Es kam einem Paradigmenwechsel gleich, als vor 30 Jahren, im September 1994, die Delegierten der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung in Kairo (International Conference on Population and Development – ICPD), kurz Weltbevölkerungskonferenz genannt, neue Richtlinien für die globale Bevölkerungspolitik festlegten. In der ägyptischen Hauptstadt verabschiedeten 179 Staaten in einem hart errungenen Konsens das sogenannte Kairoer Aktionsprogramm, das sich von Sollzahlen und Planzielen verabschiedete und die Menschen und ihre Bedürfnisse in den Vordergrund rückte – vor allem die der Frauen. Zuvor hatten noch vornehmlich demografische Zielvorgaben den bevölkerungspolitischen Diskurs wie auch die Politik vieler Länder dominiert, was immer wieder zu staatlichen Zwangsmaßnahmen und Menschenrechtsverletzungen führte.
Vom Plansoll zu individuellen Rechten
Wie bei vielen vorangegangenen und nachfolgenden Zusammenkünften diskutierten die anwesenden Delegierten in den Kairoer Konferenzräumen die Frage, wie sich Entwicklungsfortschritte erzielen, Armut bekämpfen und das globale Bevölkerungswachstum verlangsamen ließen. Die Antwort, zu der sie kamen, lautete: Jeder und jede Einzelne muss frei über den eigenen Körper, die Partnerschaft und über Familienplanung entscheiden können und Zugang zu den dafür nötigen Gesundheitsleistungen haben. Denn nur wer selbstbestimmt über diese Aspekte des Lebens entscheiden kann, kann sein volles Potenzial entfalten und sich in seiner Gemeinschaft einbringen. Von den Rechten der Einzelnen profitiert die Gesellschaft als Ganze – so der Grundgedanke.
„Im Vordergrund steht die Freiheit der Einzelnen oder der Paare, zu entscheiden, ob und wie viele Kinder sie haben wollen und in welchem Abstand diese zur Welt kommen sollen.“ So beschrieb die damalige Exekutivdirektorin des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) und Generalsekretärin der Konferenz Nafis Sadik den Fokus der neuen bevölkerungspolitischen Richtlinien für die internationale Zusammenarbeit. Global wird sich diese Entscheidungsfreiheit der Einzelnen positiv auf das Wachstum der Weltbevölkerung auswirken.“ In der Erkenntnis, dass Familienplanung mehr sein muss als die Bereitstellung von Verhütungsmitteln, wurde in Kairo ein neues, umfassendes Konzept der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und der damit verbundenen Rechte des Individuums verankert. Es handelt sich um ein ganzheitliches Gesundheitsverständnis, das körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden mit Blick auf Sexualität und Fortpflanzung einschließt. Dazu gehören Sexualaufklärung für Jugendliche genauso wie Schwangerschaftsvorsorge, Geburtshilfe, die Betreuung von Neugeborenen sowie die Behandlung von Geschlechtskrankheiten, HIV/Aids-Prävention und – wo es die Gesetzeslage erlaubt – sichere Abtreibungen.
Zentrale Grundlage für dieses Recht auf Selbstbestimmung sind Gleichberechtigung, Bildung und wirtschaftliche Unabhängigkeit, denn nur so können Frauen ihre Rechte auch wahrnehmen. Dass sich diese Erkenntnis in Kairo durchgesetzt hat, ist vor allem der internationalen Frauenbewegung zu verdanken. Ihr war es gelungen, schon im Vorfeld der Konferenz weibliche Perspektiven aus allen Regionen der Erde und Forderungen für mehr Rechte von Frauen über alle Tabus und Widerstände hinweg in die Sitzungen des Vorbereitungskomitees einzubringen.
Der hart errungene Kairoer Konsens hat auch 30 Jahre später noch Gültigkeit und ist weiterhin handlungsleitend in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. An die Stelle von Geburtenkontrolle sind rechtebasierte Ansätze einer modernen Familienplanung getreten. Seit der Verabschiedung des Aktionsprogramms von Kairo hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Geschlechtergerechtigkeit ein grundlegender Baustein für eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung ist. Das spiegelt sich auch in den 2015 verabschiedeten 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen („Agenda 2030“): Ziel 5 umfasst die Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen.
Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte
Alle Aspekte, die mit körperlicher Selbstbestimmung und dem Wohlbefinden jedes und jeder Einzelnen in allen Belangen von Fortpflanzung und Sexualität zu tun haben, werden heute unter dem Sammelbegriff der „sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte“ (SRGR) zusammengefasst. Nicht alle Teilkomponenten dieses Begriffs sind bereits in Kairo definiert und festgeschrieben worden.
Das Kairoer Aktionsprogramm definiert reproduktive Gesundheit als „den Zustand des vollständigen seelischen, körperlichen und sozialen Wohlbefindens im Hinblick auf Sexualität und Fortpflanzung“.
„Sexuelle Rechte“ sind im Aktionsprogramm von Kairo hingegen nicht definiert, da sich bei diesem Thema keine Einigkeit unter den teilnehmenden Staaten erzielen ließ. Laut der Guttmacher-Lancet-Kommission für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte gehört zu einer entsprechenden Definition unter anderem das Recht, die eigene Sexualität unabhängig von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität einvernehmlich mit dem Partner ausleben zu können, ohne sich vor Diskriminierung fürchten zu müssen.
„Kairo“ im Spiegel der internationalen Entwicklungsziele
Die Schwierigkeiten, auf internationaler Ebene eine gemeinsame Linie zu Fragen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte zu finden, zeigten sich nach Kairo auch bei der Ausarbeitung internationaler Entwicklungsziele.
So fand das Thema in den Millenniums-Entwicklungszielen (Millennium Development Goals – MDGs), die eine Agenda für das Erreichen zentraler Ziele zur weltweiten Entwicklung zwischen 2000 und 2015 festlegten, zunächst keinerlei Erwähnung.
In den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals – SDGs), die die MDGs 2015 ablösten, wurde den Zielen von Kairo stärker Rechnung getragen: Unterziel 3.7 fordert den allgemeinen Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsdienstleistungen wie etwa Familienplanung und deren Einbettung in nationale Programme und Strategien; Unterziel 5.6 pocht auf Geschlechtergerechtigkeit und neben dem Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit auf reproduktive Rechte speziell für Frauen. Dennoch wurden auch in den SDGs Lücken gelassen: Sexuelle Rechte werden abermals nicht erwähnt.
Viele Länder richteten nach Kairo ihre Bevölkerungspolitik neu aus. Die Umsetzung der Ziele der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz werden bis heute alljährlich von der Kommission für Bevölkerung und Entwicklung (Commission on Population and Development – CPD) bei ihrer Sitzung in New York am Sitz der Vereinten Nationen überprüft. Neben Regierungen, regionalen und internationalen sowie UN-Organisationen nimmt auch eine rege Zivilgesellschaft an den Treffen teil. Die Beschlüsse der Kommission dienen vielen Nichtregierungsorganisationen in aller Welt als Referenz für ihre Advocacy-Arbeit, um sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte auf nationaler und lokaler Ebene voranzutreiben.
Gemischte Bilanz
In den vergangenen drei Jahrzehnten hat die Weltgemeinschaft viele Erfolge auf dem Gebiet der reproduktiven Gesundheit erzielt: Das Sterberisiko von Müttern und Kindern ist deutlich gesunken, die Menschen leben nahezu überall auf der Welt länger und gesünder, und die Chancen von Jungen und Mädchen auf eine Schulbildung sind heute deutlich besser als noch 1994. Durch einen verbesserten Zugang zu Mitteln der Familienplanung ist die Zahl der unbeabsichtigten Schwangerschaften weltweit um 20 Prozent zurückgegangen, auch Schwangerschaften unter Teenagern. Seit dem Millenniumswechsel sind Geburten bei Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren um ein Drittel zurückgegangen.
Das Versprechen von Kairo ist jedoch auch 30 Jahre später noch längst nicht für alle Menschen Realität geworden. Das zeigt auch der aktuelle Weltbevölkerungsbericht des UNFPA: Vor allem die weltweit am stärksten benachteiligten Frauen sind in ihrem Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit weiterhin deutlich eingeschränkt. Laut dem Bericht können ein Viertel der Frauen in rund 70 Ländern noch immer nicht grundlegendste Entscheidungen über ihren eigenen Körper treffen und beispielsweise Sex mit ihrem Mann oder Partner ablehnen. Beinahe jede zehnte Frau kann nicht frei entscheiden, ob sie verhütet oder nicht.
Die weltweiten Ungleichheiten in Sachen sexuelle und reproduktive Gesundheit zeigen sich auch bei der Müttersterblichkeit deutlich. In afrikanischen Ländern südlich der Sahara ist das Risiko für eine Frau, bei Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt zu sterben, etwa 130-mal höher als bei Frauen in Nordamerika und Europa. Global gesehen ist die Müttersterblichkeit seit dem Jahr 2000 deutlich gesunken – um insgesamt 34 Prozent. Doch seit 2016 stagniert der Rückgang. Die Folge: Heute sterben täglich noch immer rund 800 Frauen bei der Geburt oder während einer Schwangerschaft.
Entfaltungsfreiheit und Chance auf demografische Dividende
Nicht selbst entscheiden zu können, ob und wann man Kinder möchte, und im Falle einer Schwangerschaft großen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt zu sein, wirkt sich auf die Entfaltungsmöglichkeiten von Millionen von Menschen aus – vor allem auf Frauen und Mädchen. Das wiederum bringt negative Effekte für die Gesellschaft und die nachhaltige Entwicklung ganzer Länder mit sich. Wo immer es den Menschen an grundlegenden Diensten und Einkommensmöglichkeiten fehlt, verharren die Armutsraten auf hohem Niveau. Erfahrungsgemäß bedeutet das auch anhaltend hohe Kinderzahlen. Denn es fehlt nicht nur an Mitteln und Wegen, die eigene Familiengröße zu planen. In armen Familien sind Kinder häufig auch wichtige Arbeitskräfte und eine Absicherung für die Eltern im Alter.
Am deutlichsten zeigt sich dieser Zusammenhang in vielen afrikanischen Staaten südlich der Sahara, wo die Geburtenziffern im weltweiten Vergleich weiterhin hoch sind und nur langsam zurückgehen. Im Schnitt bekommt eine Frau in Subsahara-Afrika mehr als vier Kinder. Das sind etwa doppelt so viele wie im globalen Durchschnitt. Während in anderen Weltregionen die Bevölkerungen aufgrund niedriger Kinderzahlen – in mehr als der Hälfte aller Länder weltweit liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau bei unter zwei – zunehmend altern und teilweise zu schrumpfen beginnen, wachsen sie dort weiterhin stark. Bis 2050 wird sich die Zahl der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent voraussichtlich von heute 1,5 auf 2,5 Milliarden nahezu verdoppeln. Dabei zeigen sich jedoch große regionale Unterschiede: In Südafrika und Botsuana bringen Frauen im Laufe ihres Lebens zwei bis drei Kinder zur Welt, deutlich weniger als noch vor einigen Jahrzehnten. Auch in Äthiopien, Ruanda und Malawi gehen die Geburtenraten zurück, während beispielsweise in Niger Frauen im Schnitt noch fast sechs Kinder zur Welt bringen.
Viele Kinder und eine große junge Bevölkerung werden häufig als großes Potenzial gesehen, denn die heranwachsende Generation kann sich künftig für ihre Gesellschaft und ihre Volkswirtschaft verdient machen. Häufig fällt dann der Begriff der „demografischen Dividende“ – ein Konzept, das auch Fachleute jedes Jahr auf Podien und Veranstaltungen bei der CPD in New York diskutieren. Das Konzept beschreibt den Wandel der Altersstruktur einer Bevölkerung, der bei sinkenden Kinderzahlen einsetzt: Der Schwerpunkt der Bevölkerung verschiebt sich von den jungen Jahrgängen hin zu den erwerbsfähigen. Dadurch stehen der Wirtschaft überproportional viele Menschen zur Verfügung, die arbeiten und produktiv sein können, während es gleichzeitig weniger Kinder und wenige ältere Menschen zu versorgen gibt. Diese günstige Altersstruktur lässt sich, so die Hoffnung, unter den richtigen Rahmenbedingungen – wichtig sind vor allem Investitionen in Gesundheit, Bildung und Jobs – in einen Entwicklungsschub umwandeln. Sinkende Fertilitätsraten setzen allerdings körperliche Selbstbestimmung und bessere Lebensbedingungen voraus. Nur dann nämlich entscheiden sich Menschen für weniger Nachwuchs und können diesen Wunsch auch umsetzen.
Umkämpftes Terrain
Die Ziele von Kairo zu erreichen und allen Menschen weltweit ein gesundes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, ist also nicht nur eine Frage der Menschenrechte, sondern auch aus entwicklungspolitischer Perspektive relevant, denn Staaten profitieren von der Entfaltungsfreiheit jeder und jedes Einzelnen. Warum aber ist es dann in den vergangenen 30 Jahren nicht gelungen, allen Menschen den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, Verhütungsmethoden oder Bildung zu ermöglichen und für Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen zu sorgen? Die dahinterstehenden Ursachen sind komplex und je nach Länderkontext unterschiedlich.
In den vergangenen 30 Jahren hat der Schwerpunkt der Bemühungen auf groß angelegten Programmen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit gelegen, die vor allem die „Massen“ im Blick hatten, also die Menschen, die am einfachsten zu erreichen sind, heißt es im diesjährigen Weltbevölkerungsbericht von UNFPA zu den Gründen der gemischten Bilanz. Zwar gab es Fortschritte, aber die am stärksten Ausgegrenzten wurden so nicht erreicht. Geschlechterungleichheit, Rassendiskriminierung und Fehlinformationen führen in vielen Ländern auch im Gesundheitssystem zu gravierenden Ungleichheiten.
Ein wesentlicher Grund für die gemischte Bilanz 30 Jahre nach Kairo ist aber auch, dass es bis heute weltweit sehr unterschiedliche Ansichten zu den Themen rund um das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und sexuelle und reproduktive Gesundheit gibt. Diskussionen, die mit Sexualität und Fortpflanzung zu tun haben, werden häufig tabuisiert oder entfachen hitzige Debatten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass jede Gesellschaft, jede Religion, jede Kultur und jedes Rechtssystem unterschiedliche Auffassungen von den Belangen menschlicher Reproduktion hat. Das trägt zu anhaltenden Widerständen gegen viele Punkte bei, die im Kairoer Aktionsprogramm verankert sind oder unter den Begriff SRGR fallen – von Sex und der Nutzung von Kontrazeptiva für Unverheiratete über Sexualaufklärung für Jugendliche, die freie Definition der eigenen sexuellen Orientierung und Geschlechteridentität bis hin zum Recht auf einen sicheren Schwangerschaftsabbruch.
Das verdeutlicht noch einmal den großen Erfolg, den die 179 vertretenen Staaten in Kairo erreicht hatten: Trotz unterschiedlicher Ansichten zu vielen Punkten, die das Aktionsprogramm aufführt, gelang es, einen Kompromiss zwischen progressiven und konservativen Konferenzteilnehmern auszuhandeln. Nach außen demonstrierte die Weltgemeinschaft damit Geschlossenheit, zugleich ließ sich kaum verbergen, dass während der Verhandlungen ein Tauziehen um strittige Inhalte und Formulierungen stattgefunden hatte. Einige muslimische Staaten äußerten beispielsweise Bedenken über die Vereinbarkeit des Abschlussdokuments mit den Regeln der Scharia, der auf dem Koran gründenden Rechtsordnung des Islam. Aber auch katholisch geprägte Staaten, vor allem aus Südamerika, und der Vatikan merkten Vorbehalte an.
Mit dem in Worte gegossenen Kompromiss wurden die Widerstände gegen sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung nicht aus der Welt geschafft. In den 30 Jahren nach Kairo waren sie aus unterschiedlichen Richtungen immer wieder spürbar. Und sie haben in den vergangenen Jahren sogar noch zugenommen: In vielen Teilen der Welt machen Anti-Choice-Bewegungen und rechtspopulistische Kräfte, die die „traditionelle Familie“ und das „Recht auf Leben“ schützen wollen, den Befürwortern der körperlichen Selbstbestimmung zunehmend das Leben schwer. Auch unter dem als progressiv geltenden Papst Franziskus lehnt die katholische Kirche weiterhin jegliche Form der Familienplanung vehement ab – mit weitreichenden Folgen für Gläubige weltweit. Und mit einem möglichen zweiten Amtsantritt Donald Trumps drohen die Vereinigten Staaten vom Vorkämpfer für körperliche Selbstbestimmung, SRGR und Geschlechtergleichstellung erneut zum Opponenten zu werden.
Die Konfliktlinien treten bis heute bei Verhandlungen der Vereinten Nationen in New York und Genf regelmäßig zu Tage. Besonders deutlich sind sie jedes Jahr bei der Verhandlung des Abschlussdokuments bei der Sitzung der CPD spürbar. Dort werden in jüngster Zeit eher „rote Linien“ verteidigt als Fortschritte in Sachen SRGR erzielt.
Und nicht nur in den Sitzungssälen der Vereinten Nationen ist ein zunehmender Widerstand zu beobachten, auch in vielen Ländern weltweit hat der Gegenwind bei diesen Themen zugenommen, vor allem durch eine wachsende, global vernetzte Anti-Gender-Bewegung, die sich unter anderem gegen Geschlechtergerechtigkeit und jegliche Rechte von LSBTIQ*-Personen einsetzt.
Besonders sichtbar ist dabei die sogenannte Pro-Life-Bewegung, die sich neben diesen Themen vor allem für den „Schutz des ungeborenen Lebens“ einsetzt, und hier für ein umfassendes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Ihr wohl sichtbarster Erfolg in jüngster Zeit ist die Aufhebung von „Roe v. Wade“, einer Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von 1973, die Frauen das Recht einräumte, selbst über Abbruch oder Fortführung einer Schwangerschaft zu entscheiden. Trotz zahlreicher Belege, dass Einschränkungen beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen diese nicht verringern, sondern durch die Zunahme unsicherer Abbrüche die Gesundheit von Schwangeren zusätzlich in Gefahr gebracht wird, kippte der US Supreme Court am 24. Juni 2022 das seit 50 Jahren bestehende Urteil.
Auch in anderen Teilen der Welt ist derzeit eine Rückwärtsbewegung beim Recht auf körperliche Selbstbestimmung zu verzeichnen. Prominentestes Beispiel ist Uganda, wo jüngst ein Gesetz, das Homosexualität kriminalisiert, bis hin zur Todesstrafe verschärft wurde. Seit 2022 dürfen Jugendliche in Kenia nur mit Zustimmung ihrer Eltern Verhütungsmittel im öffentlichen Gesundheitswesen beziehen, während in den Schulen oft lediglich Abstinenz als altersadäquate Verhütungsmethode vermittelt wird. Ein kleiner Hoffnungsschimmer: Seit 1994 wurde in 24 afrikanischen Ländern die Rechtsgrundlage für Schwangerschaftsabbrüche erweitert.
Auf die Jugend kommt es an
Dennoch: Der Auftrieb, den die Opponenten des Kairoer Aktionsprogramms zurzeit weltweit erfahren, könnte künftig nicht nur weitere Fortschritte blockieren. Im schlimmsten Fall könnten bereits erzielte Erfolge in Sachen reproduktive und sexuelle Gesundheit und Rechte sogar wieder zunichte gemacht werden. Für die heutige Jugendgeneration wäre das fatal. Diese jungen Frauen und Männer werden mit ihrer Bereitschaft zum Wandel und dem Wunsch nach gesellschaftlicher Erneuerung entscheiden, wo es in Zukunft langgeht – nicht nur in Sachen demografischer, sondern auch in Sachen nachhaltiger Entwicklung. Dafür aber müssen wir heute in sie investieren.
Daher ist es so wichtig, bestehende Initiativen, die die Stärkung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte zum Ziel haben, weiter zu stärken und die Finanzierung entsprechender Programme auszubauen – vor allem, aber nicht nur für junge Menschen. Die Ungleichheiten im Zugang zu Informationen und Dienstleistungen rund um Familienplanung, Schwangerenvorsorge, Geburtshilfe und die Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten müssen dringend abgebaut werden. Der Fokus sollte hier auf vulnerablen Gruppen, den Ärmsten der Armen, Geflüchteten, LSBTIQ*-Personen, Menschen mit Behinderungen und Indigenen liegen, um die „letzte Meile“ beim Ausbau der Gesundheitsversorgung zu erreichen – damit das Recht auf Selbstbestimmung endlich für alle Menschen Realität wird, wie es sich die unterzeichnenden Staaten im September 1994 in Kairo zum Ziel gesetzt hatten.