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Wachstum und Niedergang in Chinas "Geisterstädten" | Ruinen | bpb.de

Ruinen Editorial Wachstum und Niedergang in Chinas "Geisterstädten" Eine kleine Geschichte des Ruinenmotivs Sichtbar-unsichtbare Orte. NS-Thingstätten abseits vom Erinnerungsdiskurs Konfliktraum UNESCO Ruinen mit Zukunft. Detroits Wandel im Blick Wertvolle Ruinen. Plädoyer für die Bauwende

Wachstum und Niedergang in Chinas "Geisterstädten"

Max D. Woodworth

/ 15 Minuten zu lesen

Urbanisierung ist eine zentrale Säule im politisch-ökonomischen Modell der Volksrepublik und Teil eines ideologischen Wohlstandsversprechens. Spekulationsdynamiken erzeugen dabei „Geisterstädte“, die bereits kurz nach Fertigstellung einen Ruinencharakter annehmen.

In der Schlusssequenz des von der internationalen Kritik gefeierten Dokumentarfilms "Behemoth" des Regisseurs Zhao Liang von 2015 folgt man einem Lastwagen durch eine chinesische Stadt. Die langen Kamerafahrten zeigen einen unberührten städtischen Raum mit scheinbar neu gebauten Wohnhochhäusern, breiten Boulevards und gepflegten Grünflächen. Der Beobachterin oder dem Beobachter wird jedoch sofort ins Auge fallen, dass weit und breit kein Mensch zu sehen ist. Obwohl der bebaute Raum urbanes Leben suggeriert, ist die Stadt praktisch tot – sie ist das, was innerhalb und außerhalb Chinas als "Geisterstadt" bezeichnet wird.

Im Film bildet die Stadt den Endpunkt einer Erzählung, die den Bergbau, die Industrialisierung und die Urbanisierung mit einer persönlichen Reise von der Hölle über das Fegefeuer ins Paradies gleichsetzt. In dieser Erzählung ist die Stadt das Paradies, eine Utopie, ein Ort der Verheißung, wo die vorangegangenen Opfer und Entbehrungen belohnt werden.

Behemoth ist ein bissiger Kommentar zu Chinas urban–industriellem Wandel. Der Film verbindet die Zerstörung der Natur und die brutale Ausbeutung von Arbeitskräften mit dem unerbittlichen Modernisierungsdrang in der Volksrepublik. Anhand der Schäden für Mensch und Umwelt wird die Urbanisierung und Industrialisierung des Lands als leeres Versprechen entlarvt, als Schauplatz der Verwüstung.

Zhaos Film greift die weiterhin virulenten Debatten und Ängste im Zusammenhang mit Chinas urbanem Wandel und dem Entstehen der sogenannten Geisterstädte auf. Mit zunehmender Dringlichkeit haben diese Kontroversen im Laufe der Jahre eine Vielzahl bedeutender Fragen aufgeworfen: Wie und warum entstehen in chinesischen Städten riesige, aber durchweg unbewohnte Siedlungen, und welche tiefergehenden Bedeutungen haben diese "Geisterstädte"? Was sagt die Tatsache über das chinesische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell aus, wenn gewaltige Städte gebaut werden, die, um es mit den Worten des US-amerikanischen Malers Robert Smithson zu sagen, nach Fertigstellung "wie Ruinen aufragen"?

Grundlagen

Städte sind im Wesentlichen nichts anderes als Arbeit und Kapital, die an einem Ort konzentriert werden. Ein Blick auf die grundlegende Dynamik des chinesischen Städtewachstums zeigt, inwiefern sich der Urbanisierungsprozess in China von dem in anderen Ländern weltweit unterscheidet. Zunächst sind Ausmaß und Intensität der chinesischen Urbanisierung auch nach objektiven Maßstäben atemberaubend. So ist die offiziell als städtisch eingestufte Bevölkerung des Landes seit 1990 von 300 Millionen (24 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung) auf 900 Millionen (64 Prozent der Gesamtbevölkerung) im Jahr 2020 gestiegen. In reinen Zahlen entspricht das der eineinhalbfachen derzeitigen Gesamtbevölkerung der Europäischen Union. In Anbetracht der niedrigen Geburtenraten in den chinesischen Städten in diesem Zeitraum ist der Großteil des Bevölkerungswachstums vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen: Zunächst vollzieht sich eine Abwanderungsbewegung vom Land in die Stadt. Außerdem werden stadtnahe Gebiete und ihre Bewohner in die rasch wachsenden Städte eingegliedert. Schließlich legt man neue Bezirksgrenzen fest, um ländliche Gebiete in Hinblick auf ihren rechtlich-administrativen Status in städtische Gebiete umzuwandeln und damit zumindest auf dem Papier aus Landbewohnern Stadtbewohner zu machen. Die Gewichtung fällt je nach Region unterschiedlich aus, doch in den meisten Städten sind die beiden letztgenannten Faktoren die wesentlichen Treiber der Urbanisierung, da es für Migranten vom Land in der Regel schwierig ist, sich dauerhaft in den Städten anzusiedeln.

Aus dieser kurzen Betrachtung der demografischen Trends lassen sich bereits erste Rückschlüsse ziehen: Erstens ist die Stadtbevölkerung in China erheblich größer als offiziell angegeben, wenn man die über 100 Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter mitberücksichtigt. Zweitens haben die in den vergangenen 30 Jahren geltenden Beschränkungen für die Abwanderung in die Städte wahrscheinlich eine nicht näher bestimmbare, aber vermutlich erhebliche zusätzliche Migration verhindert. Drittens macht die "territoriale Verstädterung", wie die australische Humangeografin Carolyn Cartier den Prozess der administrativen Angliederung ländlicher Gebiete an Städte bezeichnet, eins deutlich: Man muss zwischen einer Urbanisierung unterscheiden, die auf der Veränderung des territorial-administrativen Status basiert, und einer Urbanisierung, die sich in einer veränderten Lebenssituation der Menschen niederschlägt.

Das System der Flächennutzung in China ist seit den 1990er Jahren durch eine umfassende Neuziehung der kommunalen Grenzen gekennzeichnet, um weitere ländliche Gebiete einzugliedern. Hinzu kommt die Neueinstufung von Verwaltungseinheiten. Aus ländlichen Einheiten, in erster Linie Kreisen und Präfekturen, werden ihre städtischen Gegenstücke, also Bezirke und Kommunen. Dies hat zur Folge, dass die Anzahl der Städte seit 1990 um etwa 55 Prozent gestiegen ist, von 464 auf 727 im Jahr 2022, da immer mehr ländliche Siedlungen und Präfekturen eingemeindet und damit offiziell dem Gebiet einer größeren Stadt zugeschlagen wurden. Um das chinesische Städtewachstum beurteilen zu können, muss man sich daher mit zwei Entwicklungen befassen, die parallel verlaufen, aber nur lose miteinander verbunden sind: der Urbanisierung von Gebieten und der Urbanisierung von Menschen.

Diese Diskrepanz ist weit mehr als nur das Merkmal einer ungewöhnlichen Verwaltungspraxis oder Nomenklatur. Tatsächlich ist sie die Voraussetzung dafür, dass die Zentralregierung in den 1990er Jahren Städte zu Motoren des nationalen Wirtschaftswachstums erklärte. Sie ist auch der Schlüssel zum Verständnis der Neuordnung der chinesischen Wirtschaftspolitik und ihrer starken Ausrichtung auf Urbanisierung.

Den Startschuss für Chinas Urbanisierung bildete eine Änderung der chinesischen Verfassung 1988. Von nun an betrachtete man städtische Flächen nicht mehr als administrative Einheit, sondern als Ressource, deren Nutzungsrechte parzellenweise gekauft, verkauft und gehandelt werden konnten. Mit anderen Worten: Städtische Flächen wurden zu einer Ware, deren Preis nun an ihren Wert in Chinas aufstrebender Marktwirtschaft gebunden war. Flächen auf dem Land hingegen blieben im Besitz und unter der Verwaltung von Dorfgemeinschaften und konnten offiziell weder erworben noch verkauft werden. Doch auch die städtischen Flächen, die nun offiziell auf den Markt kamen, blieben im Besitz "des Staates", was in der Praxis bedeutete, dass sie zum Eigentum der Stadtverwaltung zählten. So konnten die Städte ihr Monopol auf Grundstücke nutzen, um direkt von deren Erschließung zu profitieren.

Hinzu kam, dass die Zentralregierung 1994 versuchte, ihre Finanzen aufzubessern, indem sie die Anreize für die lokale Bürokratie umgestaltete. Insbesondere wurde ein neues System der Steueraufteilung eingeführt, das den Anteil der Steuereinnahmen, der von den Verwaltungseinheiten in den Provinzen an die Zentralregierung abgeführt werden musste, massiv erhöhte. Die Kommunalverwaltungen, die hohe Kosten und eine wachsende Zahl finanzieller Verpflichtungen zu stemmen hatten, sahen sich mit einer drastischen Verschlechterung ihrer Haushaltslage konfrontiert und gerieten daher unter enormen Druck, die Löcher durch rasches Wirtschaftswachstum zu stopfen. Nach dem Prinzip Quidproquo bot die neue Regelung den lokalen Behörden dafür einen weitaus größeren Spielraum als zuvor, sie konnten nun nach eigenem Ermessen neue Strategien entwickeln und ihre Ausgaben vor allem durch die Reform staatlicher Unternehmen radikal kürzen. Gleichzeitig waren Beförderungen in den Reihen der Verwaltung und der Partei, die durch zentralisierte Personalbeurteilungen geregelt sind, an die Fähigkeit der Beamten geknüpft, die gesteckten Ziele für Wirtschaftswachstum verlässlich zu erreichen, idealerweise sogar zu übertreffen.

In diesem neuen, ausgesprochen marktorientierten Umfeld wurde die Förderung von Industrie und Handel durch unterschiedliche steuerliche und andere Anreize zur Norm, und die Verwaltungsbeamten verstanden schnell, dass Immobilien und die Erschließung von Grundstücken ein probates Mittel zur Förderung der Konjunktur und ihres eigenen Aufstiegs in Partei und Behörde waren. Kurzgesagt war die Begeisterung der Kommunalverwaltungen für die Erschließung von Flächen kein Zufall. Dies liegt an einer speziellen Eigenart des neuen marktorientierten Systems der städtischen Bodennutzungsrechte: Die Einnahmen aus Grundstücksgeschäften gelten, da sie nicht als "Gewinne" aus Geschäften, sondern als Gebühren und Mieten verbucht werden, als "außerbudgetäre Einnahmen" und unterliegen daher nicht den Regeln zur Steueraufteilung. Demzufolge müssen die lokalen Regierungen bei der Erschließung von Grundstücken und Immobilien nichts an die Zentralregierung abführen, sondern können die gesamten Einnahmen für sich verbuchen. Damit schuf man einen enormen Anreiz zur Erschließung von Flächen. Diese Priorisierung wurde zusätzlich durch die ungewisse Dauer der Amtszeit von Spitzenbeamten verstärkt. Tatsächlich wird die gesetzlich festgelegte Amtszeit von Staatsbediensteten von fünf Jahren regelmäßig ohne jede Vorankündigung oder Angabe von Gründen verkürzt, sodass die Beamten jederzeit für eine erneute Ernennung überprüft werden können, oft schon im vierten, dritten oder sogar zweiten Jahr ihrer Amtszeit. Die Staatsbediensteten haben sich der Situation angepasst und versuchen, große Projekte sofort nach ihrem Amtsantritt in Angriff zu nehmen, um schnelle Wachstumsergebnisse vorweisen zu können. Die Erschließung neuer Flächen ist in diesem wachstumsorientierten Umfeld eine – wenn nicht sogar die – bevorzugte Taktik.

"Mauern ohne Markt"

Diese eng miteinander verflochtenen Entwicklungen haben dazu geführt, dass der Städtebau zu einer grundlegenden Aufgabe des chinesischen Staats geworden ist. Die Umsetzung erfolgt im Wesentlichen in zwei Bereichen: im bestehenden Stadtkern und am Stadtrand. In den Stadtzentren wurden große Teile der bereits bebauten Flächen Bauträgern übergeben, die versprachen, den innerstädtischen Raum einer wirtschaftlich effizienteren Nutzung zuzuführen. Mit anderen Worten: Sie sollten neue Hochhauskomplexe, Einkaufszentren und Geschäftsviertel, Unterhaltungs- und Freizeitangebote, Parks sowie riesige Bürgerzentren und Regierungsgebäude errichten. Mittlerweile sind diese Sanierungswellen größtenteils abgeebbt, die Arbeiten sind weitgehend abgeschlossen. Das sozialistische Stadtbild, das noch bis in die 1990er Jahre von nüchternen Zweckbauten geprägt war, wurde modernisiert und weist heute alle Merkmale einer kapitalistisch geprägten Stadt auf.

Doch so spektakulär diese innerstädtische Sanierung auch scheinen mag, die tiefgreifendsten Transformationsschübe zeigen ihre Auswirkungen an den Stadträndern. In den Randzonen grenzen die Städte an ländliche Flächen, mit denen nicht gehandelt werden darf und die auch nicht erschlossen werden dürfen. Diese Hürde lässt sich jedoch umgehen, indem man landwirtschaftliche Flächen in urbane Gebiete umwandelt. Tatsächlich haben die Städte in den vergangenen zwei Jahrzehnten trotz der Bemühungen der Zentralregierung, Agrarland zu schützen, immer wieder mit den Dorfkollektiven über eine solche rechtliche Umwandlung verhandelt und sie bei den Provinz- und Zentralbehörden beantragt – mit bemerkenswertem Erfolg: In einer Stadt nach der anderen und in sämtlichen Regionen haben die Stadtverwaltungen von den Dorfkollektiven riesige Flächen erworben, so viel wie möglich davon in die wertvolle Kategorie "städtisches Bauland" übertragen und gewaltige Entwicklungsprojekte in stadtnahen ländlichen Gebieten in Angriff genommen.

Ein Hauptmerkmal bei diesem Trend war, dass die Stadtverwaltungen in den neuen Erschließungsgebieten auf schrittweises Wachstum verzichteten und von Anfang an auf Großprojekte setzten. Diese haben im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Formen angenommen, vor allem durch die Nachahmung und stete Reproduktion bestimmter Zonenkonzepte, Themen und Labels. Dazu gehören sogenannte neue Städte, Ökostädte, Freihandelszonen, Technologiezonen, Universitätsstädte und Flughafenstädte. Auch wenn die Bezeichnungen der Projekte auf eine Vielzahl von Funktionen hindeuten, haben sie doch alle eins gemeinsam: die massive Erschließung neuer Flächen und deren Ausgestaltung durch Neubauten. Tatsächlich reichen solche Projekte von 30km2 in kleineren Städten bis zu 1200km2 in der Lanzhou New Area in der Provinz Gansu. Durch diese Neubauprojekte vergrößert sich die bebaute Fläche der Städte beständig um ein Vielfaches.

Öffentlicher Platz in der „Geisterstadt“ Tiexi New District, außerhalb der Stadt Dongsheng in der autonomen Region der Inneren Mongolei (© Max D. Woodworth, 2012)

In gewissem Sinn ist die gleichzeitige Betonung der Landerschließung und -bebauung in den neuen suburbanen Entwicklungszonen ein Ausdruck der angebotsorientierten Natur der derzeitigen politischen Ökonomie der Urbanisierung. Das heißt, Land wird im Rahmen kommunaler politischer Programme vereinnahmt, um ein kurzfristiges Wirtschaftswachstum zu erzielen, und zwar auf eine möglichst kühne, auffällige Art und Weise, die für eine Leistungsbewertung sichtbar ist und Einnahmen durch den Verkauf von Landnutzungsrechten bringt. Anders ausgedrückt: Grundstücke und Immobilien werden auf den Markt gebracht, egal, ob eine Nachfrage besteht oder nicht. Die Nachfrage wird vielmehr durch die steigenden Wohnkosten und die daraus resultierende fieberhafte Jagd nach Wohneigentum geschaffen. Die Spekulation gibt den Takt vor.

Die Auswirkungen dieses Entwicklungsparadigmas zeigen sich in erster Linie in der Entstehung von bebautem Raum mit einer Beschleunigung und in einem Ausmaß, das die Geschwindigkeit der Besiedlung übersteigt. Auch wenn oftmals alle Immobilien verkauft sind, ist es nicht ungewöhnlich, dass der Leerstand von Gewerbe- und Wohnräumen in Chinas neuen Städten bei über 80 Prozent liegt. In jüngster Zeit häufen sich in beunruhigendem Maße auch Fälle, in denen sich überhaupt keine Käufer finden, was auf eine sinkende Nachfrage in diesem Sektor verweist. So oder so stehen überall in China unzählige Quadratmeter leer, da sie ihre Entstehung ausschließlich der Spekulation verdanken.

Das chinesische Wort für Stadt – chengshi – setzt sich aus den Schriftzeichen für Stadtmauer (cheng) und Markt (shi) zusammen und verweist auf einen konzentrierten Raum menschlicher Aktivitäten. Die neuen städtischen Räume, die in den letzten Jahren entstanden sind, aber immer noch keine Bewohner gefunden haben, werden entsprechend als "Mauern ohne Markt" (you cheng wu shi) beschrieben. Die überdimensionalen leeren Neubauten sind demnach das Resultat eines regelrechten Wachstumsrauschs, bei dem man Profit aus dem Handel mit Grundstücken und Immobilien schlagen wollte und deshalb zu bauen begann, ohne dabei tatsächliche Städte zu schaffen. Oder anders ausgedrückt: Die "Geisterstädte" in ganz China stehen seit den 2000er Jahren für die Dominanz eines politisch-ökonomischen Denkschemas, das Paradigma des Bauens, das auf ein einziges Ziel ausgerichtet ist: städtischen Raum zu produzieren.

Niedergang ohne Verfall

Leerstehende Hochhäuser in der „Geisterstadt“ Tiexi New District (© Max D. Woodworth, 2011)

Das fieberhafte Streben nach urbanem Wachstum bleibt nicht folgenlos. Die Geisterstädte, die überall in China aufragen, bilden eine neue Art von Ruinenlandschaft in verschiedenen Stadien des Niedergangs. Der Begriff "Ruinen" wird bewusst verwendet, um auf den bebauten Raum als eine wahllose Zusammenstellung von materiellen und repräsentativen Objekten zu verweisen, ein sich immer weiter entwickelndes Sammelsurium der extremen Kontraste und Widersprüche.

Was ist damit gemeint? Im herkömmlichen Sinn ist eine Ruine ein nicht mehr genutztes Bauwerk in einem bestimmten Stadium des Verfalls. Bröckelnde Mauern haben keinen Wert an sich, und der Mensch hat schon immer Material von solchen Stätten abtransportiert, um es anderweitig zu verwenden. Ebenso wurden ungenutzte Bauwerke abgerissen, ignoriert oder gemieden, sodass sie im Lauf der Zeit allmählich verfielen. Erst im Zeitalter der Aufklärung begannen Gelehrte, Maler oder Dichter in Europa die in der Landschaft vorhandenen verfallenden Überreste der Antike als kulturelle Symbole positiv umzudeuten. Erst durch die vielfältige Deutung alter Bauwerke, die etwa zu Symbolen zivilisatorischer Kontinuität, der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens oder aber der ultimativen Verwundbarkeit der Kultur gegenüber den unerbittlichen Kräften der Natur wurden, entstand die Ruine an sich. Mit anderen Worten: Die Ruine ist ein kulturelles Artefakt, kein neutrales Objekt.

Angesichts der Allgegenwärtigkeit verfallener Strukturen in einer vom Menschen geprägten Landschaft ist die Bezeichnung von Ruinen als solche äußerst selektiv und spiegelte in der Vergangenheit oft klassenbasierte antiquierte Wertesysteme wider. Daher überrascht es nicht, dass es zu einer Neuinterpretation von verfallenen Strukturen gekommen ist und man etwa den verlassenen Fabriken des Ruhrgebiets, den leerstehenden Vororten von Detroit oder den bankrotten Skigebieten und Kurorten in Japan einen hohen symbolischen Wert zuspricht. Wissenschaftler und Künstler haben diese Arten von Ruinen in den vergangenen Jahrzehnten als ausgesprochen unromantische Anschauungsobjekte für die Wechselfälle der kapitalistischen Wirtschaft und die Anfälligkeit einer Gesellschaft oder Region für den Zustrom oder das Ausbleiben von Investitionen verwendet. In dieser langen und vielfältigen Tradition erscheint die chinesische Geisterstadt als bekannte Figur in neuem Gewand. Diese Geisterstadt ist geprägt von rasantem Wachstum, angetrieben durch die Spekulationsgeschäfte von Stadtverwaltungen, Bauträgern, Finanzinstituten, privaten Kreditgebern und Wohnungskäufern. All diese Akteure tragen mit der Verfolgung ihrer eigenen finanziellen und politischen Interessen zu einer positiven Rückkopplung bei, durch die fortlaufend Investitionen in die Bebauung weiterer Flächen fließen. Solange die Boden- und Immobilienpreise kontinuierlich steigen – und die Steigerung weiterhin höher ausfällt als bei Bankzinsen oder Renditen auf dem Aktienmarkt oder anderen beliebten Anlagemöglichkeiten – kann sich die Aufwärtsspirale des Städtebaus ungehindert fortsetzen. Bei diesem Modell muss das Bauen nicht zwangsläufig mit einer tatsächlichen Nutzung einhergehen. Es genügt, wenn die neu errichteten Räume ihren finanziellen Zweck erfüllen. Im Extremfall entstehen dann Geisterstädte – Städte, die allein aufgrund ihres Anlagewerts aus dem Boden sprießen.

Geisterstädte sind also Ruinen, weil sie einen tiefen Widerspruch verkörpern: Als riesige Anhäufungen von bebautem Raum verweisen sie auf die Annahme, dass Städte gebaut werden, um von Menschen auf die verschiedensten Arten genutzt zu werden, die man gemeinhin mit einer Stadt verbindet. Gleichzeitig verweist ihr Leerstand auf die Möglichkeit einer Urbanisierung ohne konkrete Nutzung. Auf diese Weise wird der Städtebau zu einem rein spekulativen Prozess, der auf den Punkt bringt, was die Soziologen Neil Brenner, Peter Marcuse und Margit Mayer als Dilemma der heutigen Zeit bezeichnet haben: Städte werden für den Profit gebaut, nicht für die Menschen.

Der chinesische Traum ist urban

Eine Urbanisierung in dem Ausmaß und der Intensität, wie sie in China in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten war, hängt in der Tat von starkem Wirtschaftswachstum ab. Doch wie die Weltbank festgestellt hat, ist Chinas urbaner Wandel mehr als ein wirtschaftliches Programm zur Unterstützung der Industrialisierung und technologischen Erneuerung. Die Urbanisierung ist ein politisches Projekt mit dem Ziel einer völligen Umgestaltung der Gesellschaft. Das Streben nach Urbanisierung ist demnach ideologisch begründet.

Der ideologische Charakter zeigt sich etwa in Staatspräsident Xi Jinpings Formulierung des "chinesischen Traums". Das umfassende Thema dieser Utopie ist die Verwirklichung des langjährigen Ziels der chinesischen Kommunistischen Partei, bis 2030 eine "Gesellschaft mit einem bescheidenen Wohlstand" aufzubauen. Von zentraler Bedeutung für dieses Programm ist der 2014 eingeführte "Urbanisierungsplan neuen Typs", der darauf abzielt, bis 2030 mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in Städten anzusiedeln und so dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft nicht mehr von einer investitionsgetriebenen exportorientierten Produktion, sondern von der Nachfrage im eigenen Land und vom Massenkonsum angekurbelt wird. Dass hier das US-amerikanische Wachstumsprogramm Mitte des 20. Jahrhunderts anklingt, das den Schwerpunkt auf den Bau von Vorortsiedlungen und die Schaffung einer Konsumgesellschaft legte, ist kein Zufall. China versucht, das US-amerikanische Modell des massenhaften Eigenheimbesitzes zu übernehmen, um eine auf breiten Konsum gestützte Wirtschaft zu fördern. Mit Erfolg: Die Wohneigentumsquote in den chinesischen Städten liegt bei 85 Prozent. Doch Xi will noch einen Schritt weitergehen. Der "Urbanisierungsplan neuen Typs" verspricht, den materiellen Lebensstandard zu verbessern, indem die Menschen in die Städte ziehen und gleichzeitig die Umwelt geschützt und erhalten wird. Der Plan zielt darauf ab, die städtische Wirtschaft für eine nachhaltige Entwicklung zu optimieren.

Doch in der Praxis zeigen sich bei der Umsetzung des Städtewachstums unter dem Banner des neuen chinesischen Traums Probleme, da der institutionelle Rahmen lückenhaft ist und viele Angriffspunkte bietet. Dass die Erschließung an untere Behörden vor allem auf kommunaler Ebene delegiert wurde, verleitet die zuständigen Beamten dazu, Entwicklungspläne voranzutreiben, die meist von der Idealvorstellung einer nachhaltigen Entwicklung abweichen. Zudem haben sich die Stadtverwaltungen als äußerst geschickt darin erwiesen, die von oben auferlegten Beschränkungen für eine Stadterweiterung zu umgehen, indem sie diese einfach ignorieren oder den Staatsrat um zusätzliches Bauland ersuchen. Ihre umfassenden Wachstumspläne begründen sie mit den von der Zentralregierung geförderten Entwicklungszielen, beispielsweise der Schaffung von Ökostädten, Universitätsstädten oder sogenannter National Level New Areas, eine Art Hightech-Stadt-Modell. Oder die Städte arbeiten mit benachbarten ländlichen Gebieten zusammen, um die Umgestaltung des ländlichen Raums voranzutreiben, die ebenfalls Teil des sogenannten chinesischen Traums ist. So wurden in Absprache mit den Provinzregierungen ländliche Flächen zusammengelegt und verstreut liegende kleine Dörfer umgesiedelt und konzentriert, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern und gleichzeitig freiwerdendes Land für weiteres städtisches Wachstum zu nutzen.

Fazit

Die Bedingungen für die Entstehung von Geisterstädten in China sind komplex und verbinden aufgrund ihrer mitunter widersprüchlichen Wachstumsambitionen ganz unterschiedliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte. Bezeichnenderweise lehnen chinesische Behörden die Bezeichnung "Geisterstadt" ab, weil sie darin eine verzerrte und falsche Darstellung sehen. Ihrer Ansicht nach sind die neuen Siedlungen am Stadtrand mit den geradlinigen, im Rastersystem angelegten Straßen, den zahlreichen Plätzen und Parks, der modernen Infrastruktur, attraktiven Architektur, den neuen Schulen und öffentlichen Einrichtungen ein Erfolg, wie die hohe Nachfrage nach den angebotenen Wohn- und Gewerbeimmobilien zeige. Das Motto "Wir müssen nur bauen, dann werden sie schon kommen" hält sich nach wie vor und rechtfertigt, was man kritisch als "überschüssigen Raum" bezeichnen könnte. Zugleich zeigen die jüngsten Einbrüche der lokalen Immobilienmärkte und die Pleite des Immobilienriesen Evergrande 2023 mit Schulden in Höhe von mehr als 200 Milliarden US-Dollar die extreme Anfälligkeit dieses ökonomischen Ansatzes, der zwar enorme räumliche und soziale Veränderungen bewirken kann, dessen Erfolg jedoch nach wie vor fraglich ist. Zugleich bleibt das grundlegende Wachstumsmodell Chinas trotz aufsehenerregender Krisen unangetastet. Die Städte, die an erster Stelle zur Erzielung von Profit und erst an zweiter Stelle als tatsächlicher Wohnraum gebaut werden, stehen als unheimliches, leeres Versprechen in der Landschaft.

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Behemoth – Der schwarze Drache, Regie: Zhao Liang, China–Frankreich 2015.

  2. Robert Smithson, The Monuments of Passaic, in: ArtForum 4/1967, S. 70.

  3. Vgl. National Bureau of Statistics of China, China Statistical Yearbook 2022, Population and Its Composition, Externer Link: http://www.stats.gov.cn/sj/ndsj/2022/indexeh.htm.

  4. Vgl. Carolyn Cartier, Territorial Urbanization and the Party-State in China, in: Territory, Politics, Governance 3/2015, S. 294–320.

  5. Für 1990 siehe: The Central People’s Government of the People’s Republic of China (chinesisch), Externer Link: http://www.gov.cn/test/2007-03/23/content_559159.htm; für 2022 siehe: Ministry of Civil Affairs of the People’s Republic of China (chinesisch), Externer Link: http://xzqh.mca.gov.cn/statistics/2022.html.

  6. Vgl. You-tien Hsing, Land and Territorial Politics in Urban China, The China Quarterly 2006, S. 575–591.

  7. Vgl. Sarah Williams et al., Ghost Cities of China: Identifying Urban Vacancy Through Social Media Data, in: Cities 94/2019, S. 275–285.

  8. Vgl. M. Zhu, City Without City: Urbanisation Development Model Is Urgently in Need of Change (chinesisch), in: China Housing Magazine 2011, S. 42–45, zit. nach Christian Sorace/William Hurst, China’s Phantom Urbanisation and the Pathology of Ghost Cities, in: Journal of Contemporary Asia 2/2016, S. 304–322.

  9. Vgl. Max D. Woodworth/Jeremy L. Wallace, Seeing Ghosts: Parsing China’s "Ghost City" Controversy, in: Urban Geography 8/2017, S. 1270–1281.

  10. Vgl. Neil Brenner/Peter Marcuse/Margit Mayer (Hrsg.), Cities for People, Not Profit: Critical Urban Theory and the Right to the City, London 2012.

  11. Vgl. Jon R. Taylor, The China Dream Is an Urban Dream: Assessing the CPC’s National New-Type Urbanization Plan, in: Journal of Chinese Political Science 20/2015, S. 107–120.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Max D. Woodworth für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Associate Professor für Geografie an der Ohio State University in Columbus (USA).