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Vielstimmige Allianzen | Reproduktive Rechte | bpb.de

Reproduktive Rechte Editorial Reproduktive Rechte als gleiche Freiheit Kleine Geschichte der modernen Reproduktionspolitik Vielstimmige Allianzen. Reproduktive Gerechtigkeit im Kontext deutscher Verhältnisse Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs? Zwei Perspektiven Plädoyer für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts Plädoyer für eine Ethik der Bezogenheit Reproduktive Gesundheit. Zwischen individuellen Ansprüchen und gesellschaftlichen Realitäten 30 Jahre Kairo-Konferenz. Sexuelle Selbstbestimmung im Spannungsfeld internationaler Bevölkerungs- und Entwicklungspolitik

Vielstimmige Allianzen Reproduktive Gerechtigkeit im Kontext deutscher Verhältnisse

Anthea Kyere Susanne Schultz

/ 14 Minuten zu lesen

Reproduktive Gerechtigkeit ist ein transnational „reisendes“ Konzept, das vermehrt auch im deutschen Diskurs präsent ist. Ein Blick auf hiesige Reproduktionsverhältnisse zeigt vielfache Dimensionen von Unterdrückung, aber auch Potenziale für bewegungspolitische Allianzen.

Reproduktive Gerechtigkeit ist ein aktivistisch-theoretisches Konzept feministischer Bewegungen, das 1994 am Rande einer Gesundheitskonferenz in Chicago entworfen wurde. Eine Gruppe Schwarzer Feministinnen kritisierte damals, dass eine mehrheitlich weiß geprägte feministische Mainstream-Bewegung marginalisierte Perspektiven in ihrer politischen Praxis für reproduktive Rechte übergehe. Insbesondere der starke Fokus auf die gesetzliche Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs blende viele alltägliche Probleme von Frauen in prekären sozioökonomischen Lagen aus. Der Neologismus reproductive justice als eine Kombination reproduktiver Rechte (reproductive rights) mit sozialer Gerechtigkeit (social justice) wurde vorgeschlagen, um umfangreiche alltägliche Probleme rund um Verhütung, Abtreibung, Schwangerschaft, Geburt sowie Mutter- beziehungsweise Elternschaft ansprechen und politisieren zu können.

Loretta J. Ross, eine wichtige Protagonistin dieser Bewegung, die das Konzept auch weiterhin theoretisch und politisch vertritt und verbreitet, erinnert sich: „Wir stellten uns selbst ins Zentrum unserer Analyse und erklärten, dass wir – obwohl das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche für uns grundlegend war – ebenso umfassende gesundheitliche Versorgung, Bildung, Arbeitsplätze, Kinderbetreuung und das Recht auf Mutterschaft benötigten. Diese neuen Perspektiven, die so anders waren als die endlosen und lähmenden Debatten, die sich ausschließlich auf Abtreibung konzentrierten, veränderten unser Denken auf radikale Weise und brachten das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit hervor.“ Im Laufe der Jahre eigneten sich zunächst etliche Schwarze und Women of Color-Organisationen in den USA das Konzept an. Reproductive Justice entwickelte sich zu einem politischen Rahmenkonzept, das dem liberalen und oft entkontextualisierenden Blick vieler Pro-Choice-Kampagnen entgegengestellt wurde.

Seit einigen Jahren „reist“ dieses Konzept nun auch transnational und wird von Bewegungs-Akteur*innen ebenso genutzt wie zunehmend auch in der institutionalisierten Wissenschaft. Ob und inwiefern das Konzept angeeignet wird, ist stark kontextabhängig. In Brasilien etwa haben Schwarze feministische Organisationen das Konzept in den vergangenen Jahren aufgegriffen, um die extrem ungleich verteilten Erfahrungen reproduktiver Sterblichkeit als Folgen eines strukturellen Rassismus zu analysieren oder rassistische Polizeigewalt als Gewalt zu thematisieren, die auch die Mütter der ermordeten Kinder trifft. In Deutschland vernetzen sich seit 2018 verschiedene Gruppen, um das Konzept als Ansatzpunkt für intersektionale feministische Bündnisse auszuprobieren. In verschiedenen Zusammensetzungen sind ein Manifest und eine kollektiv verfasste Bildungsbroschüre entstanden, um auszuloten, wie mit dem Konzept im Rahmen deutscher Verhältnisse Politik gemacht werden kann.

Erweiterter politisch-analytischer Kanon

Das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit (im Folgenden RG) wird meist mit Bezug auf drei (oder manchmal vier) zentrale Grundsätze oder Forderungen eingeführt, um den komplexen und vielfältigen Erfahrungen reproduktiver Unterdrückung gerecht zu werden:

  1. Das Recht, sich für Kinder zu entscheiden und die Formen der Schwangerschaftsversorgung und Geburtshilfe selbstbestimmt wählen zu können.

  2. Das Recht, keine Kinder zu bekommen und einen sicheren Zugang zu Verhütungs- und Abtreibungsmöglichkeiten zu haben.

  3. Das Recht, Kinder in selbstgewählten Umständen aufziehen zu können – frei von institutioneller, struktureller und interpersoneller Gewalt sowie unter guten sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Bedingungen.

  4. In einigen Darstellungen wird diesen drei Grundsätzen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als ein weiterer hinzugefügt.

Mit diesem Forderungskanon gehen im Vergleich zu hegemonialen Vorstellungen reproduktiver Rechte mehrere wichtige politisch-theoretische Verschiebungen einher: Erstens verlagert sich die Aufmerksamkeit weg von liberalen, individualisierenden Vorstellungen körperlicher Selbstbestimmung hin zu strukturellen Ungleichheiten als Voraussetzung für ein breites Spektrum reproduktiver Ungerechtigkeiten. Zweitens wird mit dem Konzept ein isolierter Fokus auf Geschlechterverhältnisse hinterfragt. Stattdessen wird eingefordert, diese – ganz im Sinne einer intersektionalen Reorientierung feministischer Bewegungen – immer im Zusammenhang mit vielfältigen weiteren Machtverhältnissen zu verstehen. Hierzu zählen Rassismus, Klassenverhältnisse, Behindertenfeindlichkeit, Heteronormativität, Grenzregime oder der institutionalisierte Freiheitsentzug in Gefängnissen. Drittens fordert dieser Kanon dazu auf, über die Frage der Abtreibungsrechte hinaus eine breite Palette reproduktiver Rechte zu berücksichtigen, insbesondere die Rechte, sich für das Kinderkriegen entscheiden und Kinder unter guten Bedingungen aufziehen zu können.

Auch für die Forderung nach dem Recht auf Schwangerschaftsabbrüche ermöglicht RG somit eine veränderte und erweiterte Perspektive. Im Fokus steht hier, wie marginalisierte Gruppen nicht nur ein formales Recht, sondern auch tatsächliche alltägliche Zugänge zu Informationen sowie kostenloser beziehungsweise bezahlbarer und respektvoller Versorgung bekommen können. Im Folgenden werden wir uns jedoch insbesondere auf die Grundsätze einer Politik gegen Antinatalismus und Selektion konzentrieren sowie auf das Recht auf Mutter- beziehungsweise Elternschaft. Dabei diskutieren wir jeweils auch, wie diese Forderungen auf den deutschen Kontext übertragen werden können. Und wir reflektieren, welche Fragen in den politisch-theoretischen Diskussionen zu RG oft noch zu kurz kommen oder offenbleiben.

Rahmenkonzept für breite Bündnisse und vielstimmiges Storytelling

Das Konzept der RG verschiebt nicht nur inhaltlich-analytisch den Fokus der Debatte um Reproduktionsverhältnisse. Die US-amerikanischen Protagonist*innen verbinden mit der Idee eines Rahmenkonzeptes auch bestimmte Weisen, Politik zu machen und Bündnisse zu gestalten. Loretta J. Ross plädiert dafür, das Konzept als einen anti-essentialistischen Rahmen für vielstimmige intersektionale Kämpfe zu verstehen. Es sei zwar wichtig, die Genealogie des Konzeptes in den Kämpfen Schwarzer Feminist*innen deutlich zu machen; prinzipiell sei es aber ein Rahmen, der für alle offen stehe, die sich darauf beziehen wollen, und den Schwarze Feminist*innen nicht für sich alleine beanspruchten.

Insofern ist RG als ein universelles Konzept zu verstehen. Die vielfältigen Unterdrückungserfahrungen, die Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen im Kontext reproduktiver Politiken machen, können in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihren Gemeinsamkeiten zusammengedacht werden. So lässt sich eine breite und zugleich differenzierte Perspektive auf Reproduktionsverhältnisse schaffen. Für diese Bezugnahme haben allerdings diejenigen, die das Konzept in Umlauf brachten, klare Kriterien entwickelt. Damit soll verhindert werden, dass es – gerade im Rahmen seiner enorm dynamischen Rezeption und Verbreitung – verwässert oder vereinnahmt wird. So ist zum Beispiel ein kollektives Verständnis von Menschenrechten ein wichtiges Kriterium: Gemeinsame Unterdrückungserfahrungen sollen als strukturelle Bedingungen für Handlungsspielräume kenntlich gemacht werden, um sich klar von (neo-)liberalen und individualistischen Bezügen abzugrenzen. Der gesellschaftlich vielfach verankerten Privatisierung gerade von Fragen rund um das Kinderkriegen und Mutter-/Elternschaft soll so entgegengewirkt werden. Zentrales Kriterium ist, dass Akteur*innen, die sich auf RG beziehen, ungleich verteilte Ressourcen ebenso wie institutionelle Kontrolle und Repression als Einflussfaktoren für den Grad an reproduktiver Selbstbestimmung herausarbeiten und ihre Wirkungen deutlich machen.

Des Weiteren zielt die Idee eines Rahmenkonzepts darauf ab, vielstimmige Allianzen zu ermöglichen, um reproduktive Unterdrückung als Erfahrungen zu verstehen, die auf geteilten, aber nicht identischen Geschichten beruhen. Um dies zu ermöglichen, ist insbesondere die Methode des „Storytelling“ ein wichtiger Vorschlag im Rahmen der US-amerikanischen Debatte. Durch das Sprechen über und das Teilen von persönlichen Erfahrungen der reproduktiven Unterdrückung entsteht für die Betroffenen eine Deutungsmacht, die sie zu aktiven Akteur*innen in der Aushandlung politischer Perspektiven und Transformationsmöglichkeiten macht. Der Ansatz des Storytelling darf jedoch nicht verwechselt werden mit einem neoliberalen Ansatz, der in selbstoptimierender Manier zu individualisierten Veränderungen des eigenen Lebensstils aufruft. Stattdessen werden durch persönliche Erfahrungen Perspektiven für gesamtgesellschaftliche Veränderungen entwickelt.

Gegen Antinatalismus und Selektion: Das Recht, sich für Kinder entscheiden zu können

Womit genau beschäftigen sich nun Analysen zu den spezifischen Grundsätzen der RG? Welche Forderungen werden erhoben? Zentrale und im Pro-Choice-Diskurs ausgeblendete Aspekte reproduktiver Gerechtigkeit ergeben sich zum Beispiel aus der Geschichte und Aktualität antinatalistischer und eugenischer Bevölkerungsprogramme. Diese waren oder sind darauf ausgerichtet, die Geburtenraten bestimmter sozial abgewerteter Bevölkerungsgruppen zu begrenzen oder zu verringern. In den USA bezieht sich die Debatte auf eine lange Geschichte der Sterilisierung von Schwarzen und Indigenen Menschen. Auch wenn antirassistische Akteure dies seit den 1980er Jahren als systematische Praxis beenden konnten, haben NGOs auch danach immer wieder Beispiele für entsprechende Kontinuitäten ans Licht gebracht – so etwa die nicht medizinisch indizierte Entfernung von Gebärmüttern bei kalifornischen Gefangenen.

Auch Verhütungsmittelprogramme spielen eine wichtige Rolle in der jüngeren Geschichte antinatalistischer Politik. So wurde in den USA das langzeitverhütende Hormonimplantat Norplant in den 1990er Jahren in Strafprozessen eingesetzt, um insbesondere Schwarze Frauen mit Unfruchtbarkeit zu bestrafen. Darüber hinaus wurde seine Nutzung mit sozialen Leistungen verknüpft – entweder als Bedingung, um Sozialleistungen zu erhalten, oder umgekehrt mit Bonuszahlungen als Anreiz, um sich das Implantat einsetzen zu lassen. Auch hier waren vor allem prekarisierte Schwarze Personen betroffen. Norplant wurde allerdings vorrangig für den Einsatz im Globalen Süden entwickelt, was die transnationale Dimension antinatalistischer Programme verdeutlicht. Die Debatten um RG können dementsprechend an feministische Auseinandersetzungen um eine globale Bevölkerungspolitik anknüpfen, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde, um Geburtenraten im Globalen Süden durch Familienplanungsprogramme einzudämmen. Zwar wurde die entwicklungspolitische Bevölkerungsprogrammatik seit den 1990er Jahren im Sinne reproduktiver und sexueller Rechte und Gesundheit konzeptuell reformiert. Es blieb aber bei einer antinatalistischen Grundausrichtung, die in vielerlei Hinsicht von kolonialen Projektionen geprägt ist. In manchen Fällen ermöglichte dies auch eine Kontinuität offen repressiver Zwangsprogramme. Ein Beispiel war die Sterilisierung von über 200.000 Menschen, mehrheitlich bäuerlicher Indigener Frauen, in Peru Ende der 1990er Jahre.

Inwiefern lässt sich die Debatte zu Antinatalismus und Selektion auf deutsche Verhältnisse übertragen? Erinnerungspolitisch spielt hier sicherlich die Geschichte der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik und ihrer Nachwirkungen eine wichtige Rolle, so insbesondere die Sterilisierung von Jüd*innen, Rom*nja und Sint*izze, Schwarzen, behinderten Menschen und „Asozialen“. Bundesdeutsche Kontinuitäten betrafen etwa die Sterilisierung von behinderten Menschen auch nach 1945. Auch die Erinnerung daran, dass sich trans* Personen bis 2011 sterilisieren lassen mussten, wenn sie offiziell ihren Geschlechtseintrag ändern lassen wollten, wird in der RG-Debatte aufgegriffen. In der bundesdeutschen Gegenwart ist für die Thematik auch eine klassenselektiv-pronatalistische Familienpolitik seit den 2000er Jahren relevant. Diese konzentriert sich seit der Einführung des Elterngeldes auf die Förderung von Geburten in der deutschen Mittelschicht. Gleichzeitig wurden Transferleistungen für Erwerbslose, Wenigverdienende und Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus abgebaut. Aktuell droht angesichts des Erstarkens rechter Positionen bis in die politische Mitte hinein ein Revival nationalistisch-völkischer Diskurse über eine bedrohte „deutsche Geburtenrate“. Die Kritik des Antinatalismus geht also immer auch mit der Frage einher, wessen und welche Kinder gesellschaftlich erwünscht sind und welche eher nicht.

Ein weiteres Thema, das für die Debatte um RG in Deutschland in den vergangenen Jahren wichtig geworden ist, ist die Frage der Ausweitung pränataldiagnostischer Screeningverfahren im Rahmen der gesetzlichen Gesundheitsversorgung. Etliche Organisationen haben etwa mit der Kampagne „No-NIPT“ deutlich gemacht, dass sie sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einsetzen, aber das selektive Aussortieren von Föten mit chromosomalen Besonderheiten auf der Grundlage neuer nicht-invasiver Testverfahren für gefährlich und behindertendiskriminierend halten.

Eine noch offene Thematik für die RG-Diskussion ist, inwiefern mit dem Recht, sich für Kinder zu entscheiden, auch der Zugang zu neuen Reproduktionstechnologien verbunden ist. Diese ermöglichen einerseits Zugang zu biologischer Reproduktion jenseits heterosexueller „Fortpflanzung“, sind aber andererseits – Stichworte Leihgebären und Eizelltransfer – in neue globale reproduktive Ausbeutungsverhältnisse verwickelt. Zunächst einmal stellt die RG-Debatte hier ein kollektives Rechtsverständnis in den Mittelpunkt – das Recht, sich gegen strukturelle Gewalt und Fremdbestimmung zur Wehr setzen zu können. Dies unterscheidet sich prinzipiell von einem entkontextualisierten individuellen Recht, die Körper anderer für die Verwirklichung des eigenen Kinderwunsches instrumentalisieren beziehungsweise gesundheitlich beeinträchtigen zu dürfen. Was aus dieser politischen Prämisse folgt und wie konkrete medizinisch gestützte Praktiken des Kinderkriegens jenseits heteronormativer Familienkonstellationen jeweils politisch bewertet werden sollen, bleibt allerdings offen. Eine kritische Einordnung dieser Frage nahm Loretta J. Ross 2022 in einer Debatte zu RG in Hamburg vor, bei der sie insbesondere die zugrundeliegende Genetisierung und Biologisierung von Verwandtschaft hinterfragte. Es gehe, so Ross, im Hype der Reproduktionsmedizin letztendlich nicht darum, für schon auf dieser Welt lebende Kinder zu sorgen, sondern um die narzisstische Selbsterhöhung der eigenen Biologie und Genetik.

Das Recht, Kinder unter guten Bedingungen aufzuziehen

Während der Protest gegen Antinatalismus und Selektion im Kontext transnationaler feministischer Bewegungen für reproduktive Rechte durchaus schon auf eine längere Geschichte zurückblicken kann, als es das Konzept der RG vermuten lässt, ist die dritte Forderung im Kanon der RG gewissermaßen neu. Denn Forderungen rund um marginalisierte Mutter- und Elternschaft wurden bisher kaum im Kontext der reproduktiven Rechte verhandelt, sondern eher in feministischen Debatten rund um Sorge- beziehungsweise Care-Arbeit. Die Perspektive der RG ist insofern etwas grundsätzlicher, als hier nicht nur thematisiert wird, welche gesellschaftlichen Verhältnisse Mutter- oder Elternschaft erschweren. Vielmehr drängt sich mit der dritten Forderung die Frage auf, welche sozialen Gruppen historisch und aktuell gesellschaftlich dazu „zugelassen“ beziehungsweise gefördert wurden und werden, Familie zu leben – wem es also überhaupt zugeschrieben wird, eine „gute Mutter“ sein zu können, und wem gerade nicht.

Historisch verweisen US-amerikanische Debatten auf die Geschichte der Versklavung und des systematischen Kindesentzugs. Zudem setzen sie sich kritisch mit den Kontinuitäten institutioneller Gewalt durch Fürsorgeregime und die Kriminalisierung von Elternschaft auseinander. So leben in den USA Schwarze, Indigene und Kinder of Color aus verarmten Familien überproportional häufig in Pflegeheimen. Ansätze der RG stellen sich der Vorstellung von rassistisch diskriminierten und prekär lebenden Familien als „dysfunktional“ oder „verdächtig“ entgegen. Statt individualisierend den Müttern beziehungsweise Eltern die Verantwortung für schlechte Lebensverhältnisse zuzuschreiben, wird gefordert, sie in ihren komplexen Bedarfen ernst zu nehmen und zu unterstützen.

In der deutschen RG-Debatte ist die Frage, wie marginalisierte Mütter oder Eltern ihre Kinder unter guten Bedingungen großziehen können – und welche Ausschlüsse es von dem Recht gibt, Familie leben zu können –, gerade erst am Anfang. Aber selbstverständlich kann an viele gesellschaftliche Auseinandersetzungen angeknüpft werden – für soziale Gerechtigkeit, für Antigewaltpolitiken, für diverse Familienformen, für verbesserte Lagen behinderter Eltern oder gegen institutionellen Rassismus.

Einerseits sind Forderungen nach ermöglichenden sozialen Bedingungen für Sorgearbeit wichtig, wie sie etwa auch in der „Care-Revolution-Kampagne“ angesprochen werden. So brauchen alleinerziehende Frauen als weiterhin eine der am meisten von Armut betroffenen sozialen Gruppen in Deutschland mehr Handlungsspielräume durch andere (Erwerbs-)Arbeitsverhältnisse und mehr öffentliche sowie kollektive Unterstützung, statt zur Zielscheibe reaktionärer Angriffe auf Bürgergeldempfänger*innen zu werden. Ebenso bleibt die Bekämpfung sexistischer Gewaltverhältnisse in Familien wichtig, um gute Sorgebedingungen zu ermöglichen.

Andererseits spielt für die RG-Debatte institutionalisierte Gewalt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, wem die Mutter- oder Elternschaft ganz versagt wird: So sehen sich viele Menschen im Rahmen von Migrationsbewegungen dazu gezwungen, sich von ihren Kindern zu trennen. Repressive Grenzregime und ein verhinderter Familiennachzug führen dazu, dass sie oft dauerhaft von ihnen getrennt leben müssen. Auch institutionelle Praktiken des Kindesentzugs gehören zu dieser Debatte, wenn etwa rassistische oder klassenhierarchische Projektionen auf marginalisierte Mütter und Eltern als nicht „erziehungsfähig“ eine Rolle spielen – und nicht tatsächliche Gewaltverhältnisse gegen Kinder. Einige Organisationen und Forschende fangen gerade erst damit an, sich dieser Problemlage anzunehmen und Fälle institutionellen Rassismus bei der staatlichen Inobhutnahme von Kindern zu dokumentieren. Neben Sexarbeiter*innen sind es in Deutschland insbesondere Rom*nja und Sinti*zze, für die das Thema Kindesentzug mit kontinuierlichen Gewalterfahrungen verknüpft ist. So wird in einer aktuellen Studie über Rassismuserfahrungen von Rom*nja und Sinti*zze konstatiert, dass die massive Intervention des Kindesentzugs diese Gruppe „unverhältnismäßig und diskriminierend“ treffe. Gleichzeitig zeigt die Studie aber auch, dass Rassismus in Bezug auf Kinderschutz widersprüchlich funktioniert. Denn die in der Studie Interviewten beobachteten sowohl „unverhältnismäßige Interventionen“ als auch eine „mangelnde Handlungsbereitschaft der Jugendämter“ – und interpretierten Letzteres auch als „eine Vernachlässigung des Kindeswohls und der Schutzpflicht“.

Diese Beobachtung verweist darauf, dass die Problematik des institutionalisierten Kindesentzugs überaus komplex und spannungsreich ist und hier die Rechte von Herkunftsfamilien und Kindern auf Schutz vor Gewalt sowie die Rechte von Pflege- und Adoptiveltern zusammen diskutiert werden sollten. Es geht bei diesem Themenkomplex aber nicht nur um die oftmals bitteren Erfahrungen im Streit um Kinder, sondern auch um die vielen Möglichkeiten, mit Kindern in offenen Konstellationen, Nachbarschaften, Wahl- und Großfamilien oder „Dörfern“ – jedes Kind braucht bekanntlich ein ganzes Dorf, um großgezogen zu werden – gut zusammenzuleben.

Wie geht die Reise weiter?

Das Konzept der RG ist in seinen transnationalen Reisen noch jung, und gleichzeitig gibt es eine starke Dynamik der Rezeption sowohl in Gesellschafts- und Geschlechterforschung als auch in intersektional-feministischen Bewegungen. Angedacht und angefangen wurde es als provokatives Bündniskonzept für eine Neuorientierung, Radikalisierung und Ausweitung feministischer Politiken rund um die Themen Abtreibung, Verhütung, Schwangerschaft Geburt und Elternschaft. Als theoriepolitisches Rahmenkonzept lädt es dazu ein, viele noch offene Fragen gemeinsam und vielstimmig zu diskutieren.

Zentral sind dabei zwei Anforderungen: einerseits der Aufruf zum Protagonismus, zur aktiven Unterstützung, und andererseits der Appell zur Präsenz derjenigen, die von multiplen Dimensionen reproduktiver Unterdrückung am meisten betroffen sind. Gleichzeitig gilt das Konzept als politische Programmatik, der sich alle anschließen können, die die ausdifferenzierte Kritik aktueller Reproduktionsverhältnisse und reproduktiver Ungerechtigkeiten verbreiten und politisch gegen die bestehenden Missstände angehen wollen. Wie bei vielen kritischen Bewegungskonzepten hängt das Gelingen beider Ansprüche nicht zuletzt davon ab, welche Allianzen, welche und wessen politische Bezugnahmen, welche Bildungskulturen und auch welche Arten und Schwerpunkte, Fragen der RG zu beforschen, sich in Zukunft weiterentwickeln werden. In bitteren Zeiten multipler Krisen und des Vordringens rechter Kräfte mit all ihren reaktionären biopolitischen Vorstellungen hängt viel von diesem Gelingen ab.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Loretta J. Ross, Reproductive Justice. Ein Rahmen für eine antiessentialistische und intersektionale Politik, in: Kitchen Politics (Hrsg.), Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit, Münster 2021, S. 17–60, hier S. 18.

  2. Vgl. ebd. und Loretta J. Ross et al., Introduction, in: dies. (Hrsg.), Radical Reproductive Justice: Foundation, Theory, Practice, Critique, New York 2017, S. 11–34.

  3. Mit Pro Choice („für Wahlfreiheit“) werden die feministischen Organisationen und Positionen zusammengefasst, die sich seit vielen Jahrzehnten für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einsetzen.

  4. Wir verwenden den Begriff „reproduktive Sterblichkeit“ statt des geläufigeren Begriffs der „Müttersterblichkeit“, denn er umfasst Todesfälle infolge ungewollter Schwangerschaften und infolge von Abtreibungen ebenso wie die Sterblichkeit bei oder nach der Geburt.

  5. Vgl. Criola, Dossiê Mulheres Negras e Justiça Reprodutiva, Rio de Janeiro 2021, Externer Link: https://criola.org.br; Susanne Schultz, Intersectional Convivialities. Brazilian Black and Popular Feminist Approaches to the Justiça Reprodutiva Framework, in: dies., Reproductive Racism. Migration, Birth Control and the Specter of Population, London 2023, S. 151–189.

  6. Vgl. Kitchen Politics (Anm. 1).

  7. Vgl. Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit, Warum wir von Reproduktiver Gerechtigkeit sprechen. Manifest des Netzwerks Reproduktive Gerechtigkeit, Berlin 2021, Externer Link: https://repro-gerechtigkeit.de; AG Reproduktive Gerechtigkeit, Reproduktive Gerechtigkeit. Eine Einführung, Berlin 2023, Externer Link: http://www.gwi-boell.de/sites/default/files/2023-08/endf_reproduktiverechte_web_doppelseiten_1.pdf.

  8. Vgl. Ross (Anm. 1); Ross et al. (Anm. 2), S. 19f.

  9. Vgl. Ross (Anm. 1), S. 32.

  10. Vgl. Ross et al. (Anm. 2), S. 22.

  11. Vgl. Dorothy Roberts, Killing the Black Body. Race, Reproduction, and the Meaning of Liberty, New York 2017, S. 56ff.

  12. Vgl. Erin McCormick, Survivors of California’s Forced Sterilizations: „It’s Like My Life Wasn’t Worth Anything“, 19.7.2021, Externer Link: http://www.theguardian.com/us-news/2021/jul/19/california-forced-sterilization-prison-survivors-reparations.

  13. Vgl. Roberts (Anm. 11), S. 109.

  14. Vgl. Kalpana Wilson, Re-Centring „Race“ in Development: Population Policies and Global Capital Accumulation in the Era of the SDGs, in: Globalizations 3/2017, S. 432–449; Daniel Bendix/Susanne Schultz, Antinatalismus und Big Pharma. Langzeitverhütung und das Rollback internationaler Entwicklungspolitik, in: Susanne Schultz, Die Politik des Kinderkriegens. Zur Kritik demografischer Regierungsstrategien, Bielefeld 2022, S. 191–220.

  15. Vgl. Julieta Chaparro-Buitrago, Debilitated Lifeworlds: Women’s Narratives of Forced Sterilization as Delinking from Reproductive Rights, in: Medical Anthropology Quarterly 3/2022, S. 295–311.

  16. Vgl. Jonte Lindemann, Historische Kontinuitäten der reproduktiven Selbstbestimmung von behinderten Menschen, in: Gen-ethischer Informationsdienst 266/2023, S. 14ff.

  17. Vgl. Katrin Menke/Ute Klammer, Mehr Geschlechtergerechtigkeit – weniger soziale Gerechtigkeit. Familienpolitische Reformprozesse in Deutschland aus intersektionaler Perspektive, in: Sozialer Fortschritt 66/2017, S. 213–228.

  18. Vgl. Bündnis gegen die Kassenfinanzierung des Bluttests auf Trisomien (#NoNIPT), Selektive Pränataldiagnostik. Wollen wir das wirklich?, August 2021, Externer Link: https://nonipt.de/wp-content/uploads/2021/09/NoNIPT_Broschuere.pdf.

  19. Vgl. Loretta J. Ross, Was macht Deine DNA so besonders?, in: Gen-ethischer Informationsdienst 266/2023, S. 8.

  20. Vgl. Laura Briggs, Taking Children. A History of American Terror, Oakland 2020.

  21. Vgl. ebd.

  22. Vgl. Externer Link: https://care-revolution.org.

  23. Vgl. Miriam Gutekunst, „Und dieses Gesetz soll uns spalten.“ Ein Interview mit Aktivistinnen der Initiative „Familienleben für Alle!“, in: Movements 1/2023, S. 263–268.

  24. Vgl. Lea Ulmer, Verletzbarkeit und Kindesentzug. Zum Begegnungsverhältnis alleinerziehender geflüchteter Frauen und dem Jugendamt, in: Camilla Angeli/Michaela Bstieler/Stephanie Schmidt (Hrsg.), Schauplätze der Verletzbarkeit. Kritische Perspektiven aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin 2024, S. 117–132; Nina Winter, Rassismus im Jugendamt Berlin? Und plötzlich ist das Kind weg, 29.3.2023, Externer Link: http://www.nd-aktuell.de/artikel/1172009.rassismus-im-jugendamt-rassismus-im-jugendamt-berlin-und-ploetzlich-ist-das-kind-weg.html.

  25. Isidora Randjelović et al., Studie zu Rassismuserfahrungen von Sinti:zze und Rom:nja in Deutschland, Alice Salomon Hochschule, Berlin 2020, S. 189f., S. 196.

Lizenz

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ist Sozialwissenschaftlerin und Antidiskriminierungsberaterin. Sie ist Mitglied im Netzwerk Reproduktive Gerechtigkeit und publiziert regelmäßig zur Bedeutung von Reproduktiver Gerechtigkeit im deutschen Kontext.

ist Soziologin und Privatdozentin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sie forscht unter anderem zu Politiken des Kinderkriegens, rassistischer Bevölkerungspolitik und unterschiedlichen Dimensionen selektiver Reproduktionsmedizin.