Reproduktive Gesundheit ist ein Thema von zentraler Bedeutung für jeden Menschen und beeinflusst nicht nur die soziale Entwicklung, sondern auch die körperliche und psychische Gesundheit.
Vorstellungen über „Reproduktion“ – über die Zahl der gewünschten Kinder, Formen und Zugang zu Methoden der Familienplanung, Schwangerschaft und Geburt – sind heute an die Überzeugung geknüpft, dass sexuelle und reproduktive Entscheidungen individuelle Entscheidungen sind, die Menschen selbstbestimmt treffen.
Reproduktion und reproduktive Gesundheit stehen an der Schnittstelle zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Vorstellungen, sie sind in ein komplexes Geflecht aus Machtverhältnissen, sozialen und politischen Normen, Geschlechtervorstellungen, sozioökonomischen Umständen, religiösen Ansichten und biopolitischen Strategien eingebettet. Der Wandel der entsprechenden Ansichten und Praktiken über die Zeit spiegelt insofern nicht nur neue objektive Erkenntnisse wider, sondern ist auch Ausdruck der dynamischen Auseinandersetzung zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Interessen.
Die Geschichte der reproduktiven Gesundheit ist somit auch eine Geschichte von Kontrolle und Widerstand, von der Durchsetzung staatlicher Interessen und von der Emanzipation individueller Lebensplanungen. Ihre Anerkennung als fundamentales Menschenrecht markiert insofern einen entscheidenden Wendepunkt im Verständnis von körperlicher Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit. Neben den Themen Schwangerschaft, Geburt und Schwangerschaftsabbruch zählen hierzu auch Fragen rund um die „assistierte Reproduktion“, insbesondere die Themen Eizellspende, Leihmutterschaft und Elternschaft, aber auch der Zugang zu Verhütungsmitteln und geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Nicht zuletzt ist reproduktive Gesundheit damit ein Spiegel gesellschaftlicher Gleichheit: Unterschiede im Zugang zu reproduktiven Gesundheitsdiensten und ihre unterschiedliche Qualität offenbaren oft tiefer liegende Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft.
Reproduktive Gesundheit als Konzept und Schnittstelle zur sexuellen Gesundheit
Das Konzept der „Sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte“ (SRGR) geht auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 zurück und verknüpft gesundheitliche Aspekte mit Rechten im Bereich der Reproduktion.
Die anhaltenden Debatten über die Anerkennung von Sexualität als integraler Bestandteil der Menschenrechte mündeten 1994 auf der Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo in einen internationalen Konsens, der insbesondere durch die globale HIV/AIDS-Krise möglich wurde, die gemeinschaftliches Handeln erforderte.
In jüngeren Diskussionen wurde das Konzept der sexuellen und reproduktiven Gesundheit um zusätzliche Themen erweitert, darunter um das der sexuellen Orientierung, Intersexualität und der damit einhergehenden Diskriminierung und Stigmatisierung. Auch die Themen sexuelles Vergnügen, sexuelle Funktionsstörung, die Prävention und Behandlung sexuell übertragbarer Krankheiten sowie der Anspruch auf umfassende Aufklärung in sexuellen und reproduktiven Fragen spielen hier eine Rolle. Zahlreiche internationale Dokumente zu Sexualität und Reproduktion haben in den vergangenen zehn Jahren dazu beigetragen, diese Themen vermehrt in den Fokus nationaler und internationaler Debatten zu rücken.
Reproduktive und sexuelle Gesundheit sind eng miteinander verwoben, da Entscheidungen und Zustände im einen Bereich direkte Auswirkungen auf den anderen haben. Besonders deutlich wird das beim Thema Verhütung: Verhütungsmethoden bieten Menschen einerseits die Möglichkeit, über ihre reproduktive Gesundheit eigenständig zu entscheiden, und sie erlauben es ihnen, bewusst zu planen, wann und unter welchen Voraussetzungen sie eine Familie gründen beziehungsweise Kinder haben möchten. Andererseits sind diese Methoden von entscheidender Bedeutung für die sexuelle Gesundheit, da sie nicht nur vor sexuell übertragbaren Infektionen schützen, sondern auch von der Angst vor ungewollten Schwangerschaften befreien und dadurch die sexuelle Lust fördern. Indem sie es Individuen ermöglichen, ihre sexuellen Erfahrungen ohne Sorge zu genießen, spielen Verhütungsmethoden eine wesentliche Rolle bei der Förderung einer selbstbestimmten und beglückenden Sexualität.
Ähnliches gilt für den Bereich Schwangerschaft (und Schwangerschaftsabbruch). Eine Schwangerschaft beeinflusst nicht nur die körperliche Gesundheit einer Person, sondern auch ihr sexuelles Leben und ihre psychische Gesundheit. Entscheidungen rund um eine Schwangerschaft, einschließlich jener zum Schwangerschaftsabbruch, sind ganz erheblich von den Umständen der sexuellen Gesundheit und den persönlichen, sozialen und ökonomischen Ressourcen eines Menschen beeinflusst.
Familienplanung und Verhütung
Ein Beispiel, das das komplexe Wechselspiel zwischen individuellen Vorstellungen, gesellschaftlichen Erwartungen und Ungleichheiten beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen verdeutlicht, ist das Thema Familienplanung und Verhütung. Familienplanung beschreibt den Prozess, durch den Individuen oder Paare die Anzahl und den Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder bestimmen. Sie ist ein integraler Bestandteil der persönlichen Lebensgestaltung, kann aber nicht nur als eine Reihe von persönlichen oder paarbezogenen Entscheidungen zur Frage des Zusammenlebens verstanden werden, sondern ist ein komplexer Vorgang, der von verschiedenen gesellschaftlichen Diskursen, Strukturen und rechtlichen Regelungen beeinflusst wird.
Familienplanung ist eingebettet in die Lebensgestaltung der Individuen und umfasst zum Beispiel Entscheidungen darüber, ob und wann Menschen mit der Elternschaft beginnen möchten, wie viele Kinder sie haben wollen, in welchen Abständen diese Kinder geboren werden sollen und wann die Familienplanung abgeschlossen ist. Die meisten Menschen treffen die Entscheidung darüber, ob, wann und unter welchen Bedingungen sie eine Schwangerschaft beginnen und fortsetzen möchten, im Hinblick auf eine gute Elternschaft und die Lebensqualität und Lebenschancen eines Kindes.
In diesem Zusammenspiel von individuellen Lebensplänen und gesellschaftlichen Erwartungen ist die sichere Verhütung einer Schwangerschaft für viele heterosexuell aktive Frauen und Männer ein wichtiges Anliegen, denn sie ermöglicht ihnen, den Verlauf ihres Lebens und ihre reproduktive Biografie selbst zu gestalten. Die Relevanz dieses Themas nimmt lediglich während spezifischer Lebensabschnitte ab, etwa während einer Schwangerschaft oder unmittelbar nach der Geburt eines Kindes. Dabei streckt sich die gesamte reproduktive Phase über 35 Jahre: Von der Aufnahme sexueller Aktivitäten bis zur Menopause verbringt eine Frau, die zwei Kinder zur Welt bringt, etwa fünf Jahre im Bestreben nach Kindern, im Zustand der Schwangerschaft oder in der postnatalen Phase. In den verbleibenden 30 Jahren besteht in der Regel der Wunsch, eine Schwangerschaft zu vermeiden.
Im weltweiten Vergleich steht Deutschland beim Zugang zu Verhütungsmitteln relativ gut da. Es stehen unterschiedliche Verhütungsmittel zur Verfügung, die Sexualaufklärung in den Schulen ist gesetzlich verankert, und es gibt eine Vielzahl von Akteuren, die qualitativ hochwertige Informationen sowie eine umfassende Verhütungsberatung zur Verfügung stellen.
Monetäre Kosten sind eine wesentliche Barriere beim Zugang zu Verhütung.
Der Menschenrechtskommissar des Europarates wies in seinem Bericht zu den Fortschritten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte in Europa darauf hin, dass finanzielle Hindernisse wie die fehlende Kostenübernahme für Verhütungsmittel durch die öffentliche Krankenversicherung den Zugang für viele Frauen und Mädchen untergraben. Er fordert, die Autonomie und die reproduktive Entscheidungsfreiheit von Frauen stärker zu unterstützen, indem Verhütungsmittel kostenlos zugänglich gemacht werden – auch die Notfallkontrazeption – und Sensibilisierungsprogramme eingeführt werden, die dazu beitragen sollen, Verhütung als gemeinsame Verantwortung von Männern und Frauen zu verstehen.
Schwangerschaft und Geburt
In Deutschland werden jedes Jahr etwa 800.000 Kinder geboren, wobei die Zahl zuletzt rückläufig war. Rechnet man die rund 100.000 jährlichen Schwangerschaftsabbrüche hinzu sowie diejenigen Schwangerschaften, die als Spontanaborte ungewollt zu früh beendet wurden – das betrifft geschätzt 15 Prozent aller klinisch diagnostizierten Schwangerschaften –, handelt es sich um über eine Million Schwangerschaften pro Jahr.
So haben Schwangerschaften bei Jugendlichen häufig schwerwiegende gesundheitliche und soziale Folgen für die Mütter und ihre Kinder. Bei jugendlichen Müttern im Alter von 15 bis 19 Jahren etwa besteht ein höheres Risiko für Frühgeburten und für die Kinder das Risiko eines niedrigen Geburtsgewichts und von Entwicklungsstörungen. Zu den sozialen Folgen, die von den gesundheitlichen nicht zu trennen sind, gehören Stigmatisierung – etwa, wenn die Mütter als „zu jung“ angesehen werden, weil sie sich noch in der schulischen oder beruflichen Ausbildung befinden –, soziale Ablehnung und Gewalt durch den Partner, Eltern oder Gleichaltrige. Zudem können frühe Schwangerschaften zum Abbruch des Schulbesuches führen und künftige berufliche Möglichkeiten beschränken. In Deutschland ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten die Anzahl der Geburten durch jugendliche Mütter deutlich zurückgegangen, was wohl auch an besseren Kenntnissen über Verhütung und den Zugang zu Verhütungsmitteln liegt.
Ein besonders sensibles und in jüngster Zeit stärker diskutiertes Thema im Kontext von Schwangerschaft und Geburt sind Handlungen, die als Gewalt verstanden werden.
Um Gewalt unter der Geburt zu begegnen, bedarf es einer gesellschaftsweiten Sensibilisierung und eines Kulturwandels in der Geburtshilfe. Ziel muss dabei sein, eine geburtshilfliche Praxis zu fördern, die die Autonomie, Würde und Entscheidungsmacht der Gebärenden respektiert und stärkt. Konkrete Maßnahmen könnten eine verbesserte Aufklärung über Rechte, die Stärkung der Position von Hebammen für eine kontinuierliche, persönlichere Betreuung und die Implementierung von Feedback- und Beschwerdemechanismen für Frauen umfassen. Die Bekämpfung von Gewalt unter der Geburt ist nicht nur ein medizinisches oder gesundheitspolitisches Anliegen, sondern auch eine Frage der Menschenwürde und der Menschenrechte, die eine breite gesellschaftliche und politische Unterstützung benötigt.
Ungewollte Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch
In den Zusammenhang von Schwangerschaft, Familienplanung und Verhütung gehört auch das Thema ungewollte Schwangerschaft. Eine ungewollte Schwangerschaft ist kein seltenes Ereignis in den reproduktiven Biografien von Frauen. Zu ihr kommt es, wenn Verhütungsmethoden entweder gar nicht angewendet werden oder fehlschlagen. Eine Schwangerschaft kann aus verschiedenen Gründen ungewollt sein: weil kein Kinderwunsch vorliegt, die zum Zeitpunkt der Schwangerschaft gegebenen gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen nicht adäquat erscheinen oder die persönliche Lebensplanung aktuell oder in absehbarer Zukunft keinen Raum für ein (weiteres) Kind lässt. Die Entscheidung für oder gegen das Austragen einer Schwangerschaft beruht praktisch immer auf der Reflexion der eigenen Lebensumstände, den prognostizierten Entwicklungsmöglichkeiten und der Überlegung, ob eine sichere und förderliche Zukunft für das Kind gewährleistet werden kann.
Die Häufigkeit ungewollter Schwangerschaften korreliert mit gesellschaftlichem Wohlstand. Je höher das Durchschnittseinkommen eines Landes, desto niedriger ist die Anzahl ungewollter Schwangerschaften.
Der Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland noch immer im Strafgesetzbuch verankert und damit keine Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkasse. Im Schwangerschaftskonfliktgesetz ist vielmehr festgelegt, dass die Bundesländer für eine ausreichende Versorgung zuständig sind – anders etwa als bei der ambulanten fachärztlichen Versorgung, die durch die Kassenärztlichen Vereinigungen abgesichert wird. Was „ausreichende Versorgung“ mit medizinischen Angeboten genau bedeutet, ist jedoch nicht geregelt. Seit einiger Zeit werden für Deutschland Lücken in der medizinischen Versorgung und eine Zunahme von Versorgungsengpässen beschrieben.
Die WHO formuliert in ihrer evidenzbasierten Leitlinie zur Schwangerschaftsabbruchversorgung, dass die Sicherstellung einer umfassenden und qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung von entscheidender Bedeutung für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Frauen und damit für die Verwirklichung reproduktiver Gesundheit sei.
Problematisch ist auch der fehlende Zugang zu sachgerechten Informationen. Barrieren beim Informationszugang wirken am häufigsten dann, wenn eine Schwangerschaft geheim gehalten wird oder die Entscheidung zum Abbruch mit Ängsten vor sozialer Stigmatisierung verbunden ist.
Ausblick
Um reproduktive Gesundheit zu verbessern, ist es entscheidend, Stigmatisierungen aller Art abzubauen und den Zugang zu Informationen und medizinischer Versorgung zu erleichtern. Insbesondere der Schwangerschaftsabbruch sollte als integraler Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung verstanden werden. Die derzeitige Angebotsstruktur ist nur unzureichend abgesichert, die Kosten für einen Abbruch müssen von den betroffenen Frauen selbst getragen werden, sofern sie über mehr als ein nur geringfügiges Einkommen verfügen. Doch selbst wenn das der Fall ist, müssen sie für eine Kostenübernahme zusätzliche Wege in Kauf nehmen, etwa die Übernahme bei einer Krankenkasse beantragen und diese vor dem Eingriff nachweisen – was den Weg zum Abbruch unnötig verlängert und verkompliziert.
Vor allem aber ist die strafrechtliche Kategorisierung von Schwangerschaftsabbrüchen kontraproduktiv sowohl für die Versorgungsqualität als auch für die Gesundheit der Betroffenen.