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Realitatea | bpb.de

Realitatea Moldau aus fotografischer Perspektive

Andrea Diefenbach

/ 3 Minuten zu lesen

Seit etwa 30 Jahren befindet sich die Republik Moldau in einem Transformationsprozess, der sich in widersprüchlichen Identitäten äußert. Wer die Gesellschaft, die zwischen der EU und Russland zerrissen ist, verstehen will, sollte raus aufs Land in die Dörfer fahren.

Auf der Suche nach der sozialen Identität der Republik Moldau bin ich für beinahe zehn Jahre immer wieder durch die ländlichen Regionen des kleinen südosteuropäischen Landes gereist, habe einzelne Orte oder Veranstaltungen besucht, bin auf außergewöhnliche Orte und Begebenheiten gestoßen und habe verschiedene Menschen getroffen. Die Aufenthalte wurden zu einer Zeitreise in ein Land, das seit seiner Unabhängigkeit vor 30 Jahren in einer anhaltenden Identitätskrise steckt.

Die Serie "Realitatea", aus der verschiedene Bilder in dieser Interner Link: APuZ-Ausgabe zu sehen sind, ist mein zweites Fotobuch über die zwischen EU und Russland, Stillstand und Fortschritt, Korruption und Rechtsstaatlichkeit hin- und hergerissene Republik. 2007 war ich zum ersten Mal dort, um eine kurze Magazin-Reportage über Frauenhandelsopfer zu fotografieren. Dabei erfuhr ich, dass damals etwa ein Viertel – heute ist es mehr als ein Drittel – der erwachsenen Bevölkerung das Land verlassen hatte, um im Ausland zu arbeiten. Von 2008 bis 2010 habe ich daraufhin an meinem Buchprojekt "Land ohne Eltern" über die getrennten Familien in Moldau gearbeitet und mich mit den zurückgelassenen Kindern und deren Eltern befasst, die in Italien als Arbeitsmigranten lebten.

Auch im Anschluss an dieses Projekt hat mich das Land nicht losgelassen. Nach der Abwahl der kommunistischen Regierung 2009 und den zunächst aufkeimenden Hoffnungen auf Wandel wurde relativ schnell klar, dass das Land politisch instabiler denn je würde. Premierminister wurden in kurzen Intervallen ausgetauscht, eine Milliarde Dollar verschwand von den Konten der staatlichen Banken, und Moldau drohte im Würgegriff der Oligarchen zu ersticken. Der Strukturwandel vollzog sich nur schleppend, nicht zuletzt bedingt durch den eingefrorenen Konflikt mit der prorussischen separatistischen Region Transnistrien sowie durch staatliche Korruption und organisierte Wirtschaftskriminalität. Die seinerzeit 180 Euro monatlicher Durchschnittslohn schienen kaum glaubhaft, wenn man Chişinău besuchte. Teure Geländewagen fuhren – und fahren heute noch – durch die Straßen der moldauischen Hauptstadt, und im Zentrum schossen neue Wohnblöcke mit exklusiven Eigentumswohnungen in die Höhe. Doch diesen sichtbaren Reichtum teilten sich nur wenige Vermögende und die Gefolgsleute der politischen Eliten. Bei genauerem Hinsehen waren auch schon vor 15 Jahren all jene Defizite zu erkennen, die ein Land in einem stagnierenden Transformationsprozess kennzeichnen. Noch deutlicher wird dies, wenn man Chişinău hinter sich lässt und dorthin fährt, wo das Herz des Landes schlägt – in die Dörfer.

Die Republik Moldau ist auch ein Land, das bessere Zeiten kannte, dessen Kultur und Menschen davon zeugen. Es ist eine einzigartige Region in Europa, in der eine bewegte geostrategische Geschichte zugleich eine Brücke zwischen den EU-Ländern und Russland bildet, wohl aber auch ein Grund für die Zerrissenheit der Gesellschaft ist. Man trifft auf ein Land und eine Gesellschaft an der Peripherie des Kontinents, das im kollektiven Bewusstsein Westeuropas immer noch ein blinder Fleck ist.

Der rumänische Titel des Bildbandes "Realitatea" – die Realität – stammt aus der Rubrik einer lokalen Tageszeitung und bezieht sich einerseits auf die politische Situation Moldaus während des vergangenen Jahrzehnts bis zur Wahl der aktuellen Präsidentin Maia Sandu 2020 und andererseits auf den Alltag außerhalb von Chişinău, wo die Menschen ungeachtet der unzähligen Wahlen und politischen Konstellationen mit dem Überleben beschäftigt sind.

Schließlich ist der Titel eine Anspielung auf die vermeintliche Authentizität des Mediums Fotografie.