Bereits die Frauenbewegungen in Kaiserreich und Weimarer Republik erhoben politische Forderungen, wie wir sie heute mit dem Terminus „reproduktive Rechte“ verbinden: Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, angemessene Hebammenversorgung, Mutterschutz inklusive Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz, medizinische und finanzielle Unterstützung während der Schwangerschaft und nach der Geburt, unentgeltliche Kinderbetreuung von angemessener Qualität, Zugang zu Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüchen als Leistungen der Krankenhilfe, Gleichberechtigung der Frau in der Ehe sowie Nichtdiskriminierung unverheirateter Mütter und ihrer Kinder.
Viele dieser Forderungen wurden in der zweiten Frauenbewegung ab den 1960er Jahren („Das Private ist politisch!“) wieder aufgegriffen, etliche sind bis heute unerfüllt. Zugleich darf beim Blick auf die Geschichte feministischer Rechtskämpfe nicht übersehen werden, dass Kolonialrassismus und eugenische Vernichtungsfantasien seinerzeit nicht adressiert wurden. Sie waren selbst Bestandteil emanzipatorischer Rhetoriken und wurden normalisiert oder unsichtbar gemacht. Es bleibt eine der großen Herausforderungen, reproduktive Rechte gegen antinatalistische Ausgrenzung einerseits und gegen Unterdrückung durch einen pronatalistischen Zwang zur Mutterschaft andererseits zu formulieren. Die Konzepte reproduktiver Gerechtigkeit und reproduktiver Menschenrechte bieten hier wichtige Ansätze.
Reproduktive Gerechtigkeit: Freiheit für wen?
Reproduktive Rechte sind ein umfassendes Konzept. Mit ihnen verbinden sich nicht nur die oben genannten Forderungen, sondern auch sichere und gewaltfreie Geburten, Schutz und Unterstützung von schwangeren und stillenden Personen, das Verbot von Zwangssterilisationen, die Verhütung und Behandlung von Unfruchtbarkeit oder der Zugang zu altersgerechten und vertraulichen Informationen über sexuelle und reproduktive Rechte. Ebenfalls erfasst sind allgemein zugängliche Beratungsangebote, eine altersgerechte und zielgruppenorientierte Sexualpädagogik, eine reproduktive Gesundheitsversorgung ohne Diskriminierung aufgrund rassistischer Zuschreibung, Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus, die Elternassistenz für Menschen mit Behinderungen, die Anerkennung von Elternschaft unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung und eine inklusive Gesellschaft, in der Kinder gut aufwachsen können. Kurzum: Reproduktive Rechte sind umfangreich und voraussetzungsvoll – und berühren grundlegende Fragen des Zusammenlebens in demokratischen Gemeinwesen.
Dennoch fokussieren politische Auseinandersetzungen und die mediale Aufmerksamkeit immer wieder allein auf die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Das ist einerseits berechtigt, weil die Auferlegung einer Austragungspflicht, erzwungene Schwangerschaften und Zwangsgeburten fundamentale Eingriffe in die körperliche Integrität, Autonomie, Intimsphäre, Persönlichkeit und Zukunft der Betroffenen sind. Andererseits birgt eine solche Fokussierung die Gefahr, dass die Dimension antinatalistischer Repression ebenso verschwindet wie die Breite und Vielfalt reproduktiver Rechte.
In den USA hatten feministische Bewegungen in den 1970er Jahren erfolgreich das Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Recht auf Privatheit eingeklagt. Der Supreme Court folgte 1973 in seiner Grundsatzentscheidung Roe v. Wade der Argumentation, dass die Frage der Fortsetzung einer Schwangerschaft so höchstpersönlich sei, dass der Staat sich hier nicht einmischen dürfe. Aus Schwarzen emanzipatorischen Bewegungen wurde aber bereits früh kritisiert, dass der Kampf um eine individuelle und private Freiheit vom Staat überwiegend privilegierten weißen Frauen helfe.
Im Juni 1994 entwickelten zwölf Schwarze Frauen im Rahmen einer Konferenz zur Gesundheitsreform in Chicago das Konzept reproduktiver Gerechtigkeit (reproductive justice), das reproduktive Rechte (reproductive rights) und soziale Gerechtigkeit (social justice) miteinander verbindet.
Der lange Schatten der Bevölkerungspolitik
Auch Deutschland hat eine lange Tradition menschenverachtender Bevölkerungspolitiken.
Die ideologische Mischung von Vererbungslehre, Sozialdarwinismus und Rassenideologie war nicht neu. Schon das Deutsche Kaiserreich war geprägt von großen Degenerationserzählungen, wonach der erwünschten gesunden, weißen deutschen Familie durch die Zunahme von „Erbkrankheiten“, die „Vermischung“ mit oder Ausbreitung von „niederen Rassen“ und durch Alkoholismus oder mangelnden Arbeitswillen der „Unterschicht“ die Verdrängung beziehungsweise der Untergang drohe. Auch in der Weimarer Republik wurden „rassenhygienische“ und eugenische Vorstellungen in allen politischen Lagern, von völkisch-national bis emanzipatorisch, vertreten. Rassistisch begründete oder als „Euthanasie“ verharmloste Massenmorde an nicht-weißen oder behinderten Menschen wurden offen propagiert – nicht selten als „Wissenschaft“ deklariert und untrennbar verbunden mit der Förderung der „richtigen“ Familie.
Manche dieser bevölkerungspolitischen Ansichten und Praktiken setzten sich auch nach 1945 fort: Die Vergabe von Verhütungsmitteln mit dem Effekt der Sterilisation an Frauen mit Behinderungen ohne deren Einverständnis geschieht auch heute noch, faktisch sterilisierende geschlechtsanpassende Operationen an intergeschlechtlichen Kleinkindern sind erst seit 2021 grundsätzlich verboten. Bis 2011 mussten sich Trans*-Personen sterilisieren lassen, wenn sie ihren Geschlechtseintrag ändern wollten. Geflüchtete Frauen, Migrantinnen und Schwarze Menschen erleben unprofessionelle oder gar schädigende medizinische Behandlungen. Sinti*zze und Rom*nja werden regelmäßig Leistungen der Familienförderung vorenthalten, Menschen mit Behinderungen erhalten oft nicht die notwendige Elternassistenz, und gleichgeschlechtliche Paare haben es nach wie vor schwer, als Eltern anerkannt zu werden.
Reproduktive Menschenrechte
Artikel 16 (e) der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) und Artikel 23 Absatz 1 (b) der UN-Behindertenrechtskonvention (CRPD) garantieren explizit das Recht von Frauen und Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersabstand ihrer Kinder sowie die hierfür notwendigen Informationen und Mittel.
Menschenrechtliche Verpflichtungen haben stets drei Dimensionen: Achtung, Schutz und Gewährleistung (respect, protect, fulfil). Der Staat muss also das Recht auf reproduktive Gesundheit achten und darf sich grundsätzlich nicht in reproduktive höchstpersönliche Entscheidungen einmischen, erst recht nicht auf diskriminierende Art und Weise. Er muss reproduktive Rechte vor Angriffen und Eingriffen durch staatliche Stellen oder private Dritte schützen, aber auch vor unsachgemäßer oder unterlassener medizinischer Versorgung aufgrund von Vorurteilen oder fehlenden Ressourcen. Und er muss aktiv Maßnahmen ergreifen, um reproduktive Gesundheit für alle Menschen zu gewährleisten.
Alle UN-Menschenrechtsverträge haben in Deutschland gemäß Artikel 59 Absatz 2 Grundgesetz (GG) innerstaatliche Verbindlichkeit erlangt. Gesetzgeber, Regierungen, Verwaltungen und Gerichte müssen sie als Bestandteil der deutschen Rechtsordnung beachten und anwenden. Zugleich gelten die Menschenrechtsverträge als internationales Recht weiter; das gesamte deutsche Recht, einschließlich des Grundgesetzes, ist in ihrem Lichte auszulegen und zu praktizieren. Faktisch jedoch ist der deutsche Rechtsdiskurs nur wenig menschenrechtsfreundlich ausgestaltet – insbesondere die Spruchpraxis der UN-Menschenrechtsausschüsse wird häufig ignoriert. Damit werden nicht nur reproduktive (Menschen-)Rechte, sondern auch zentrale Garantien unserer Verfassung missachtet.
Gleiche Freiheit und ihre Voraussetzungen
Reproduktive Rechte sind im Grundgesetz durch das Recht auf Gesundheit und Freiheit, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung, Menschenwürde und Gleichheit, Familienschutz und körperliche Integrität gesichert. Doch die umfassenden Gewährleistungen werden kaum entfaltet.
Traditionell war der deutsche Rechtsdiskurs von einem liberalistischen Verständnis geprägt, das allein Freiheit vom Staat postulierte und das vorgebliche Vorhandensein von Freien und Gleichen als unhinterfragten und entkontextualisierten Maßstab setzte. Damit wurden hauptsächlich die Freiheiten eher überschaubarer privilegierter Gruppen geschützt. Die (zu Recht) gelobten Freiheitsrechte des Grundgesetzes gewinnen jedoch erst dann an Kontur und Substanz, wenn nach ihren Voraussetzungen und nach Konzepten gleicher Freiheit gefragt wird. Die Berücksichtigung der Bedingungen individueller Freiheitsrechte, wie sie seit einigen Jahren in Teilen des deutsch(sprachig)en Rechtsdiskurses erfolgt, ist deshalb sehr zu begrüßen.
Die individuelle Freiheit vom Staat wird angesichts struktureller sozialer Ungleichheiten ergänzt um die Verantwortung des Staates für gleiche Freiheit, damit diese nicht zur leeren Phrase wird. Da das Grundgesetz keine ausbuchstabierten sozialen Rechte kennt, sichert dieser Zugriff die tatsächliche Wirksamkeit von Freiheitsrechten – auch für bislang ausgeschlossene und diskriminierte Gruppen. Zugleich nähert sich die Grundrechtsdogmatik damit der menschenrechtlichen Pflichtentrias an, nach der es eben nicht genügt, dass der Staat Freiheitsrechte nicht selbst verletzt. Er muss auch vor Verletzungen durch Dritte schützen sowie die faktischen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten diskriminierungsfrei gewährleisten. Reproduktive Rechte beruhen nicht nur auf Selbstbestimmung und Autonomie, sondern betreffen auch Gleichberechtigung und Menschenwürde, Antidiskriminierung und Schutz der Familie.
Gleichberechtigung
Das Grundrecht auf Gleichberechtigung in Artikel 3 Absatz 2 GG musste erst erkämpft werden, denn die Väter des Grundgesetzes fürchteten um ihr patriarchales Familienrecht. Immer wieder mahnte das Bundesverfassungsgericht die Beachtung dieser „echten Rechtsnorm“ an. Doch noch Ende der 1980er Jahre hatte die Bundesrepublik im westeuropäischen Vergleich ein erhebliches Modernisierungsdefizit in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse:
Im Zuge der Deutschen Einheit brachten Millionen neuer Staatsbürger*innen andere Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse ein. Das alte bundesrepublikanische System, das sich selbst als umfassend überlegen begriff, geriet unter Druck. Der Konflikt kulminierte nicht in Fragen der Kinderbetreuung oder des Gesundheitssystems, sondern im Streit über den Schwangerschaftsabbruch. Im Koalitionsvertrag der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR wurden parteiübergreifend „umfangreiche Beratungs-, Aufklärungs- und Unterstützungsangebote sowie kostenlose Bereitstellung der Kontrazeptiva für Frauen bei Beibehaltung der Fristenregelung“ vereinbart. Nach Artikel 31 Absatz 4 des Einigungsvertrages galt daher ab 1990 in den alten Bundesländern die Indikationenregelung, in den neuen Ländern die Fristenregelung.
In der Nacht vom 25. auf den 26. Juni 1992 beschloss der Deutsche Bundestag dann mit klarer Mehrheit den gesamtdeutschen Kompromiss einer Fristenregelung mit Beratungspflicht. Dies hätte der Startschuss für eine gesamtdeutsche Modernisierung reproduktiver Rechte und Gleichberechtigung insgesamt sein können, doch das Gegenteil trat ein. Die beschlossene Regelung kam nie zur Anwendung, sondern wurde 1993 durch das Bundesverfassungsgericht – mit fünf zu drei Stimmen – für verfassungswidrig erklärt. Der westdeutsche Rechtsdiskurs, nahezu ausschließlich von männlichen Juristen geführt, konzipierte den Schwangerschaftsabbruch als Tötungsdelikt statt als medizinische Dienstleistung; Grundrechte der Schwangeren wurden ignoriert oder als „hedonistische Selbstverwirklichung“ gegen die „natürliche Bestimmung“ zur Mutterschaft verunglimpft; Forderungen nach Gleichberechtigung wurden pauschal zu „DDR-Unrecht“ erklärt.
Wer die seit 1995 geltende Fassung der §§218ff. StGB als „Kompromiss“ bezeichnet, verfälscht die Geschichte. Dies ist nur die mit großer Verspätung und knapper parlamentarischer Mehrheit erfolgte Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit welcher der über Monate umstrittene und am 26. Juni 1992 errungene große Kompromiss gekippt wurde. Nebenbei wurde auch die Gleichstellung von Frauen auf unbestimmte Zeit vertagt.
Bis heute zeigen die fortwährende Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen (Gender Pay Gap), die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit, die sinkende politische Beteiligung von Frauen oder die Zunahme geschlechtsbezogener Gewalt das Ausmaß der verpassten Chancen, im Zuge der Deutschen Einheit patriarchale Strukturen zu überwinden und bessere Bedingungen für die nächste Generation zu schaffen.
Menschenwürde
Die Menschenwürde steht am Anfang des Grundgesetzes, sie bindet und verpflichtet alle staatliche Gewalt. Mit ihr wird deutlich, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt – und dass niemand zum reinen Objekt staatlicher Politiken gemacht werden darf. Eine Formulierung wie in der Weimarer Reichsverfassung, wonach der Schutz der Ehe der „Erhaltung und Vermehrung der Nation dient“, ist damit ausgeschlossen. Reproduktive Rechte stehen nicht unter dem Vorbehalt staatlicher Nützlichkeitserwägungen und Bevölkerungspolitiken.
Damit kaum vereinbar ist die Annahme einer „Austragungspflicht“ für alle (auch ungewollt) Schwangeren, wie sie das Bundesverfassungsgericht 1993 postuliert hat. Vor der extrauterinen Lebensfähigkeit kann der Staat den Embryo oder Fötus nicht ohne oder gegen die Schwangere schützen, weil er ihn nicht wie ein Kind aus der Familie herausnehmen und durch staatlich Beauftragte versorgen lassen kann. Mit einer strafbewehrten Austragungspflicht macht der Staat die Schwangere zum Objekt der Erfüllung seiner Schutzpflichten. Diese Aufhebung des Subjektstatus von Schwangeren ist verfassungsrechtlich nicht begründbar.
Dabei ist das dystopische Potenzial noch gar nicht ausgeschöpft: Sind Schwangere und Embryo erst einmal juristisch getrennt und wird der Embryo entgegen der gesamten deutschen (und internationalen) Rechtsordnung
Antidiskriminierung
Seit 1949 ist in Artikel 3 Absatz 3 GG das Verbot der Diskriminierung aufgrund der „Rasse“ verankert. Gemeint waren und sind alle Erscheinungsformen von Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus. Obwohl rassistische Diskriminierung in Deutschland täglich geschieht, blieb das Diskriminierungsverbot über Jahrzehnte eine vergessene Norm. Doch rassistische Bevölkerungspolitiken wirken weiter. Geflüchtete Frauen erhalten keine reproduktive Gesundheitsversorgung, (potenzielle) Eltern mit Migrationsgeschichte keine Familienförderung. Da Rassismus und Armut oft eng verknüpft sind, leiden von Rassismus Betroffene auch vermehrt unter Einsparungen im Gesundheitssystem und bei Geburtshilfe, Nachsorge oder Mutterschutz. Reproduktive Gerechtigkeit und Antidiskriminierung aus Artikel 3 Absatz 3 GG sind untrennbar miteinander verbunden.
Obwohl das Grundgesetz in weiten Teilen als Antwort auf den Nationalsozialismus verstanden wird, war es lange Zeit ebenfalls blind für die Diskriminierung behinderter Menschen. Anstaltsmorde und Zwangssterilisationen wurden nach 1949 kaum öffentlich diskutiert, anerkannt oder gar entschädigt. Erst 1994 wurde der Schutz vor Benachteiligung wegen Behinderung in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG eingefügt. Dennoch erhielten Frauen mit Lernschwierigkeiten („geistige Behinderung“) weiter gesundheitsschädliche Verhütungsmittel, die zu ihrer Unfruchtbarkeit führten. Vom betreuenden Personal, Eltern oder Ärzt*innen wurden sie über diesen Effekt häufig nicht aufgeklärt oder sogar gezielt getäuscht, und der deutsche Staat ergriff keine effektiven Maßnahmen gegen diese menschenrechtswidrigen Zwangssterilisationen. Menschen mit Behinderungen wird oft auch die notwendige Elternassistenz verwehrt; Eltern von Kindern mit Behinderungen berichten über endlose Kämpfe um ihnen rechtlich zustehende Unterstützung, beständige Diskriminierung und erhebliche gesellschaftliche Feindseligkeit.
Die Entsolidarisierung wird verschärft durch die Fortentwicklung pränataler diagnostischer Methoden, die weniger auf therapierbare Erkrankungen zielen als auf das Auffinden von nicht heilbaren Krankheiten und Behinderungen.
In aktuellen Diskursen werden jedoch weniger substanzielle soziale Verbesserungen, eine Stärkung der Solidargemeinschaft oder eine kulturelle Abkehr von den Kontinuitäten eugenischer Diskriminierung und Vernichtung gefordert,
Ehe und Familie
Wer nach reproduktiven Rechten im Grundgesetz sucht, wird auch auf den „besonderen Schutz von Ehe und Familie“ stoßen. Obwohl die Abkehr von der Weimarer Formulierung zur „Erhaltung der Nation“ eindeutig ist, wurde und wird ein spezifischer Zusammenhang zwischen Ehe und Familie behauptet. Längst nicht mehr vertretbar ist die Position, dass nur die ehebasierte Familie geschützt sei, doch wird sie noch immer als „vollständigste“ Familienform gelobt. Weit mehr irritiert, dass sich trotz der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare 2017 hartnäckig die Behauptung hält, mit Ehe im Sinne des Grundgesetzes sei nur die verschiedengeschlechtliche Ehe gemeint, da nur diese auf Nachwuchs angelegt sei und damit zur Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft beitrage. Das ist grundrechtsdogmatisch wie tatsächlich in jeder Hinsicht abwegig.
Gleichwohl bereitet diese Argumentation den Boden für Diskriminierungen aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität.
Eine andere Frage ist, ob der besondere Schutz der Familie auch ein Grundrecht auf Familiengründung, gegebenenfalls auch durch Inanspruchnahme von reproduktionsmedizinischen Maßnahmen sowie deren Bereitstellung und Finanzierung, umfasst. Grundsätzlich gilt, dass die bestehende Familie besonders geschützt ist, nicht jeder Weg zu einer künftigen.
Demokratie und Rechtsstaat
Reproduktive Gerechtigkeit und reproduktive Menschenrechte verlangen einen erheblichen Einstellungswandel, Ressourcenumverteilung und neue Politiken. Und beide gehen davon aus, dass reproduktive Rechte die Grundlage sind für ein gutes Zusammenleben und eine demokratische Gesellschaft.
Der Ausschuss für die UN-Frauenrechtskonvention hat stets die Bedeutung reproduktiver Rechte für die Gleichberechtigung sowie die politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Teilhabe von Frauen betont. Gleiches gilt für andere diskriminierte Gruppen. Wer nicht über den eigenen Körper, die eigene Familiengründung, die eigene Zukunft entscheiden kann, wird kaum als mündige Person zu Fragen des Gemeinwesens mitreden dürfen oder können. Wer unentwegt darum kämpfen muss, ein Kind bekommen oder großziehen zu dürfen – oder kein Kind bekommen zu müssen –, wird kaum die Ressourcen besitzen, sich in anderen gesellschaftlichen oder politischen Fragen zu engagieren. Gewaltsame antinatalistische Politiken vernichten Zukunft, pronatalistische reproduktive Unterdrückung ist mit grundlegenden Ausschlüssen aus Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur verbunden.
Reproduktive Menschenrechte sind insofern ein genuin demokratisches Konzept. Sie achten alle Menschen als frei und gleich und stellen Mehrheitsentscheidungen unter den Vorbehalt von Nichtdiskriminierung und Minderheitenschutz. Sie erteilen menschenverachtenden Bevölkerungspolitiken eine Absage und beharren auf dem Grundsatz, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt. Die Beendigung reproduktiver Diskriminierung schafft erst die Grundlage für viele Menschen, sich auch aktiv für das Gemeinwesen einzubringen. Rechtspopulistische und rechtsextremistische Politiken versprechen, gesellschaftliche Probleme durch Ausschluss und insbesondere auch durch reproduktive Unterdrückung zu „lösen“. Dies ist nicht nur menschenverachtend, sondern auch kein zukunftsfähiges politisches Konzept. Erzwungene Gruppenhomogenität trägt zur Frage des künftigen Zusammenlebens nichts bei.
Wie wollen wir (zusammen) leben?
Reproduktive Grund- und Menschenrechte verlangen einen grundlegenden Wandel. Die Freiheit der Entscheidung, ein Kind zu haben oder (jetzt) kein (weiteres) Kind zu haben, wird zu einer komplexen gesellschaftlichen Aufgabe, wenn sie ohne Diskriminierung möglich und die hierfür notwendigen Einrichtungen, Dienste, Mittel und Informationen durch eine soziale Infrastruktur tatsächlich verfügbar sein müssen.
Hierzu gehört auch das Recht, Kinder in einer guten Umgebung aufzuziehen. Die vorgeburtliche Fixierung deutscher Debatten verstellt den Blick auf die Dimension des Zusammenlebens mit Kindern, obwohl diese Bedingungen auch erheblichen Einfluss auf reproduktive Entscheidungen haben. Zugleich bedeutet die effektive Bekämpfung reproduktiver Unterdrückung einen grundlegenden Wandel. Wenn es nicht mehr darum geht, andere Menschen zu bevormunden, zu verdrängen oder auszuschließen, rückt zwangsläufig die Frage in den Mittelpunkt, wie wir zusammenleben wollen. Reproduktive Rechte, Gesundheit und Gerechtigkeit werden erst langsam Teil unserer politischen, sozialen und rechtlichen Diskurse. Es wird Zeit, die Versprechen des Grundgesetzes auf Freiheit und Gleichheit zu erfüllen - und trotz allem Zukunft zu gestalten.