Einige der Passagiere im Reisebus nesteln nervös an ihren Pässen, bevor die Grenzkontrolle nach Rumänien kommt. Das Land ist so nah und dennoch beginnt hier die Europäische Union. Während in Moldau ihre Staatsangehörigkeit nebensächlich bleibt, ist sie für die EU ein Eintrittskriterium, das darüber entscheidet, ob die Grenzüberquerung mit mehr oder weniger Aufwand verbunden ist. Viele der Passagiere sind auch – wenn auch nicht ausschließlich – Europäer:innen. Ihr Herkunftsort, die Republik Moldau, steht allerdings derzeit noch außerhalb der politischen Gemeinschaft, die Schutz, aber auch die Einbindung in beispielsweise Verkehrs- und Arbeitsinfrastrukturen verspricht.
Diese Szene trägt sich täglich in den Bussen zu, die Moldauer:innen nach Berlin, Bremen, Baden-Baden, Bologna oder Barcelona bringen; sie transportieren Menschen und ihr Gepäck. Diese Menschen sind in vielen Fällen Arbeitsmigrant:innen, die ihr Herkunftsland übergangsweise verlassen, um anderswo Geld zu verdienen. Wo genau dieses "Anderswo" liegt, ist dabei nicht genau festgelegt, zu sehr wird ihre Mobilität von verschiedenen inneren und äußeren Faktoren beeinflusst. Was zählt, ist jedoch, dass sie ihr Leben und das ihrer Angehörigen durch einen gewissen Grad an Mobilität bestreiten. Dank jenen, die das Land verlassen, oft aber auch immer wieder zurückkehren, ist Moldau on the move.
Migration wird in Debatten häufig populistisch aufgeladen und auf wirtschaftliche Motivationen zurückgeführt. Während sie binär in Kategorien von "Erfolg" oder "Scheitern" eingeordnet wird,
Warum, woher, wohin und wie weiter?
Wenn von Migration im moldauischen Kontext gesprochen wird, geht es nahezu immer um die Abwanderung, die zwar auch temporär und unvollständig sein kann, aber immer doch zunächst einen Schritt weg vom Herkunftsland bedeutet. Die Republik Moldau weist hier einige Gemeinsamkeiten mit anderen, vormals sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas auf, sodass sich eine strukturelle Anlehnung an die unterschiedlichen Phasen anbietet, die der Kulturanthropologe Pietro Cingolani für die rumänisch-italienische Migrationsverbindung
Entlang dieser Einteilung in gestern – die 1990er und frühen 2000er Jahre, die Jahre der "Entdeckung" und "Konsolidierung" der Migrationsbewegung –, heute – den aktuellen Status quo – und morgen – die Aussichten – lassen sich Entwicklungen, Konsequenzen und Perspektiven des moldauischen Migrationsgeschehens skizzieren sowie in größere, politische, ökonomische, soziale und kulturelle Zusammenhänge einbetten. Diese Aspekte sind sodann in der Lage, das Land, das häufig als Peripherie vor den Toren der EU gerahmt wird, und seine Themen vergleich- und anknüpfbar zu machen.
Gestern
Das Staatsgebiet der Republik Moldau war bis 1991 Teil der Sowjetunion. Deren Zerfall weckte zwar zahlreiche Hoffnungen, entfachte aber mindestens ebenso viele Krisen: Demokratie und Marktwirtschaft ließen sich nicht einfach überstülpen. Durch die Leerstelle, die das vergangene System hinterließ, entstanden politische Instabilität und wirtschaftliche Fragilität, die sich in Form von Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption und undurchsichtigen Strukturen auch sozial erheblich auswirkten. Demnach war der Schritt vorwärts in die Unabhängigkeit gleichermaßen ein erheblicher Rückschritt.
Die wenigstens temporäre Mobilität in Form der Arbeitsmigration bot für zahlreiche Menschen einen Ausweg aus dem sozioökonomischen Abstieg; die Praxis, zumindest zeitweise etwas Geld im Ausland zu verdienen oder den eigenen (Bildungs-)Weg dort fortzusetzen, entwickelte sich daher unter dem enormen Druck im Land zu einer Bewältigungsstrategie
Die Systemtransformation der Republik Moldau und die Entwicklung dieser Migrationsbewegung stehen also in direktem Zusammenhang. Dem Phänomen der Migration kann für die moldauische Gesellschaft eine mindestens ebenso starke Prägkraft zugeschrieben werden wie dem sowjetischen Einfluss, der zuvor auf allen Ebenen gewirkt, seine einhellige Deutungsmacht aber verloren hatte. Dies zeigt sich auch an der Wahl der Zielländer: Während zunächst die GUS-Staaten (insbesondere Russland) präferiert wurden, rückten dann Südeuropa (etwa Italien, Spanien) und die Türkei – sicherlich auch aus Gründen der sprachlichen und zum Teil kulturellen Nähe – auf. Um die Jahrtausendwende wurden auch die Staaten Zentraleuropas (etwa Deutschland, Österreich, die Niederlande) wegen des deutlich höheren Lohnniveaus und der zunehmend besseren Erreichbarkeit immer beliebtere Ziele. Den Weg dahin ebnete jeweils die Kettenmigration,
Die dabei prominenteste Form ist wohl die Arbeitsmigration, die tendenziell und insbesondere gegenüber der Flucht als freiwillige Migration eingeordnet wird, aber dabei doch ökonomischen Zwängen unterliegt und daher kaum eindimensional betrachtet werden kann.
Ein allgemein verbreitetes Muster der Pioniergenerationen, das sich bis heute fortsetzt, ist außerdem die "incomplete labour migration".
Insofern ist die vielfach aus der Not geborene Mobilitätstechnik, die stets auch ein individuelles Risiko barg, für Moldauer:innen von der Pionieraktivität immer weiter zu einer gewohnten Strategie der Lebensgestaltung
Heute
Migration greift als Massenphänomen erheblich in das Zeitgeschehen in Moldau ein: Es scheint vor Ort niemanden zu geben, der keine Verwandten im Ausland hat oder selbst Migrationserfahrung aufweisen kann. Kaum eine Taxifahrt in Chişinău, der moldauischen Hauptstadt, vergeht, ohne dass – angesprochen auf den deutschen Akzent – die Fahrer ihrerseits die Geschichten ihrer Söhne und Töchter in Italien, Deutschland, den USA oder anderswo hervorholen. Nichts davon ist unmittelbar nachprüfbar, doch alles daran spricht wiederum für eine erhebliche Präsenz des Themas. Dies zeigt sich auch an der migrationsspezifischen Phasierung des moldauischen Kalenders, wenn das Land gerade um das orthodoxe Osterfest oder in den Sommerferien viel belebter ist, weil Kinder und Enkelkinder sich auf den Weg acasă, nach Hause, "in die Heimat" gemacht haben. Auch die Wirtschaft wird durch die transnationalen sozialen Verbindungen erheblich beeinflusst, womöglich sogar erhalten. Die Sendungen von Kindern an ihre Eltern oder andersherum – die sogenannten (materiellen) Remittances oder Rücküberweisungen
Der Weg ins Ausland scheint für viele Moldauer:innen oft wenigstens temporär unumgänglich und auch die Infrastrukturen sind da, um diese Route einzuschlagen: Die Schlangen vor dem rumänischen Konsulat, um dort einen EU-Pass
Was den Migrant:innen, die sich in der Pendelbewegung zwischen Herkunfts- und Arbeits- beziehungsweise Residenzkontext einrichten, und ihren Angehörigen dabei gemein ist, ist der Spagat der diesem transnational angelegten Lebensstil innewohnt: Durch ihren räumlich-sozialen Zwiespalt, ihre "double embeddedness in social relations, both in the origin and destination societies",
Markant ist dieser Umstand besonders im familiären Kontext: Die Familie als vertrautester Fixpunkt des Privaten und zumeist auch Ausgangspunkt der Migrationsentscheidung bietet zwar nach wie vor emotionalen Halt, ist jedoch als Raum von Gemeinschaft und Nähe auch von der erhöhten Mobilität deutlich beeinflusst. Durch die Öffnung des Migrationsgeschehens für die den "Pionieren" nachfolgenden Generationen hat sich die Bewegung zudem stark feminisiert, sodass sich Rollenverteilungen ändern können: Migration ist keineswegs Männersache geblieben, wenngleich zahlreiche Jobangebote aufgrund zugeschriebener physischer Fähigkeiten immer noch stark auf sie zugeschnitten sind. Auffällig ist jedoch, dass Frauen anders migrieren beziehungsweise zu anderen Zeiten: Sie sind häufig als junge, kinderlose Frauen oder aber im gesetzteren Alter, nachdem die Kinder erwachsen sind, Teil einer mobilen Arbeiter:innenschaft – dazwischen übernehmen sie zumeist ein Gros der (volkswirtschaftlich unsichtbaren) Sorgearbeit im Herkunftskontext und sind so durch die Abwesenheit ihrer Partner oft mehrfach belastet: "Wir weinen zwei Mal," erzählte mir eine junge Frau über sich und ihren kleinen Sohn im Hinblick auf die Migration ihres Mannes: Einmal vergössen sie Tränen, wenn er nach Deutschland zum Arbeiten fährt, und einmal – vor Freude – wenn er wiederkommt, in eine ländliche, arme Gegend Südwestmoldaus, in der es kaum andere Perspektiven gibt. Der Abschied ist bei der Heimkehr immer wieder vorprogrammiert – ihr Leben verläuft in diesen engen Takten, die die Rahmung von Arbeitsmigration als zwanglose Bewegung abermals infrage stellen.
So wie diese Familie haben zahlreiche Moldauer:innen Migration zu einem wesentlichen Teil ihrer (Erwerbs-)Biografie gemacht. Sie ist eine Notwendigkeit der Daseinsbewältigung, ermöglicht aber auch das Erfüllen des ein oder anderen Konsumwunsches und wirkt sich so materiell oft weit positiver als sozial auf den Lebensstandard aus. Die Republik Moldau ist dadurch derart geprägt von der (zirkulären) Migration ihrer Bürger:innen und den daraus entstehenden transnationalen Verwobenheiten, dass die Gesellschaft ohne diese Charakteristika kaum mehr denkbar ist – weder politisch noch wirtschaftlich, kulturell oder sozial.
Morgen
Migration hat politische Folgen.
Die Verunglimpfungen, die sich im Wahlkampf auftaten und die die politische Debatte vor Ort bis heute begleiten, sind charakteristisch für das mit Erwartungen und starken Emotionen aufgeladene Verhältnis, das das Land zu seinen Bürger:innen im Ausland hat: Auf der einen Seite fehlen sie vor Ort und sind zum Teil durch Mehrfachzugehörigkeiten nicht mehr allein für die Republik Moldau zu reklamieren. Auf der anderen Seite tragen sie durch Remittances sowie zum Teil auch durch die Rückkehr und eigene Geschäftsideen zum Wohl des Landes bei. Außerdem ist der Grad ihrer Vernetzung hoch, sodass sich in verschiedenen europäischen Städten inzwischen moldauische Kultur- und Wohltätigkeitsvereine sowie Kirchengemeinden finden lassen. In jedem Fall weisen die Auslandsmoldauer:innen als diverse, von verschiedenen Migrationsformen und -bedingungen geprägte Gruppe im Sinne einer moldauischen Diaspora das Potenzial auf, Ressource zu sein – sowohl politische als auch ökonomisch.
Die Republik Moldau begegnet dem inzwischen durch eine Policy, die versucht, die moldauische Diaspora – insbesondere in Europa und Nordamerika, aber auch in Russland sowie im arabischen und ostasiatischen Raum – und selbst jene, die lediglich entfernte Wurzeln haben, (wieder) mit dem Land zu verbinden. Ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten sind es schließlich, die ihre Familien, aber eben auch das Land selbst in größere Kontexte einbetten und insofern transnationale Teilhabe herstellen.
Auch im Rahmen der im Mai 2023 stattfindenden Adunarea Națională "Moldova Europeană" (Nationalversammlung "Europäische Moldau") war "die Diaspora" mit Transparenten sowie in Redebeiträgen präsent: Sie skandierte unter den rund 80000 Teilnehmer:innen ebenfalls "Europa este Moldova – Moldova este Europa" ("Europa ist Moldau – Moldau ist Europa"). Und auch in diversen europäischen Städten fanden parallel dazu proeuropäische Kundgebungen statt, sodass der Zuspruch zu Maia Sandus Kurs überwältigend deutlich wurde. Gleichwohl werden mit dieser Art von Veranstaltung vor allem Menschen angesprochen, die sich dieses Engagement neben ihrer eigenen Daseinsvorsorge überhaupt leisten können, sodass sich trotz der breiten Ausrichtung die Zielgruppe erwartbar verkleinern dürfte, wenn es um größere, zumal politische Aktivitäten geht. Das Schaffen von Grundbedingungen der Partizipation wie flächendeckenden Mehrfach-Staatsangehörigkeiten und einer Vereinfachung von Wahlhandlungen aus dem Ausland würde das diasporapolitische Projekt Moldaus demgegenüber noch weiter befeuern und alle an Migrationsprozessen Beteiligten milieuunabhängig betreffen.
Vergessen werden darf jedoch auch angesichts des aktuell stark proeuropäischen Kurses nicht, dass der Migrationsdruck im Land nach wie vor hoch ist: Arbeits- und mithin Perspektivlosigkeit sind trotz Reformen und der Bemühung, Unternehmen ins Land zu holen, weiterhin Themen, insbesondere unter jüngeren Menschen. Daneben ist die Republik Moldau zwar inzwischen EU-Beitrittskandidatin, der Weg dorthin ist jedoch noch weit und von einigen potenziellen Widrigkeiten wie der aggressiven russischen Geopolitik und der Sonderrolle Transnistriens geprägt.
Welchen Weg Moldau einschlägt, wird in der näheren Zukunft entschieden – unter anderem in den Wahlen im Herbst 2024, womöglich auf Schlachtfeldern in der Ukraine und in globalen politischen Formationen, aber auch durch die Gestaltung der Mobilitätspraxen der Bürger:innen des Landes. Durch ihre Pässe sind viele von ihnen längst Europäer:innen, durch ihr Pendeln aber weiterhin ebenso der Republik Moldau verbunden. Absehbar ist, dass sie – wie Maia Sandu es immer wieder deutlich macht – für sich und ihr Land "das Sagen behalten" wollen. Moldau ist letztlich nicht nur ein Land, das seinen Platz im Nachklang der Sowjetunion zwischen zwei weiterhin dominanten Einflusssphären zugeschrieben bekommen hat, sondern auch eines, das nach wie vor an seiner Staats- und Identitätsbildung arbeitet. Die Moldauer:innen im Ausland und ihre Verbindungen, die das Land über seine Grenzen hinaus in weitreichende Großkontexte einweben und gleichzeitig nach Moldau selbst zurückwirken, sind dabei ein Baustein, über dessen Tragfähigkeit noch kein abschließendes Urteil zu fällen ist.
Migrationsland Moldau
Die Republik Moldau und ihre Migrationsgeschichte liefern Einblicke in Wechselwirkungen, die weit über die persönlichen Lebensverläufe und die Grenzen des Landes hinausgehen. Sie berühren unter anderem Fragestellungen von Zugehörigkeit, Pluralismus und Partizipation, die die Situation Moldaus und seiner Bevölkerung zu einem Analysefall für global relevante Herausforderungen machen, da sich die Konsequenzen eines Lebens in und mit der Mobilität im kulturellen, aber ebenso politischen und ökonomischen Gefüge der Transformationsgesellschaft Moldaus besonders bemerkbar machen.
Moldau ist ein Migrationsland und als solches aufs Engste mit den Zieldestinationen seiner Bürger:innen verbunden. Migration als Antwort auf Krisen, aber auch als ein sich nach und nach einschleifendes Lebensmodell, bestimmt schließlich den Alltag; sie ist ein "Gesellschaft konstituierender und verändernder Faktor"
Was deshalb insbesondere dann nicht aus dem Blick geraten darf, wenn Übersichtsdarstellungen wie diese die Bewegungen und ihre Effekte in Schemata einzuordnen und Analysebegriffe für Lebensrealitäten zu finden versuchen, ist, dass es um einzelne Menschen und Familien geht. Während eines der vielen Busunternehmen, das Moldauer:innen zwischen Chişinău, Cottbus, Córdoba und vielen weiteren, kleinen und größeren Orte dazwischen verbindet, mit dem Spruch Noi unim Europa – "Wir vereinen Europa" wirbt, sind es letztlich doch die Passagiere, die nicht zuletzt durch ihre Arbeit, ihren Transfer und ihre Remittances ein Netzwerk bilden, das Verbundenheit und neue Vergemeinschaftungsformen zulässt. Diese Menschen unterwegs sind als people on the move keine passiven Spielbälle, sondern Akteur:innen,