom Erinnerungsdiskurs Konfliktraum UNESCO Ruinen mit Zukunft. Detroits Wandel im Blick Wertvolle Ruinen. Plädoyer für die Bauwende

Eine kleine Geschichte des Ruinenmotivs

Kevin Bücking

/ 17 Minuten zu lesen

Im Verfall begriffenen Bauwerken werden seit der Antike unterschiedliche Bedeutungen zugemessen. Sie stellen Objekte der Faszination und ästhetischen Aushandlung dar und stehen oft sinnbildlich für eine konflikthafte Menschheitsgeschichte.

Ruinen sind verfallen(d)e architektonische Bauwerke, sprich: mehr oder weniger erhaltene materielle Reste von Gebäuden. "Ruinierung" bezeichnet wiederum den graduellen Prozess zwischen vollkommen intaktem Bau und letztlich bloßem Staub. In einem metaphorischen Sinne lässt sich zudem der erweiterte Phänomenbereich des Ruinösen in den Blick nehmen, der prinzipiell jeden möglichen vom Menschen hergestellten Gegenstand umfasst. Jedes von Verfall oder Zerstörung beeinflusste Artefakt lässt sich aus dieser Perspektive somit als Ding- oder Objektruine betrachten.

Mit den architektonischen Ruinen im engen Sinne und den ruinösen Dingobjekten im weitesten Sinne sind die materiellen Ruinen angesprochen. Hinzu kommt der Bereich der immateriellen Ruinen, wenn die Ruine in semiotischen Verweis-Zusammenhängen als Zeichen für Anderes fungiert. Wie sich im Folgenden zeigt, dienen Ruinen vor allem in ästhetischen Kontexten als Symbol, Metapher, Allegorie oder auch als Spur für Sinnzusammenhänge, die ihre Bedeutsamkeit von woanders her gewinnen. So sind voraussetzungsreiche Analogieschlüsse im Spiel, wenn Ruinen als Zeichen der Zeit, Zeugnis vergangener Größe, Symbole einstiger Macht, Spuren der Vergangenheit, Zeichen des Zusammenbruchs, Embleme einer Kultur, Allegorien der Geschichte oder als politische Symbole beispielsweise im Denkmalschutz erscheinen. Auch umgekehrt lassen sich Dinge in der Welt in Analogie zur Ruine betrachten, wenn in Zeiten fortgeschrittener Umweltzerstörung der Planet Erde zur Ruine erklärt wird, man die Körper oder den Geist alternder Lebewesen als Ruinen betrachtet oder mediale Träger zu Ruinen werden. Treibt man solcherlei Analogien auf die Spitze, lässt sich der gesamte Prozess der Geistesgeschichte als eine immaterielle Anhäufung von Fragmenten einstiger "Gedankengebäude" vorstellen. Der ruinöse Blick als imaginative Wahrnehmungsfähigkeit kann letztlich alles mit dem Schleier des Verfalls überziehen.

Kulturgeschichte der Ruinen

Ruinen wurden im Laufe der Zeit auf sehr unterschiedliche Weise betrachtet. Als Spuren der Vergangenheit verweisen sie nicht bloß auf den unaufhaltsamen Fortgang geschichtlicher Zeit und den damit einhergehenden historisch-kulturellen Wandel, auch die Art und Weise ihres Verweisens selbst unterliegt dieser Dynamik. Den Ruinen sind somit Formen kulturellen Wandels selbst eingeschrieben. Als geschichtliche Spuren nehmen sie verschiedene, teils divergente, mitunter auch paradoxe Rollen und Funktionen ein. So stehen sie beispielsweise für Ende und Neuanfang, Leben und Tod, Vergänglichkeit und Beständigkeit, Zeitlosigkeit und Zeitenwandel, Bewahrung und Zerstörung, Bruch und Kontinuität, Erinnern und Vergessen, Vergangenheit und Zukunft, Macht und Ohnmacht, Schönheit und Hässlichkeit, Befriedung und Schauder, Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit, Anwesenheit und Abwesenheit, Spuren der Kultur und Spuren der Natur, die Größe des Menschenwerks und zugleich dessen Vergeblichkeit – um nur einige Pole zu nennen, zwischen denen sich abspielt, was die reflektierende Begegnung mit Ruinen ausmacht.

Die Geschichte der Ruinen ist eine Geschichte permanenten Bedeutungswandels. Die Geschichte der Ruinen kann es aufgrund der Fülle möglicher Untersuchungsgegenstände und Betrachtungsweisen ohnehin nicht geben, eine Geschichte der Ruinen hingegen schon. Dass und inwiefern es einen im Laufe der Zeit gewandelten und sich wandelnden Zugang zu den Spuren der Geschichte gab und nach wie vor gibt, soll in diesem Abschnitt im Fokus stehen, da nur so die Fülle möglicher Konnotationen ersichtlich wird. Die Kulturgeschichte der Ruinen meint also weniger eine Kulturgeschichte ihrer Objekte als der Reflexionsprozesse, die an ihnen getätigt wurden.

Wie der französische Archäologe Alain Schnapp aufzeigt, kommt Ruinen bereits im Altertum eine wesentliche Funktion im Zusammenhang mit einer frühen Form von Erinnerungskultur zu. Das Verständnis der Vergangenheit und das Verhältnis zu ihr dienen in der Antike zumeist der Legitimation der Herrschaft sowie der Bewahrung der Tradition und bilden sich vornehmlich an dem Umgang mit materiellen Resten schriftlicher Zeugnisse und architektonischer Gebilde, beziehungsweise von Artefakten im weitesten Sinne. Geht es in der Antike um Ruinen, so stehen der Wunsch nach Selbstdarstellung des Herrschers und die Rechtfertigung und Fortdauer der Macht im Vordergrund. Die Ruinen sind Manifestationen der Größe und Macht vergangener Zeiten, in deren Tradition und chronologische Fortführung sich ein Herrscher einreiht. Dabei geht es nicht bloß darum, die architektonischen und schriftlichen Spuren der Vorgänger aufzugreifen, sondern sie auch weiterzuführen und der Nachwelt ebenfalls möglichst imposante Spuren zu hinterlassen. Das Ergebnis sind gigantomanische Bauten wie die ägyptischen Pyramiden, die mesopotamischen Zikkurats, die chinesische Mauer und weitere Schöpfungen des offiziellen und inoffiziellen Weltkulturerbes. Solcherart Architekturen haben etwas maßloses, sie verkörpern eine Form der Übertreibung, die ebenso ein "Mittel der Propaganda" wie ein "Instrument der Erinnerung" darstellt. Die gewaltigen Bauwerke verbindet die Intention, "sich der Zeit gegenüber zu behaupten, die eine der Grenzen der menschlichen Existenz bedeutet". Besonders deutlich zeigt sich das unter anderem am Beispiel der ägyptischen Pyramiden, von denen man meinen könnte, sie hätten den Kampf gegen die Zeit tatsächlich gewonnen.

Mit der Renaissance verändert sich der Blickwinkel. "Als im 15. Jahrhundert die Ruinen ins Bewusstsein der Menschen treten, erscheinen sie zuerst als Erkenntnisgegenstände." In der Beschäftigung mit verfallenen Bauwerken geht es nun um die wiederherzustellende ehemalige Größe der Antike. Ruinen dienen dabei als Gegenstände der Erkenntnisgewinnung; an ihnen gilt es, das Wissen über die Antike zu erschließen, ganz im Sinne der bereits im Mittelalter von Hildebert von Lavardin (1056–1133) geprägten Sentenz, die zu einem Leitmotiv der Renaissance werden sollte: "Was Rom war, lehren uns noch heute seine Ruinen." Die Kenntnis der Antike bildet sich seit der Zeit des Quattrocento im 15. Jahrhundert nicht allein in der Auseinandersetzung mit Texten, Inschriften, der Epigrafik und Numismatik aus; vielmehr gewinnen auch die Ruinen als architektonische Reste an Bedeutung. Die Überbleibsel von Bauwerken sind Gegenstand einer akribisch-detektivischen Spurensuche mit dem Ziel der Rekonstruktion der antiken Vergangenheit. Lange bevor Archäologie und Denkmalschutz etablierte Praktiken im heutigen Sinne wurden, entwickelten Humanisten, Schriftsteller und Architekten bereits eine künstlerisch-kreative und wissenschaftlich-analytische Praxis, durch welche die Ruinen zu "Objekten der Bewunderung" wurden.

Die Renaissance zeichnet unter anderem eine Wiederaneignung der vorchristlichen Kultur aus. Den Darstellungen der Ruinen kommt dabei eine doppelte Funktion zu: "Einerseits zeugen sie von der Faszination für die römische Kultur; andererseits bestätigen sie die Aktualität des antiken Modells. Für die Menschen des Quattrocento sprechen die Ruinen also gleichzeitig von der Vergangenheit wie von der Gegenwart." Es geht bei der Befassung mit verfallenen Bauwerken also nicht nur um die vergangene Vergangenheit, sondern um die gegenwärtige Vergangenheit; die antike Vergangenheit soll im Hier und Jetzt wieder auferstehen.

Erst im Zeitalter des Barock beginnt die Ruine "autonom" zu werden, wie etwa der französische Philosoph Gérard Raulet ausführt: "Die Ruine hat nun einen Wert an sich, selbst wenn er noch auf anderes verweist; der Torso wird nicht mehr ergänzt (…)." Der Torso, das Bruchstückhafte, die Fragmente werden zu ästhetischen Objekten eigenen Rechts. Ein wesentlicher barocker Moment der Ruinenästhetik ist Raulet zufolge die Verschränkung von Natur und Geschichte. Bei dem französischen Schriftsteller Jacques-Henri Bernadin de Saint-Pierre (1737–1814) heißt es in diesem Sinne: "Die Ruinen, in denen die Natur gegen die Kunst der Menschen ankämpft, flößen eine sanfte Melancholie ein. Sie zeigt uns die Vergeblichkeit unserer Werke und die Beständigkeit der ihrigen. Da sie beim Zerstören zugleich immer Neues schafft, läßt sie aus unseren Monumenten Goldlack, Chaneopodium, Graspflanzen, wilde Kirschbäume, Girlanden von Winden, Fransen aus Moos und alle möglichen Arten von Steinbrech emporwachsen, die, durch ihre Blumen und ihre Beschaffenheit, mit den Felsen aufs lieblichste kontrastieren." Die Ruine verweist im Barock also nicht mehr auf eine vergangene, wiederherzustellende Größe, sondern wird zum Symbol der Vergänglichkeit in Form des Todes selbst. Hier bahnt sich bereits eine Entwicklung an, die noch deutlicher im Zuge der Aufklärung hervortreten wird: Geschichte wird zur Naturgeschichte. Weniger der Mensch und seine Historie stehen demnach im Mittelpunkt der Reflexion, sondern die Natur wird zur zentralen Größe des unaufhaltsamen Zeitwandels.

Mitten im Jahrhundert der Aufklärung bildet sich eine Faszination für das Düstere und Abgründige in Form der Triebe, des Unterbewussten, des Irrationalen, der Nacht und des (Alb-)Traums und intensiven inneren Gefühlslagen heraus: die Romantik – in ihren finsteren Spielarten auch als "schwarze Romantik" bezeichnet. Diese Epoche versteht vornehmlich die mittelalterliche Kultur als ihren wichtigsten Referenzpunkt. Als Gegenbewegung zum "Klassizismus" zur Bezeichnung von Phänomenen, die sich auf das griechisch-römische Altertum beziehen und durch "Vorstellungen von Klarheit, Rationalität, Kontur und Linie sowie der Mäßigung des leidenschaftlichen Ausdrucks" geprägt sind, entstehen so im 18. Jahrhundert mehr oder weniger parallel zueinander künstlerische Strömungen, die das christliche Mittelalter zum Vorbild haben und die "Enthusiasmus, Schwärmerei, Melancholie und poetische Ekstase" kennzeichnen. Der Fokus bei der Orientierung am Mittelalter liegt dabei nicht allein auf den entsprechenden Stilen, Sitten und Gebräuchen, sondern insbesondere auf einer "Sensibilität, die den antiken Menschen unbekannt war und die sich im Christentum ausdrücke".

Klosterruine Eldena bei Greifswald (Caspar David Friedrich, um 1825) (© Wikimedia)

Das veränderte ästhetische Empfinden, das sich in Verbindung mit dem Begriff des Erhabenen ausformt, bildet den Hintergrund, vor dem auch die Ruinen in verwandelter Weise in den Vordergrund treten und einen sich wandelnden Verweis auf den Lauf der Zeit und die Kräfte der Natur verkörpern. In Abgrenzung zum Schönen sind mit dem Erhabenen intensive Empfindungen angesprochen, die durch Phänomene verursacht werden, die das menschliche Maß übersteigen, wie beispielsweise die Erfahrung von Naturgewalten. In den berühmten Gemälden Caspar David Friedrichs – beispielsweise den Darstellungen der Klosterruine Eldena – weichen die antiken den gotischen Architekturen und werden zum Inbegriff der romantischen Ruine. Friedrichs Ruinen sind Orte der Verlassenheit – selbst wenn sich dort noch Menschen aufhalten. Zumeist eingebettet in abgeschiedene Atmosphären der Natur, stehen sie in erster Linie für sich selbst. Sie sind nicht als Reminiszenz an vergangene Reiche konzipiert, an denen sich ein barockes "Wühlen im Schmerz" über den Verlust einstiger Größe im Kontrast zu "jetziger Erniedrigung" einstellt; die ruinösen mittelalterlichen Kathedralen mit ihren Altersspuren wirken vielmehr "beruhigend als Zeugnisse des gesetzlichen Naturlaufs, dem alles Menschenwerk sicher und unfehlbar unterworfen ist". Das vom Menschen geschaffene Bauwerk in Form der Ruine wird dem gesetzlichen Lauf der Natur preisgegeben.

In der Moderne und der Zeit danach, oft als Postmoderne bezeichnet, nehmen die Ruinen noch einmal veränderte Gestalten und Konnotationen an. Seit der Industrialisierung und der Entwicklung neuer Baumaterialien entstehen gänzlich neue Architekturstile und somit auch neue Ruinengestalten; neue Techniken und Medien, einsetzend mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert, ermöglichen neue Wiedergabe- und Darstellungsformen der Ruinen. Die großen Kriege und Konflikte des 20. Jahrhunderts bringen eine Ruinierung der Lebenswelt ungeahnten Ausmaßes mit sich, und den Auftakt in das 21. Jahrhundert markieren die in das kollektive Gedächtnis eingebrannten, medial vermittelten Bilder der verheerenden terroristischen Zerstörung der Twin Towers des World Trade Center in New York am 11. September 2001 und die daraus resultierende Stahlruine am sogenannten Ground Zero. Die Aktualität der zerbrochenen Gestalten des Ruinenmotivs besteht somit bis in die Gegenwart fort.

Omnipräsenz kommt Ruinen vor allem im Zuge der Zerstörungen der beiden Weltkriege zu: "Nach 1945 verweisen die Ruinen nicht mehr auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart – und die Gegenwart erlebt die Zerstörungskraft in einer vollkommen neuen Dimension." Auch medial treten zuvor unbekannte Dimensionen hinzu: Die neuen Bilder aus der Luft dokumentieren die verheerenden Bombenteppiche und die verbleibenden Trümmerwüsten in den Großstädten. Solcherart Verwüstungen im 20. Jahrhundert haben ein bislang ungekanntes Bedürfnis nach Dokumentation geweckt, das sich auch in Fragen des Denkmalschutzes widerspiegelt. Die Ruinen der beiden großen Weltkriege kündigen fortan nicht mehr vom "abstrakten Wert einer fernen Vergangenheit", sondern von den am eigenen Leib erfahrenen Erlebnissen dramatischer Ereignisse und Todesbedrohungen einer traumatisierten Generation: "Die Natur der Ruine verändert sich. Von nun an verkündet sie, wenn auch leider vergeblich, den kategorischen Imperativ des ‚Das darf nie mehr geschehen‘".

Im 20. Jahrhundert wird es somit zur zentralen Aufgabe, an Katastrophen und Zerstörungen zu erinnern. Den Ruinen kommt dabei eine bedeutende symbolische Funktion zu, als "Stigmata der Geschichte" im Sinne einer Pflicht zur Erinnerung bewahrt zu werden. Die Relevanz des Denkmalschutzes nimmt in der Nachkriegszeit entsprechend merklich zu. Seit seinem Aufkommen zu Beginn des 19. Jahrhunderts geht es dabei um die Opposition zwischen der Restaurierung gegenüber der Konservierung. Während im Zuge der Konservierung versucht wird, die originale Architektur möglichst in ihrem unveränderten Zustand zu bewahren und die ursprünglichen Materialien zu schützen und zu erhalten, soll bei der Restaurierung oder gar der Rekonstruktion das Gebäude in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden. Der konstruktive und manipulative Eingriff ist im Falle der Wiederherstellung deutlich weitreichender als bei der Konservation, weshalb Konservierung oftmals mit Authentizität und Echtheit assoziiert wird, während Restaurierung in der Regel der Verdacht auf Inszenierung und Künstlichkeit begleitet.

In jüngerer Zeit hat die Ruinenfotografie in einem gänzlich anderen Sinne ein Revival erlebt. Die englische Bezeichnung Ruin Porn meint in diesem Zusammenhang nicht etwa pornografische Handlungen in ruinösen Kulissen, sondern ein dokumentarisches, meist fotografisches Interesse an verfallen(d)en Orten, den sogenannten Lost Places, das im Zuge einer Erkundung der entsprechenden Orte, der Urban Exploration, in Szenekreisen als eine Art Obsession ausgelebt wird. Urban Exploration ist insoweit irreführend, als es sich häufig gerade nicht um urbane Orte – also belebte innerstädtische Areale – handelt, sondern um abgelegene Orte, die besichtigt werden. Der Begriff erstreckt sich jedoch auf mehr als die bloße Erkundung eines Lost Place. Als Urban Exploration wird beispielsweise auch das (nicht selten rechtswidrige) Erkunden von Industriegebäuden, Kanalisationen, Katakomben, Dächern und anderen in der Regel für die Öffentlichkeit unzugänglichen Bereichen des städtischen Raums bezeichnet. Diese "Expeditionsreisen" verschlagen Menschen an die entlegensten Orte der Welt, um sich dort im Sinne eines Eskapismus aus dem Trubel der belebten alltäglichen Lebenswelt der Faszination am Ruinösen hinzugeben. Dabei werden verlassene und aufgegebene Orte wie etwa Landhäuser, Schlösser, Parks, Industrieanlagen, Krankenhäuser, Schulen, Hotels, Schwimmbäder, Kinosäle, Theater, Kirchen, Hochhäuser, Siedlungen, Bunkeranlagen, U-Bahn-Schächte, Freizeitparks, Versorgungs- und Militäranlagen aufgesucht, um sich dort neben dem Abenteuer der Erkundung dieser Orte deren fotografischer Dokumentation zu widmen. Diese zumeist aus ihrem ursprünglichen lebensweltlichen Kontext gerissenen architektonischen Gebilde an verlassenen Orten beflügeln die Fantasie. An ihnen entzünden sich emphatische Reflexionen und Imaginationen über vergangene und andere Welten wie auch Lebensweisen und Geschehnisse, die sich in den fotografischen Inszenierungen niederschlagen.

Spuren im Raum der Gegenwart

Im Zuge eines solchen historischen Abrisses entsteht leicht der Eindruck, Ruinen seien der archäologischen, historischen oder kunsthistorischen Forschung vorbehalten. Demgegenüber finden sich bei näherer Betrachtung unzählige Disziplinen, Perspektiven und Methoden der Beschäftigung mit dieser Thematik. Man kann Ruinen beispielsweise innerhalb der philosophischen Ästhetik in den Blick nehmen, wenn man danach fragt, inwiefern sie als "schön" empfunden werden beziehungsweise besondere ästhetische Erfahrungen ermöglichen. Dabei bleibt das (kunst-)historische Wissen relevant, denn es trägt die ästhetische Auseinandersetzung mit Ruinen in Hinblick auf deren Bedeutungen. Gleichwohl verschiebt sich bei einer philosophischen Untersuchung der Fokus, kantisch gesprochen, hin zu einer Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit dieser Erfahrungsweisen mit Ruinen. So lassen sich beispielsweise semiologische oder phänomenologische Überlegungen anstellen.

Untersucht man die Ruinen in semiotischer Hinsicht, so fragt man nach ihrem Zeichenstatus. Wie bereits beschrieben, stehen Ruinen bisweilen in komplexen Verweis-Zusammenhängen. Eine grundlegende Opposition ließe sich beispielsweise zwischen einer symbolischen und einer allegorischen Referenz-Beziehung ausmachen. Während den symbolischen Modus eine konventionell eher eindeutige Semiose ausmacht, besteht der allegorische Modus in einer anders-, doppel- oder mehrdeutigen Semiose. Fungieren Ruinen in bestimmten Kontexten als Symbole, ist deren Bedeutung gesellschaftlich relativ eindeutig (beispielsweise die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin als Mahnmal der Verheerungen des Zweiten Weltkriegs); kommt den Ruinen hingegen eine allegorische Bedeutung zu, so wird das im Spiel befindliche Bedeutungsgeschehen wesentlich komplexer. In einem buchstäblichen, initialen Sinne sind Ruinen in der Regel nicht mehr als Reste verfallender Bauwerke; in einem allegorischen Sinne werden sie zugleich Sinnbilder für unbestimmt Vieles: die Geschichte, die Naturgeschichte, politische, gesellschaftliche und soziale Umbrüche, das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit und die damit einhergehenden Formen kulturellen Wandels, die Transformation der Lebenswelt, die Endlichkeit allen Daseins, die Elegie, Melancholie und Nostalgie oder die letztendliche Vergeblichkeit menschlicher Bemühungen und kulturellen Schaffens. Walter Benjamin schreibt über die Ruinen den hermetisch anmutenden Satz: "Allegorien sind im Reiche der Gedanken[,] was Ruinen im Reiche der Dinge [sind]." Dieses Diktum lässt sich so verstehen, dass die Ruine in gewisser Hinsicht zur Allegorie der Allegorie wird. Den materialen Ruinen kommt dieser Lesart nach die allegorische Bedeutung zu, die geistige Form der Allegorie zu verkörpern. Die Ruinen sind architektonische Gebilde, die ihre einstige Funktion verwirkt und damit ihren ursprünglichen Sinn verloren haben. Die Bedeutsamkeit, die wir ihnen fortan zusprechen, kommt ihnen in allegorischer Weise zu; sie werden mit zusätzlichen Bedeutungen allegorisch angereichert. Insofern avancieren die Ruinen geradezu zum Sinnbild allegorischer Verfahren, im Zuge derer im vermeintlich Sinnverfallenen Sinn gesucht wird.

Untersucht man Ruinen hingegen in phänomenologischer Hinsicht, so stehen leibliche und sinnliche Dimensionen der Begegnung mit Ruinen im Zentrum der Überlegungen. Es geht dann darum zu analysieren, inwiefern man als leiblich-sinnlich erfahrende Lebewesen die Atmosphären im Raum erlebt, die von Ruinen ausgehen und sich erspüren lassen. So werden die Formen des Gefühls für Ruinen genauer in den Blick genommen, um zu untersuchen, woraus die elegischen, nostalgischen oder melancholischen Stimmungen resultieren. Besonders charakteristisch für den phänomenalen Charakter der Atmosphären von Ruinen ist die Verschränkung von Architektur und Natur, was zu Reflexionen über das Natürliche im Architektonischen beziehungsweise das Architektonische im Natürlichen einlädt.

Für Georg Simmel wirkt in der Welt stets das "Gegenspiel zweier kosmischer Richtungen", der "große Kampf zwischen dem Willen des Geistes und der Notwendigkeit der Natur", den er auch als Widerspiel der "nach oben strebenden Seele und der nach unten strebenden Schwere" begreift. Die Ruine trägt wesentlich einen "Eindruck des Friedens", wenn es heißt: "Jener Charakter der Heimkehr ist nur wie eine Deutung des Friedens, dessen Stimmung um die Ruine liegt – die neben der anderen steht: daß jene beiden Weltpotenzen, das Aufwärtsstreben und das Abwärtssinken, in ihr zu einem ruhenden Bild rein naturhaften Daseins zusammenwirken." Simmel zufolge ist die Baukunst diejenige Kunstgattung, welche die genannten Kräfte des Geistes und der Natur in einzigartiger Weise in eine harmonische Einheit überführt. Für die Ruine als architektonischen Sonderfall gilt: "Diese einzigartige Balance zwischen der mechanischen, lastenden, dem Druck passiv widerstrebenden Materie und der formenden, aufwärts drängenden Geistigkeit zerbricht aber in dem Augenblick, in dem das Gebäude verfällt. Denn dies bedeutet nichts anderes, als daß die bloß natürlichen Kräfte über das Menschenwerk Herr zu werden beginnen: die Gleichung zwischen Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur. Diese Verschiebung schlägt in eine kosmische Tragik aus, die für unser Empfinden jede Ruine in den Schatten der Wehmut rückt; denn jetzt erscheint der Verfall als die Rache der Natur für die Vergewaltigung, die der Geist ihr durch die Formung nach seinem Bilde angetan hat." Simmels theatralisch-gewaltsame Überspitzung des Verhältnisses von Geist und Natur, das sich an verfallenen Bauwerken zeige, trifft eine grundlegende Intuition im Zusammenhang mit der Begegnung mit Ruinen: Die Natur scheint sich des Menschenwerks zu bemächtigen, und da der Mensch seine Werke in der Regel aus den vorhandenen Materialien der Natur herstellt, lässt sich durchaus mit gewisser Plausibilität davon sprechen, die Natur erobere sich etwas wieder zurück. Bei Simmel heißt es weiter: "In dem Augenblick aber, wo der Verfall des Gebäudes die Geschlossenheit der Form zerstört, treten die Parteien [des Geistes und der Natur] wieder auseinander und offenbaren ihre weltdurchziehende ursprüngliche Feindschaft: als sei die künstlerische Formung nur eine Gewalttat des Geistes gewesen, der sich der Stein widerwillig unterworfen hat, als schüttle er dieses Joch nun allmählich ab und kehre wieder in die selbständige Gesetzlichkeit seiner Kräfte zurück." Diese grundlegende Differenz zwischen kontingenten natürlichen Prozessen und dem intendierten geistigen Gestaltungswillen ist für das Verständnis von Ruinen zentral, denn es ist gerade dieses symbiotische Zusammenspiel beider Vorgänge, das Ruinen zu einer ästhetischen Kategorie eigenen Rechts werden lässt.

Auf die Frage hin, auf welche Weise das Menschenwerk als Naturobjekt erscheint, kann man sich zudem an einer Typologie unterschiedlicher Ruinenformen abarbeiten. Schließlich macht es für das Erleben einen entscheidenden Unterschied, ob man Verfallsruinen, Zerstörungsruinen, Kriegsruinen, Investitionsruinen oder dergleichen mehr begegnet.

Atmosphärisches Reflexionsgeschehen

Führt man semiologische und phänomenologische Perspektiven zusammen, lässt sich die ästhetische Begegnung mit Ruinen als ein atmosphärisches Reflexionsgeschehen begreifen. Die Ruinen erscheinen uns vor dem Hintergrund eines offenen Horizonts biografischer und historischer Zeit im Raum. Die Atmosphären der Ruinen in der Gegenwart speisen sich aus einer unterbestimmten, abgeschlossenen Vergangenheit und strahlen aus in eine unbestimmte, offene Zukunft. Das Erscheinen der Ruinen geht somit selten in deren bloßer sinnlicher Gegenwärtigkeit auf, vielmehr wird ihr ästhetisches Erscheinen von Korrespondenzen mit Vergangenem und Zukünftigem getragen. Gerade weil die biografische und historische Vergangenheit und Zukunft in ihrer Unter- und Unbestimmtheit oftmals Rätsel aufgeben, resultiert die ästhetische Begegnung mit Ruinen in der Regel in Reflexionen darüber, was gewesen sein könnte und was gewesen sein wird. Anstoß nimmt dieses ästhetische Reflexionsgeschehen an den Ruinen der Gegenwart als Spuren im Raum, die sich immer wieder neu und immer wieder anders verstehen und wahrnehmen lassen. Unsere verweilende Anteilnahme an verfallenen Bauten eröffnet ein zugleich sinnliches und sinnhaftes Atmosphärenerleben im Raum, das getragen wird von Reflexionsvollzügen zwischen Begriff und Anschauung.

Ruinen sind letztlich Schauplätze eines Ringens des Menschen mit sich selbst – in intrasubjektiver wie in intersubjektiver Hinsicht. Die Persistenz der Ruinen innerhalb des menschlichen Lebensraums belegt ihren Status als anthropologische Grundkonstante menschlichen Daseins. Ruinen sind Schauplätze einer konfliktvollen und wechselhaften Menschheitsgeschichte. Bittere Aktualität erhält diese Einsicht durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und den abermaligen Ausbruch des Nahostkonflikts nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Wo menschliches Leben herrscht, da entstehen Ruinen. In der Korrespondenz zwischen Ruinen als Objekten und uns selbst als Subjekten der Vergänglichkeit besteht die existenzielle Dimension des Ruinenästhetischen: An den Ruinen der Welt zeigt sich unsere Welt als Ruine. Dass Ruinen eines Tages den Menschen überdauern und schließlich selbst verschwinden werden, bleibt zwangsläufig eine imaginative Reflexion, da sich kein menschlicher Standpunkt einnehmen ließe, der solcherlei Vorstellungen belegen oder widerlegen könnte. Ob es also eines Tages heißt: "Selbst die Ruinen gehen unter", wie Lukan, der Neffe Senecas, schreibt, obliegt einzig der Reflexion an den Spuren im Raum.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Michel Makarius, Ruinen. Die gegenwärtige Vergangenheit, Paris 2004; Alain Schnapp, Une histoire universelle des ruines. Des origines aux Lumières, Paris 2020; Susan Stewart, The Ruins Lesson. Meaning and Material in Western Culture, Chicago 2020.

  2. Vgl. Alain Schnapp, Ruinen als Darstellung der Gesellschaften zwischen Morgenland und Abendland, in: Éva Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 27–44.

  3. Ders., Was ist eine Ruine? Entwurf einer vergleichenden Perspektive, Göttingen 2014, S. 7f.

  4. Ebd.

  5. Ebd., S. 11.

  6. Makarius (Anm. 1), S. 7.

  7. Hildebert von Lavardin, zit. nach ebd., S. 55.

  8. Ebd., S. 59.

  9. Ebd., S. 22.

  10. Gérard Raulet, Die Ruinen im ästhetischen Diskurs der Moderne, in: Norbert Bolz/Willem van Reijen (Hrsg.), Ruinen des Denkens. Denken in Ruinen, Frankfurt/M. 1996, S. 179–214, hier S. 183.

  11. Bernadin de Saint-Pierre, zit. nach Raulet (Anm. 10), S. 196.

  12. Siehe hierzu den Ausstellungskatalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Städel Museum in Frankfurt/M. vom 26.9.2012–20.1.2013: Felix Krämer (Hrsg.), Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst, Frankfurt/M. 2012.

  13. Andreas Beyer, Die Kunst des Klassizismus und der Romantik, München 2011, S. 8.

  14. Ebd., S. 11.

  15. Makarius (Anm. 1), S. 134.

  16. Ebd.

  17. Ebd., S. 208.

  18. Ebd., S. 177.

  19. Vgl. ebd., S. 169–177.

  20. Unter den inzwischen unzähligen Bildbänden zur zeitgenössischen Ruinenfotografie seien hier genannt: Sven Fennema, Nostalgia. Orte einer verlorenen Zeit, München 2015; Gabriela Torres Ruiz, Silence, Berlin 2017; Peter Traub, Die Welt der verlassenen Orte. Urbex-Fotografie, Halle (Saale) 2014.

  21. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 2018, S. 156.

  22. Georg Simmel, Die Ruine, in: ders., Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, hrsg. von Ingo Meyer, Frankfurt/M. 2008, S. 34–41, hier S. 34ff.

  23. Ebd., S. 38.

  24. Ebd., S. 34.

  25. Ebd., S. 35.

  26. Vgl. Kevin Bücking, Ruinen-Ästhetik. Über die Spuren der Zeit im Raum der Gegenwart, Bielefeld 2023, S. 233–244.

  27. Vgl. ebd., insb. S. 244–271.

  28. Schnapp (Anm. 3), S. 69.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Kevin Bücking für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

hat Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main studiert und wurde 2022 mit einer Arbeit über die Ästhetik der Ruinen promoviert.