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Moldau on the Move | bpb.de

Moldau on the Move Migrationsbewegungen gestern, heute und morgen

Jana Stöxen

/ 17 Minuten zu lesen

Seit den 1990er Jahren prägt Arbeitsmigration die Realität in der Republik Moldau entscheidend. Die Frage, was berufliche, soziale und politische Zugehörigkeit in einem transnationalen Raum bedeutet, wirkt sich auch auf politische Richtungsentscheidungen aus.

Einige der Passagiere im Reisebus nesteln nervös an ihren Pässen, bevor die Grenzkontrolle nach Rumänien kommt. Das Land ist so nah und dennoch beginnt hier die Europäische Union. Während in Moldau ihre Staatsangehörigkeit nebensächlich bleibt, ist sie für die EU ein Eintrittskriterium, das darüber entscheidet, ob die Grenzüberquerung mit mehr oder weniger Aufwand verbunden ist. Viele der Passagiere sind auch – wenn auch nicht ausschließlich – Europäer:innen. Ihr Herkunftsort, die Republik Moldau, steht allerdings derzeit noch außerhalb der politischen Gemeinschaft, die Schutz, aber auch die Einbindung in beispielsweise Verkehrs- und Arbeitsinfrastrukturen verspricht.

Diese Szene trägt sich täglich in den Bussen zu, die Moldauer:innen nach Berlin, Bremen, Baden-Baden, Bologna oder Barcelona bringen; sie transportieren Menschen und ihr Gepäck. Diese Menschen sind in vielen Fällen Arbeitsmigrant:innen, die ihr Herkunftsland übergangsweise verlassen, um anderswo Geld zu verdienen. Wo genau dieses "Anderswo" liegt, ist dabei nicht genau festgelegt, zu sehr wird ihre Mobilität von verschiedenen inneren und äußeren Faktoren beeinflusst. Was zählt, ist jedoch, dass sie ihr Leben und das ihrer Angehörigen durch einen gewissen Grad an Mobilität bestreiten. Dank jenen, die das Land verlassen, oft aber auch immer wieder zurückkehren, ist Moldau on the move.

Migration wird in Debatten häufig populistisch aufgeladen und auf wirtschaftliche Motivationen zurückgeführt. Während sie binär in Kategorien von "Erfolg" oder "Scheitern" eingeordnet wird, sind individuelle Verläufe über die Rolle des "homo oeconomicus" allein kaum zu erklären. Ideen darüber, was ein "gutes Leben" ausmacht, wie Sicherheit aussieht, wie man beides zu erlangen gedenkt und wie groß die eigene Risikobereitschaft ist, haben ebenfalls ihren Anteil daran, sodass die mechanisch wirkende Einteilung in "Push-" und "Pull-Faktoren" zwar einen ersten, aber doch keinen tiefschürfenden Erklärungsansatz bietet.

Warum, woher, wohin und wie weiter?

Wenn von Migration im moldauischen Kontext gesprochen wird, geht es nahezu immer um die Abwanderung, die zwar auch temporär und unvollständig sein kann, aber immer doch zunächst einen Schritt weg vom Herkunftsland bedeutet. Die Republik Moldau weist hier einige Gemeinsamkeiten mit anderen, vormals sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas auf, sodass sich eine strukturelle Anlehnung an die unterschiedlichen Phasen anbietet, die der Kulturanthropologe Pietro Cingolani für die rumänisch-italienische Migrationsverbindung vorschlägt: Während in der "Discovery-Phase" der 1990er Jahre zunächst neue Länder als Arbeitsmärkte entdeckt und erschlossen wurden und in dieser Zeit vor allem Männer als "Pioniere" migrierten, konsolidierte sich diese Entwicklung um die Jahrtausendwende nach und nach, indem bestehende Migrationsmuster ausgebaut und verstärkt wurden. Migration diversifizierte sich im Hinblick auf Tätigkeitsfelder sowie Zielgruppen, da nun auch mehr Frauen migrierten. Fortan intensivierten sich die Möglichkeiten zirkulärer Migration immer mehr. Schließlich fielen 2007 für viele Moldauer:innen mit doppelter Staatsangehörigkeit durch den Beitritt Rumäniens zur EU auch zahlreiche Zugangsbeschränkungen weg, wobei insbesondere die Arbeitnehmer:innenfreizügigkeit, die – je nach EU-Land – in den folgenden sieben Jahren erlangt wurde, eine weitere Erleichterung darstellt. Indes waren die Corona-Pandemie und der anhaltende russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit 2022 erhebliche Zäsuren für die moldauische Mobilität sowie für die geopolitische Position des Landes insgesamt.

Entlang dieser Einteilung in gestern – die 1990er und frühen 2000er Jahre, die Jahre der "Entdeckung" und "Konsolidierung" der Migrationsbewegung –, heute – den aktuellen Status quo – und morgen – die Aussichten – lassen sich Entwicklungen, Konsequenzen und Perspektiven des moldauischen Migrationsgeschehens skizzieren sowie in größere, politische, ökonomische, soziale und kulturelle Zusammenhänge einbetten. Diese Aspekte sind sodann in der Lage, das Land, das häufig als Peripherie vor den Toren der EU gerahmt wird, und seine Themen vergleich- und anknüpfbar zu machen.

Gestern

Das Staatsgebiet der Republik Moldau war bis 1991 Teil der Sowjetunion. Deren Zerfall weckte zwar zahlreiche Hoffnungen, entfachte aber mindestens ebenso viele Krisen: Demokratie und Marktwirtschaft ließen sich nicht einfach überstülpen. Durch die Leerstelle, die das vergangene System hinterließ, entstanden politische Instabilität und wirtschaftliche Fragilität, die sich in Form von Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption und undurchsichtigen Strukturen auch sozial erheblich auswirkten. Demnach war der Schritt vorwärts in die Unabhängigkeit gleichermaßen ein erheblicher Rückschritt. Die öffentliche Hand war nun deutlich schwächer ausgebildet, der Zugang zu sozialer Sicherung verkomplizierte sich und etwa das Bildungs- und das Gesundheitswesen litten, sodass trotz der weit größeren Freiheiten eine erhebliche Verschlechterung des Lebensstandards eintrat.

Die wenigstens temporäre Mobilität in Form der Arbeitsmigration bot für zahlreiche Menschen einen Ausweg aus dem sozioökonomischen Abstieg; die Praxis, zumindest zeitweise etwas Geld im Ausland zu verdienen oder den eigenen (Bildungs-)Weg dort fortzusetzen, entwickelte sich daher unter dem enormen Druck im Land zu einer Bewältigungsstrategie und auch die Landflucht – deren Folge etwa die Überalterung in ländlichen Gebieten ist – kann in diesem Licht verstanden werden. Zwischen 1999 und 2005 verließen laut offiziellen Schätzungen knapp eine halbe Million Menschen das Land, darunter etwa doppelt so viele Männer wie Frauen – die Dunkelziffer mag insgesamt jedoch noch weit darüber liegen; bis zu einer Million Menschen, die zeitweise migrierten, sind denkbar.

Die Systemtransformation der Republik Moldau und die Entwicklung dieser Migrationsbewegung stehen also in direktem Zusammenhang. Dem Phänomen der Migration kann für die moldauische Gesellschaft eine mindestens ebenso starke Prägkraft zugeschrieben werden wie dem sowjetischen Einfluss, der zuvor auf allen Ebenen gewirkt, seine einhellige Deutungsmacht aber verloren hatte. Dies zeigt sich auch an der Wahl der Zielländer: Während zunächst die GUS-Staaten (insbesondere Russland) präferiert wurden, rückten dann Südeuropa (etwa Italien, Spanien) und die Türkei – sicherlich auch aus Gründen der sprachlichen und zum Teil kulturellen Nähe – auf. Um die Jahrtausendwende wurden auch die Staaten Zentraleuropas (etwa Deutschland, Österreich, die Niederlande) wegen des deutlich höheren Lohnniveaus und der zunehmend besseren Erreichbarkeit immer beliebtere Ziele. Den Weg dahin ebnete jeweils die Kettenmigration, die sich häufig nach einer initiierenden Pioniertätigkeit entlang von Verwandtschafts- oder Bekanntschaftsnetzwerken vollzog und so Verbundenheit, aber ebenso Abhängigkeiten schuf. Entgegen verbreiteten Sichtweisen sind es daher auch zumeist nicht die Ärmsten der Armen, die migrieren – stattdessen ist es eine breite, nach oben und unten ausfransende Mittelschicht, die das soziale und finanzielle Kapital aufbringt, um in der Mobilität eine Chance sehen zu können.

Die dabei prominenteste Form ist wohl die Arbeitsmigration, die tendenziell und insbesondere gegenüber der Flucht als freiwillige Migration eingeordnet wird, aber dabei doch ökonomischen Zwängen unterliegt und daher kaum eindimensional betrachtet werden kann. Die Historikerin Maren Möhring spricht in Anlehnung an den Soziologen Serhat Karakayalı von "Flucht aus sozialen Verhältnissen". Dass dabei insbesondere zu Beginn der Migrationsströme aus Moldau aus Ingenieuren Hilfsarbeiter auf Baustellen und aus Pädagoginnen Putzkräfte wurden, ist keine Seltenheit und zeigt, wie Mobilität soziale Gefüge auf den Kopf stellen kann. Ganze Biografien erhielten durch diese Neuverhandlung individueller Positionen in neuen Räumen andere Richtungen; häufig waren diese zunächst oder gar dauerhaft mit einem Abstieg in den Bereich der ungelernten Arbeit verbunden.

Ein allgemein verbreitetes Muster der Pioniergenerationen, das sich bis heute fortsetzt, ist außerdem die "incomplete labour migration". In dieser zirkulären, gewissermaßen unvollständigen Abwanderung bleibt der Herkunftskontext als Hauptbezugsrahmen erhalten, während dem Migrationsland als mit der Arbeit konnotierter Raum lediglich eine zeitlich und sozial eng begrenzte Rolle zugeschrieben wird – es ist gegenüber dem Bezug zu Familie und gewohnter Umgebung deutlich nachrangig. Diese Art der Migration besitzt daher eine gewisse Unschärfe: Sie lässt sich nur rückblickend durch die Praxis selbst einordnen, hat aber in Form der Hirten- und Gesellenwanderung, den "Schwabenkindern" und "Hollandgängern" sowie zum Teil auch der sogenannten "Gastarbeit" einige historische Vorbilder. Ihre Kerneigenschaft ist allerdings die stete Rückkehr, die unterdessen durch weit ausgebaute Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen abgefedert wird.

Insofern ist die vielfach aus der Not geborene Mobilitätstechnik, die stets auch ein individuelles Risiko barg, für Moldauer:innen von der Pionieraktivität immer weiter zu einer gewohnten Strategie der Lebensgestaltung geworden, die sich insbesondere um die Jahrtausendwende durch die Verstetigung der Mobilitätskanäle in der Gegenwart etablierte.

Heute

Migration greift als Massenphänomen erheblich in das Zeitgeschehen in Moldau ein: Es scheint vor Ort niemanden zu geben, der keine Verwandten im Ausland hat oder selbst Migrationserfahrung aufweisen kann. Kaum eine Taxifahrt in Chişinău, der moldauischen Hauptstadt, vergeht, ohne dass – angesprochen auf den deutschen Akzent – die Fahrer ihrerseits die Geschichten ihrer Söhne und Töchter in Italien, Deutschland, den USA oder anderswo hervorholen. Nichts davon ist unmittelbar nachprüfbar, doch alles daran spricht wiederum für eine erhebliche Präsenz des Themas. Dies zeigt sich auch an der migrationsspezifischen Phasierung des moldauischen Kalenders, wenn das Land gerade um das orthodoxe Osterfest oder in den Sommerferien viel belebter ist, weil Kinder und Enkelkinder sich auf den Weg acasă, nach Hause, "in die Heimat" gemacht haben. Auch die Wirtschaft wird durch die transnationalen sozialen Verbindungen erheblich beeinflusst, womöglich sogar erhalten. Die Sendungen von Kindern an ihre Eltern oder andersherum – die sogenannten (materiellen) Remittances oder Rücküberweisungen – werden oft auf informellen Wegen transportiert und enthalten Geld, aber auch Güter des täglichen Gebrauchs wie Elektrogeräte oder Medikamente. Gerade zu Beginn der Migrationsbewegung war dies eine erhebliche Erleichterung für das Land: Die Sendungen federten den lokalen Markt und das Sozialsystem ab und entlasteten den Staat. Im Umkehrschluss sorgen sie aber auch dafür, dass unter Umständen weniger lokal gefertigte Produkte konsumiert werden und die Wertschätzung ausbleibt. Sie stellen sich so als äußerst zweischneidige Angelegenheit dar – gleichzeitig als individueller Investitionsmotor und potenziell kollektives Investitionshemmnis. Das Hauptproblem des Landes, seiner Volkswirtschaft und seines sozialen Gefüges ist jedoch, dass es vor allem die junge und mittlere Generation – die sonst vor Ort berufstätige Altersschicht – ins Ausland zieht und so das Land auch erheblich mit dem demografischen Wandel kämpft.

Der Weg ins Ausland scheint für viele Moldauer:innen oft wenigstens temporär unumgänglich und auch die Infrastrukturen sind da, um diese Route einzuschlagen: Die Schlangen vor dem rumänischen Konsulat, um dort einen EU-Pass zu beantragen, sind lang. Nicht umsonst werben Tafeln und Flyer überall im Land für die zeitweise Auswanderung und verheißen wenigstens den bescheidenen Wohlstand eines eigenen Zuhauses – zentral in einer Gesellschaft, für die Eigentum wichtig geworden ist. Wie viele dieser Angebote tatsächlich zum Ziel führen, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Auch auf die Frage, ob nicht auf die Dauer die permanente Migration einen insgesamt attraktiveren Weg darstellt, lässt sich keine einhellige Antwort finden, die gleichermaßen die individuellen Lebensverläufe und das Wohl des Landes einbezieht. Wenngleich ein Großteil der Menschen vor Ort zahlreiche, dadurch entstandene Verwandtschaftsbeziehungen ins Ausland hat und es hier viele Erfolgsgeschichten oder zumindest solche eines Ankommens und Akklimatisierens zwischen zwei Räumen zu erzählen gibt: Für viele Moldauer:innen ist es nach wie vor die zirkuläre Migration, die ihren Alltag bestimmt.

Was den Migrant:innen, die sich in der Pendelbewegung zwischen Herkunfts- und Arbeits- beziehungsweise Residenzkontext einrichten, und ihren Angehörigen dabei gemein ist, ist der Spagat der diesem transnational angelegten Lebensstil innewohnt: Durch ihren räumlich-sozialen Zwiespalt, ihre "double embeddedness in social relations, both in the origin and destination societies", werden Identitätskonstruktionen auf die Probe gestellt. Die Frage, wer wo zugehörig ist, scheint im globalen Diskurs in den Hintergrund gerückt zu sein, wird aber insbesondere dann relevant, wenn die Antwort darauf keine einhellige mehr ist. Durch die Migration wird nicht nur die räumliche Distanz zwischen Mobilen und vor Ort Verbliebenen vergrößert, auch die soziale nimmt zu. Soziale Medien und (gegenseitige) Remittances als Care-Handlungen – des sich Kümmerns um die Nächsten – können dies zwar zum Teil abmildern, ersetzen aber den direkten Kontakt, etwa zwischen Eltern und Kindern, Enkelkindern und Großeltern, kaum, sodass Beziehungen und Verantwortungen neu verhandelt werden. Insofern bedeutet Migration zum einen den Transfer von Arbeitskraft, der besonders für die Zielländer bedeutsam ist, zum anderen aber auch den Export einer sozialen Ressource und eines (Human-)Kapitals, das dann in den Herkunftskontexten oft schmerzhaft fehlt.

Markant ist dieser Umstand besonders im familiären Kontext: Die Familie als vertrautester Fixpunkt des Privaten und zumeist auch Ausgangspunkt der Migrationsentscheidung bietet zwar nach wie vor emotionalen Halt, ist jedoch als Raum von Gemeinschaft und Nähe auch von der erhöhten Mobilität deutlich beeinflusst. Durch die Öffnung des Migrationsgeschehens für die den "Pionieren" nachfolgenden Generationen hat sich die Bewegung zudem stark feminisiert, sodass sich Rollenverteilungen ändern können: Migration ist keineswegs Männersache geblieben, wenngleich zahlreiche Jobangebote aufgrund zugeschriebener physischer Fähigkeiten immer noch stark auf sie zugeschnitten sind. Auffällig ist jedoch, dass Frauen anders migrieren beziehungsweise zu anderen Zeiten: Sie sind häufig als junge, kinderlose Frauen oder aber im gesetzteren Alter, nachdem die Kinder erwachsen sind, Teil einer mobilen Arbeiter:innenschaft – dazwischen übernehmen sie zumeist ein Gros der (volkswirtschaftlich unsichtbaren) Sorgearbeit im Herkunftskontext und sind so durch die Abwesenheit ihrer Partner oft mehrfach belastet: "Wir weinen zwei Mal," erzählte mir eine junge Frau über sich und ihren kleinen Sohn im Hinblick auf die Migration ihres Mannes: Einmal vergössen sie Tränen, wenn er nach Deutschland zum Arbeiten fährt, und einmal – vor Freude – wenn er wiederkommt, in eine ländliche, arme Gegend Südwestmoldaus, in der es kaum andere Perspektiven gibt. Der Abschied ist bei der Heimkehr immer wieder vorprogrammiert – ihr Leben verläuft in diesen engen Takten, die die Rahmung von Arbeitsmigration als zwanglose Bewegung abermals infrage stellen.

So wie diese Familie haben zahlreiche Moldauer:innen Migration zu einem wesentlichen Teil ihrer (Erwerbs-)Biografie gemacht. Sie ist eine Notwendigkeit der Daseinsbewältigung, ermöglicht aber auch das Erfüllen des ein oder anderen Konsumwunsches und wirkt sich so materiell oft weit positiver als sozial auf den Lebensstandard aus. Die Republik Moldau ist dadurch derart geprägt von der (zirkulären) Migration ihrer Bürger:innen und den daraus entstehenden transnationalen Verwobenheiten, dass die Gesellschaft ohne diese Charakteristika kaum mehr denkbar ist – weder politisch noch wirtschaftlich, kulturell oder sozial.

Morgen

Migration hat politische Folgen. Der Wahlsieg Maia Sandus 2020 als Präsidentin ist unter anderem auf ihre Popularität unter den Moldauer:innen mit Migrationserfahrung zurückzuführen. Auch sie hat im Studium und später in ihrer Tätigkeit für die Weltbank einige Jahre im Ausland gelebt und kennt den Blick von außen auf ihr Herkunftsland. Sowohl diese Perspektive als auch ihre Agenda zur Korruptionsbekämpfung, die sie bereits zuvor als Bildungsministerin eingeleitet hatte, verschaffen ihr große Sympathie. Dass diese unter den Auslandsmoldauer:innen mit am höchsten ist, darf auch angesichts des Auftretens ihres prorussischen Gegenkandidaten und Vorgängers wenig wundern: Igor Dodon nannte diese Gruppe abschätzig "Parallelwählerschaft" und sprach ihnen damit das Recht auf eine legitime politische Teilhabe in Moldau ab.

Die Verunglimpfungen, die sich im Wahlkampf auftaten und die die politische Debatte vor Ort bis heute begleiten, sind charakteristisch für das mit Erwartungen und starken Emotionen aufgeladene Verhältnis, das das Land zu seinen Bürger:innen im Ausland hat: Auf der einen Seite fehlen sie vor Ort und sind zum Teil durch Mehrfachzugehörigkeiten nicht mehr allein für die Republik Moldau zu reklamieren. Auf der anderen Seite tragen sie durch Remittances sowie zum Teil auch durch die Rückkehr und eigene Geschäftsideen zum Wohl des Landes bei. Außerdem ist der Grad ihrer Vernetzung hoch, sodass sich in verschiedenen europäischen Städten inzwischen moldauische Kultur- und Wohltätigkeitsvereine sowie Kirchengemeinden finden lassen. In jedem Fall weisen die Auslandsmoldauer:innen als diverse, von verschiedenen Migrationsformen und -bedingungen geprägte Gruppe im Sinne einer moldauischen Diaspora das Potenzial auf, Ressource zu sein – sowohl politische als auch ökonomisch.

Die Republik Moldau begegnet dem inzwischen durch eine Policy, die versucht, die moldauische Diaspora – insbesondere in Europa und Nordamerika, aber auch in Russland sowie im arabischen und ostasiatischen Raum – und selbst jene, die lediglich entfernte Wurzeln haben, (wieder) mit dem Land zu verbinden. Ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten sind es schließlich, die ihre Familien, aber eben auch das Land selbst in größere Kontexte einbetten und insofern transnationale Teilhabe herstellen. Dass dabei neben den Pendelmigrant:innen insbesondere diejenigen, die sich längst dauerhaft im Ausland angesiedelt haben, angesprochen werden, spricht für einen breiten, aber auch wenig spezifischen Ansatz, in dem bisher unter anderem Wirtschaftsförderung und Entrepreneurship, aber auch Jugendprogramme und sogenannte "Diaspora-Festivals" eine Rolle spielen.

Auch im Rahmen der im Mai 2023 stattfindenden Adunarea Națională "Moldova Europeană" (Nationalversammlung "Europäische Moldau") war "die Diaspora" mit Transparenten sowie in Redebeiträgen präsent: Sie skandierte unter den rund 80000 Teilnehmer:innen ebenfalls "Europa este Moldova – Moldova este Europa" ("Europa ist Moldau – Moldau ist Europa"). Und auch in diversen europäischen Städten fanden parallel dazu proeuropäische Kundgebungen statt, sodass der Zuspruch zu Maia Sandus Kurs überwältigend deutlich wurde. Gleichwohl werden mit dieser Art von Veranstaltung vor allem Menschen angesprochen, die sich dieses Engagement neben ihrer eigenen Daseinsvorsorge überhaupt leisten können, sodass sich trotz der breiten Ausrichtung die Zielgruppe erwartbar verkleinern dürfte, wenn es um größere, zumal politische Aktivitäten geht. Das Schaffen von Grundbedingungen der Partizipation wie flächendeckenden Mehrfach-Staatsangehörigkeiten und einer Vereinfachung von Wahlhandlungen aus dem Ausland würde das diasporapolitische Projekt Moldaus demgegenüber noch weiter befeuern und alle an Migrationsprozessen Beteiligten milieuunabhängig betreffen.

Vergessen werden darf jedoch auch angesichts des aktuell stark proeuropäischen Kurses nicht, dass der Migrationsdruck im Land nach wie vor hoch ist: Arbeits- und mithin Perspektivlosigkeit sind trotz Reformen und der Bemühung, Unternehmen ins Land zu holen, weiterhin Themen, insbesondere unter jüngeren Menschen. Daneben ist die Republik Moldau zwar inzwischen EU-Beitrittskandidatin, der Weg dorthin ist jedoch noch weit und von einigen potenziellen Widrigkeiten wie der aggressiven russischen Geopolitik und der Sonderrolle Transnistriens geprägt.

Welchen Weg Moldau einschlägt, wird in der näheren Zukunft entschieden – unter anderem in den Wahlen im Herbst 2024, womöglich auf Schlachtfeldern in der Ukraine und in globalen politischen Formationen, aber auch durch die Gestaltung der Mobilitätspraxen der Bürger:innen des Landes. Durch ihre Pässe sind viele von ihnen längst Europäer:innen, durch ihr Pendeln aber weiterhin ebenso der Republik Moldau verbunden. Absehbar ist, dass sie – wie Maia Sandu es immer wieder deutlich macht – für sich und ihr Land "das Sagen behalten" wollen. Moldau ist letztlich nicht nur ein Land, das seinen Platz im Nachklang der Sowjetunion zwischen zwei weiterhin dominanten Einflusssphären zugeschrieben bekommen hat, sondern auch eines, das nach wie vor an seiner Staats- und Identitätsbildung arbeitet. Die Moldauer:innen im Ausland und ihre Verbindungen, die das Land über seine Grenzen hinaus in weitreichende Großkontexte einweben und gleichzeitig nach Moldau selbst zurückwirken, sind dabei ein Baustein, über dessen Tragfähigkeit noch kein abschließendes Urteil zu fällen ist.

Migrationsland Moldau

Die Republik Moldau und ihre Migrationsgeschichte liefern Einblicke in Wechselwirkungen, die weit über die persönlichen Lebensverläufe und die Grenzen des Landes hinausgehen. Sie berühren unter anderem Fragestellungen von Zugehörigkeit, Pluralismus und Partizipation, die die Situation Moldaus und seiner Bevölkerung zu einem Analysefall für global relevante Herausforderungen machen, da sich die Konsequenzen eines Lebens in und mit der Mobilität im kulturellen, aber ebenso politischen und ökonomischen Gefüge der Transformationsgesellschaft Moldaus besonders bemerkbar machen.

Moldau ist ein Migrationsland und als solches aufs Engste mit den Zieldestinationen seiner Bürger:innen verbunden. Migration als Antwort auf Krisen, aber auch als ein sich nach und nach einschleifendes Lebensmodell, bestimmt schließlich den Alltag; sie ist ein "Gesellschaft konstituierender und verändernder Faktor", der das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben (neu) organisiert. Insofern stellt sie eine Verbindung zwischen individuellen Praxen, Erwartungen sowie Wünschen, aber auch Ängsten, ist dadurch so vielgesichtig wie die Bevölkerung selbst und somit keinesfalls einhellig thematisierbar.

Was deshalb insbesondere dann nicht aus dem Blick geraten darf, wenn Übersichtsdarstellungen wie diese die Bewegungen und ihre Effekte in Schemata einzuordnen und Analysebegriffe für Lebensrealitäten zu finden versuchen, ist, dass es um einzelne Menschen und Familien geht. Während eines der vielen Busunternehmen, das Moldauer:innen zwischen Chişinău, Cottbus, Córdoba und vielen weiteren, kleinen und größeren Orte dazwischen verbindet, mit dem Spruch Noi unim Europa – "Wir vereinen Europa" wirbt, sind es letztlich doch die Passagiere, die nicht zuletzt durch ihre Arbeit, ihren Transfer und ihre Remittances ein Netzwerk bilden, das Verbundenheit und neue Vergemeinschaftungsformen zulässt. Diese Menschen unterwegs sind als people on the move keine passiven Spielbälle, sondern Akteur:innen, deren Handlungsmacht das Phänomen ausmacht, es gestaltet und zu einem Forschungsgegenstand werden lässt, der so dynamisch ist wie ihre Beweggründe und deren Umsetzung selbst.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Klaus Roth, Returning Home to a Foreign Country: Southeast European Migrants’ Return to the Life-World of Post-Socialism – The Example of Bulgaria, in: Caroline Hornstein Tomić/Robert Pichler/Sarah Scholl-Schneider (Hrsg.), Remigration to Post-Socialist Europe: Hopes and Realities of Return, Wien–Zürich 2018, S. 73–93, hier S. 81.

  2. Vgl. Caroline Hornstein Tomić/Robert Pichler/Sarah Scholl-Schneider, Hopes and Realities of Return: Contexts, Approaches and Conceptual Considerations, in: dies. (Anm. 1), S. 11–41, hier S. 18.

  3. Vgl. Caroline Hornstein Tomić, "The World Doesn’t Owe You Anything": A Family’s (Re-)Migration From and to Croatia, in: Hornstein Tomić/Pichler/Scholl-Schneider (Anm. 1), S. 95–129, hier S. 97.

  4. Vgl. Pietro Cingolani, "The Romanians in Italy", Transnational Communities in a Globalized World, Strasbourg 2007, S. 19.

  5. Vgl. Sergiu Musteață, 1991: A Chronology of Moldova’s Independence, in: Euxeinos 15–16/2014, S. 92–103, hier S. 103.

  6. Vgl. Toman Omar Mahmoud et al., The Effect of Labor Migration on the Diffusion of Democracy: Evidence From a Former Soviet Republic, Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA), IZA Discussion Paper 7980/2014, S. 8.

  7. Vgl. Anton Cosa/Burkhard Haneke, Armut – Migration – Frauenhandel: Das Beispiel der Republik Moldau, in: Politische Studien 413/2007, S. 41–46.

  8. Vgl. Andreas Oskar Kempf, Biographien in Bewegung: Transnationale Migrationsverläufe aus dem ländlichen Raum von Ost- nach Westeuropa, Wiesbaden 2013, S. 22.

  9. Vgl. Leyla J. Keough, Worker–Mothers on the Margins of Europe. Gender and Migration Between Moldova and Istanbul. Washington, D.C.–Bloomington 2015, S. 42f.

  10. Vgl. Maren Möhring, Jenseits des Integrationsparadigmas? Teil II: Forschungen zur transnationalen Arbeitsmigration in Europa nach 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 59/2019, S. 445–494, hier S. 446.

  11. Ebd., S. 447, zit. nach Serhat Karakayalı, Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008, S. 83.

  12. Remus Gabriel Anghel/Anatolie Coşciug, Patterns and Mechanisms of Return Migration to Romania, in: Hornstein Tomić/Pichler/Scholl-Schneider (Anm. 1), S. 319–342, hier S. 325.

  13. Vgl. Heinz Fassmann, Zirkuläre Arbeitsmigration in Europa – eine kritische Reflexion, in: Klaus Friedrich/Andrea Schultz (Hrsg.), Brain Drain oder Brain Circulation? Konsequenzen und Perspektiven der Ost-West-Migration, Leipzig 2008, S. 21–29, hier S. 21ff.

  14. Vgl. Dumitru Sandu, Migraţia circulatorie ca strategie de viaţă, in: Sociologie Românească 2/2000, S. 5–29.

  15. Vgl. Supriva Singh/Anuja Cabraal/Shanti Robertson, Remittances as a Currency of Care – A Focus on "Twice Migrants" Among the Indian Diaspora in Australia, in: Journal of Comparative Family Studies 41/2010, S. 245–263.

  16. Rumänien vergibt auf Basis territorialer und kultureller Zugehörigkeit Pässe an Ausländer:innen, die nachweisen können, dass ihre Vorfahren auf dem Gebiet des ehemaligen Großrumäniens – für Moldau zwischen 1918 und 1940 in Bessarabien – gelebt haben. Seitdem Rumänien der EU angehört, ist die Beantragung eines solchen Passes oftmals weniger eine politische oder emotionale Entscheidung als vielmehr eine pragmatische Erwägung des legalen Zugangs zum europäischen Arbeitsmarkt über die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats.

  17. Vgl. Remus Gabriel Anghel, Romanians in Western Europe: Migration, Status Dilemmas, and Transnational Connection, Plymouth 2013, S. 156.

  18. Vgl. Keough (Anm. 9), S. 33f.

  19. Vgl. John Berger/Jean Mohr, Der siebte Mensch. Eine Geschichte über Migration und Arbeit in Europa, Frankfurt/M. 2016 [1975], S. 77.

  20. Vgl. Tim Judah, Bye-Bye, Balkans: A Region in Critical Demographic Decline, 14.10.2019, Externer Link: https://balkaninsight.com/2019/10/14/bye-bye-balkans-a-region-in-critical-demographic-decline.

  21. Vgl. Dumitru Minzarari, Moldovan Presidential Elections Driven by Insecurity Not Geopolitics: Resident-Elect Sandu May Have Found a Cure Against Populism, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP Comment 59/2020, S. 2.

  22. Vgl. Alexander Clarkson, Die Macht der Diaspora. Die unbekannte Geschichte der Emigranten in Deutschland seit 1945, Bonn 2023, S. 23.

  23. Maren Möhring, Jenseits des Integrationsparadigmas? Aktuelle Konzepte und Ansätze in der Migrationsforschung, in: Archiv für Sozialgeschichte 58/2018, S. 305–330, hier S. 311.

  24. Vgl. Anghel (Anm. 17), S. 174f.

  25. Vgl. Cingolani (Anm. 4), S. 19.

  26. Vgl. Jannis Panagiotidis, Postsowjetische Migration in Deutschland. Eine Einführung, Bonn 2021, S. 141 sowie 188ff.

  27. Vgl. Keough (Anm. 9), S. 77.

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