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Reproduktive Rechte als gleiche Freiheit | Reproduktive Rechte | bpb.de

Reproduktive Rechte Editorial Reproduktive Rechte als gleiche Freiheit Kleine Geschichte der modernen Reproduktionspolitik Vielstimmige Allianzen. Reproduktive Gerechtigkeit im Kontext deutscher Verhältnisse Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs? Zwei Perspektiven Plädoyer für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts Plädoyer für eine Ethik der Bezogenheit Reproduktive Gesundheit. Zwischen individuellen Ansprüchen und gesellschaftlichen Realitäten 30 Jahre Kairo-Konferenz. Sexuelle Selbstbestimmung im Spannungsfeld internationaler Bevölkerungs- und Entwicklungspolitik

Reproduktive Rechte als gleiche Freiheit

Ulrike Lembke

/ 16 Minuten zu lesen

Reproduktive Rechte sind ein voraussetzungsvolles Konzept, dessen Durchsetzung auch im deutschen Recht noch immer auf Widerstand stößt. Die mit ihm aufgeworfenen Fragen von Freiheit und Gleichheit gehen weit über die Frage des Schwangerschaftsabbruchs hinaus.

Bereits die Frauenbewegungen in Kaiserreich und Weimarer Republik erhoben politische Forderungen, wie wir sie heute mit dem Terminus „reproduktive Rechte“ verbinden: Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, angemessene Hebammenversorgung, Mutterschutz inklusive Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz, medizinische und finanzielle Unterstützung während der Schwangerschaft und nach der Geburt, unentgeltliche Kinderbetreuung von angemessener Qualität, Zugang zu Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüchen als Leistungen der Krankenhilfe, Gleichberechtigung der Frau in der Ehe sowie Nichtdiskriminierung unverheirateter Mütter und ihrer Kinder.

Viele dieser Forderungen wurden in der zweiten Frauenbewegung ab den 1960er Jahren („Das Private ist politisch!“) wieder aufgegriffen, etliche sind bis heute unerfüllt. Zugleich darf beim Blick auf die Geschichte feministischer Rechtskämpfe nicht übersehen werden, dass Kolonialrassismus und eugenische Vernichtungsfantasien seinerzeit nicht adressiert wurden. Sie waren selbst Bestandteil emanzipatorischer Rhetoriken und wurden normalisiert oder unsichtbar gemacht. Es bleibt eine der großen Herausforderungen, reproduktive Rechte gegen antinatalistische Ausgrenzung einerseits und gegen Unterdrückung durch einen pronatalistischen Zwang zur Mutterschaft andererseits zu formulieren. Die Konzepte reproduktiver Gerechtigkeit und reproduktiver Menschenrechte bieten hier wichtige Ansätze.

Reproduktive Gerechtigkeit: Freiheit für wen?

Reproduktive Rechte sind ein umfassendes Konzept. Mit ihnen verbinden sich nicht nur die oben genannten Forderungen, sondern auch sichere und gewaltfreie Geburten, Schutz und Unterstützung von schwangeren und stillenden Personen, das Verbot von Zwangssterilisationen, die Verhütung und Behandlung von Unfruchtbarkeit oder der Zugang zu altersgerechten und vertraulichen Informationen über sexuelle und reproduktive Rechte. Ebenfalls erfasst sind allgemein zugängliche Beratungsangebote, eine altersgerechte und zielgruppenorientierte Sexualpädagogik, eine reproduktive Gesundheitsversorgung ohne Diskriminierung aufgrund rassistischer Zuschreibung, Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus, die Elternassistenz für Menschen mit Behinderungen, die Anerkennung von Elternschaft unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung und eine inklusive Gesellschaft, in der Kinder gut aufwachsen können. Kurzum: Reproduktive Rechte sind umfangreich und voraussetzungsvoll – und berühren grundlegende Fragen des Zusammenlebens in demokratischen Gemeinwesen.

Dennoch fokussieren politische Auseinandersetzungen und die mediale Aufmerksamkeit immer wieder allein auf die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Das ist einerseits berechtigt, weil die Auferlegung einer Austragungspflicht, erzwungene Schwangerschaften und Zwangsgeburten fundamentale Eingriffe in die körperliche Integrität, Autonomie, Intimsphäre, Persönlichkeit und Zukunft der Betroffenen sind. Andererseits birgt eine solche Fokussierung die Gefahr, dass die Dimension antinatalistischer Repression ebenso verschwindet wie die Breite und Vielfalt reproduktiver Rechte.

In den USA hatten feministische Bewegungen in den 1970er Jahren erfolgreich das Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Recht auf Privatheit eingeklagt. Der Supreme Court folgte 1973 in seiner Grundsatzentscheidung Roe v. Wade der Argumentation, dass die Frage der Fortsetzung einer Schwangerschaft so höchstpersönlich sei, dass der Staat sich hier nicht einmischen dürfe. Aus Schwarzen emanzipatorischen Bewegungen wurde aber bereits früh kritisiert, dass der Kampf um eine individuelle und private Freiheit vom Staat überwiegend privilegierten weißen Frauen helfe. Ausgeblendet werde die reproduktive Unterdrückung von Menschen, die von Armut und Ausgrenzung, Rassismus oder intersektionaler Diskriminierung betroffen sind – und die sich Verhütungsmittel oder einen Schwangerschaftsabbruch entweder nicht leisten können oder umgekehrt daran gehindert werden, Kinder zu bekommen.

Im Juni 1994 entwickelten zwölf Schwarze Frauen im Rahmen einer Konferenz zur Gesundheitsreform in Chicago das Konzept reproduktiver Gerechtigkeit (reproductive justice), das reproduktive Rechte (reproductive rights) und soziale Gerechtigkeit (social justice) miteinander verbindet. Das Konzept umfasst auch den Schwangerschaftsabbruch, möchte ihm aber keinen politischen Vorrang vor dem Verbot von ungewollten Sterilisationen, der Garantie von Elternassistenz, Geburtshilfe oder Mutterschutz einräumen. Vielmehr geht es um die Diversität reproduktiver Interessen und Bedürfnisse, um die tatsächliche Ausübung reproduktiver Rechte durch marginalisierte und unterdrückte Gruppen – nicht um ein Recht, das sich manche leisten können und andere eben nicht – und um die solidarische politische Arbeit gegen Ausgrenzung, Abwertung, Benachteiligung und Verdrängung „unerwünschter“ Bevölkerungsgruppen.

Der lange Schatten der Bevölkerungspolitik

Auch Deutschland hat eine lange Tradition menschenverachtender Bevölkerungspolitiken. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden rassenideologisch erwünschte „arische“ Familien durch eine Vielzahl familienpolitischer Leistungen unterstützt, sofern sie nicht arm, krank oder „politisch unzuverlässig“ waren; der ideologische Kult um „die deutsche Mutter“ ging so weit, dass der Schwangerschaftsabbruch durch „arische“ Frauen sogar mit der Todesstrafe geahndet wurde. Zugleich wurden mit rassenideologischen Begründungen sechs Millionen europäische Jüdinnen*Juden, 500000 Sinti*zze und Rom*nja und 300000 Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten ermordet sowie ungefähr 400000 Menschen mit Behinderungen zwangssterilisiert.

Die ideologische Mischung von Vererbungslehre, Sozialdarwinismus und Rassenideologie war nicht neu. Schon das Deutsche Kaiserreich war geprägt von großen Degenerationserzählungen, wonach der erwünschten gesunden, weißen deutschen Familie durch die Zunahme von „Erbkrankheiten“, die „Vermischung“ mit oder Ausbreitung von „niederen Rassen“ und durch Alkoholismus oder mangelnden Arbeitswillen der „Unterschicht“ die Verdrängung beziehungsweise der Untergang drohe. Auch in der Weimarer Republik wurden „rassenhygienische“ und eugenische Vorstellungen in allen politischen Lagern, von völkisch-national bis emanzipatorisch, vertreten. Rassistisch begründete oder als „Euthanasie“ verharmloste Massenmorde an nicht-weißen oder behinderten Menschen wurden offen propagiert – nicht selten als „Wissenschaft“ deklariert und untrennbar verbunden mit der Förderung der „richtigen“ Familie.

Manche dieser bevölkerungspolitischen Ansichten und Praktiken setzten sich auch nach 1945 fort: Die Vergabe von Verhütungsmitteln mit dem Effekt der Sterilisation an Frauen mit Behinderungen ohne deren Einverständnis geschieht auch heute noch, faktisch sterilisierende geschlechtsanpassende Operationen an intergeschlechtlichen Kleinkindern sind erst seit 2021 grundsätzlich verboten. Bis 2011 mussten sich Trans*-Personen sterilisieren lassen, wenn sie ihren Geschlechtseintrag ändern wollten. Geflüchtete Frauen, Migrantinnen und Schwarze Menschen erleben unprofessionelle oder gar schädigende medizinische Behandlungen. Sinti*zze und Rom*nja werden regelmäßig Leistungen der Familienförderung vorenthalten, Menschen mit Behinderungen erhalten oft nicht die notwendige Elternassistenz, und gleichgeschlechtliche Paare haben es nach wie vor schwer, als Eltern anerkannt zu werden.

Reproduktive Menschenrechte

Artikel 16 (e) der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) und Artikel 23 Absatz 1 (b) der UN-Behindertenrechtskonvention (CRPD) garantieren explizit das Recht von Frauen und Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersabstand ihrer Kinder sowie die hierfür notwendigen Informationen und Mittel. Alle UN-Menschenrechtsausschüsse zählen reproduktive Rechte zum Kernbestand der Menschenrechte. Diese umfassen sowohl Aspekte der Selbstbestimmung und der reproduktiven Entscheidung frei von Gewalt, Zwang oder Diskriminierung als auch Ansprüche auf staatliches Tätigwerden und staatliche Leistungen im Sinne sozialer Infrastruktur, also das Vorhandensein von Ärzt*innen, Krankenhäusern, medizinischen Leistungen und Mitteln sowie Informationen

Menschenrechtliche Verpflichtungen haben stets drei Dimensionen: Achtung, Schutz und Gewährleistung (respect, protect, fulfil). Der Staat muss also das Recht auf reproduktive Gesundheit achten und darf sich grundsätzlich nicht in reproduktive höchstpersönliche Entscheidungen einmischen, erst recht nicht auf diskriminierende Art und Weise. Er muss reproduktive Rechte vor Angriffen und Eingriffen durch staatliche Stellen oder private Dritte schützen, aber auch vor unsachgemäßer oder unterlassener medizinischer Versorgung aufgrund von Vorurteilen oder fehlenden Ressourcen. Und er muss aktiv Maßnahmen ergreifen, um reproduktive Gesundheit für alle Menschen zu gewährleisten.

Alle UN-Menschenrechtsverträge haben in Deutschland gemäß Artikel 59 Absatz 2 Grundgesetz (GG) innerstaatliche Verbindlichkeit erlangt. Gesetzgeber, Regierungen, Verwaltungen und Gerichte müssen sie als Bestandteil der deutschen Rechtsordnung beachten und anwenden. Zugleich gelten die Menschenrechtsverträge als internationales Recht weiter; das gesamte deutsche Recht, einschließlich des Grundgesetzes, ist in ihrem Lichte auszulegen und zu praktizieren. Faktisch jedoch ist der deutsche Rechtsdiskurs nur wenig menschenrechtsfreundlich ausgestaltet – insbesondere die Spruchpraxis der UN-Menschenrechtsausschüsse wird häufig ignoriert. Damit werden nicht nur reproduktive (Menschen-)Rechte, sondern auch zentrale Garantien unserer Verfassung missachtet.

Gleiche Freiheit und ihre Voraussetzungen

Reproduktive Rechte sind im Grundgesetz durch das Recht auf Gesundheit und Freiheit, Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung, Menschenwürde und Gleichheit, Familienschutz und körperliche Integrität gesichert. Doch die umfassenden Gewährleistungen werden kaum entfaltet.

Traditionell war der deutsche Rechtsdiskurs von einem liberalistischen Verständnis geprägt, das allein Freiheit vom Staat postulierte und das vorgebliche Vorhandensein von Freien und Gleichen als unhinterfragten und entkontextualisierten Maßstab setzte. Damit wurden hauptsächlich die Freiheiten eher überschaubarer privilegierter Gruppen geschützt. Die (zu Recht) gelobten Freiheitsrechte des Grundgesetzes gewinnen jedoch erst dann an Kontur und Substanz, wenn nach ihren Voraussetzungen und nach Konzepten gleicher Freiheit gefragt wird. Die Berücksichtigung der Bedingungen individueller Freiheitsrechte, wie sie seit einigen Jahren in Teilen des deutsch(sprachig)en Rechtsdiskurses erfolgt, ist deshalb sehr zu begrüßen. Gehaltvolle Konzepte von Selbstbestimmung in Verbindung mit Nichtdiskriminierung und materialer Gleichheit sind auch innovativen rechtswissenschaftlichen Befassungen mit reproduktiver Autonomie zu verdanken.

Die individuelle Freiheit vom Staat wird angesichts struktureller sozialer Ungleichheiten ergänzt um die Verantwortung des Staates für gleiche Freiheit, damit diese nicht zur leeren Phrase wird. Da das Grundgesetz keine ausbuchstabierten sozialen Rechte kennt, sichert dieser Zugriff die tatsächliche Wirksamkeit von Freiheitsrechten – auch für bislang ausgeschlossene und diskriminierte Gruppen. Zugleich nähert sich die Grundrechtsdogmatik damit der menschenrechtlichen Pflichtentrias an, nach der es eben nicht genügt, dass der Staat Freiheitsrechte nicht selbst verletzt. Er muss auch vor Verletzungen durch Dritte schützen sowie die faktischen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten diskriminierungsfrei gewährleisten. Reproduktive Rechte beruhen nicht nur auf Selbstbestimmung und Autonomie, sondern betreffen auch Gleichberechtigung und Menschenwürde, Antidiskriminierung und Schutz der Familie.

Gleichberechtigung

Das Grundrecht auf Gleichberechtigung in Artikel 3 Absatz 2 GG musste erst erkämpft werden, denn die Väter des Grundgesetzes fürchteten um ihr patriarchales Familienrecht. Immer wieder mahnte das Bundesverfassungsgericht die Beachtung dieser „echten Rechtsnorm“ an. Doch noch Ende der 1980er Jahre hatte die Bundesrepublik im westeuropäischen Vergleich ein erhebliches Modernisierungsdefizit in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse: Staatliche Gleichstellungspolitiken existierten kaum, das Familienrecht war konservativ geprägt, die ökonomische Benachteiligung von Frauen eklatant, geschlechtsbezogene Gewalt wurde totgeschwiegen.

Im Zuge der Deutschen Einheit brachten Millionen neuer Staatsbürger*innen andere Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse ein. Das alte bundesrepublikanische System, das sich selbst als umfassend überlegen begriff, geriet unter Druck. Der Konflikt kulminierte nicht in Fragen der Kinderbetreuung oder des Gesundheitssystems, sondern im Streit über den Schwangerschaftsabbruch. Im Koalitionsvertrag der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR wurden parteiübergreifend „umfangreiche Beratungs-, Aufklärungs- und Unterstützungsangebote sowie kostenlose Bereitstellung der Kontrazeptiva für Frauen bei Beibehaltung der Fristenregelung“ vereinbart. Nach Artikel 31 Absatz 4 des Einigungsvertrages galt daher ab 1990 in den alten Bundesländern die Indikationenregelung, in den neuen Ländern die Fristenregelung.

In der Nacht vom 25. auf den 26. Juni 1992 beschloss der Deutsche Bundestag dann mit klarer Mehrheit den gesamtdeutschen Kompromiss einer Fristenregelung mit Beratungspflicht. Dies hätte der Startschuss für eine gesamtdeutsche Modernisierung reproduktiver Rechte und Gleichberechtigung insgesamt sein können, doch das Gegenteil trat ein. Die beschlossene Regelung kam nie zur Anwendung, sondern wurde 1993 durch das Bundesverfassungsgericht – mit fünf zu drei Stimmen – für verfassungswidrig erklärt. Der westdeutsche Rechtsdiskurs, nahezu ausschließlich von männlichen Juristen geführt, konzipierte den Schwangerschaftsabbruch als Tötungsdelikt statt als medizinische Dienstleistung; Grundrechte der Schwangeren wurden ignoriert oder als „hedonistische Selbstverwirklichung“ gegen die „natürliche Bestimmung“ zur Mutterschaft verunglimpft; Forderungen nach Gleichberechtigung wurden pauschal zu „DDR-Unrecht“ erklärt.

Wer die seit 1995 geltende Fassung der §§218ff. StGB als „Kompromiss“ bezeichnet, verfälscht die Geschichte. Dies ist nur die mit großer Verspätung und knapper parlamentarischer Mehrheit erfolgte Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit welcher der über Monate umstrittene und am 26. Juni 1992 errungene große Kompromiss gekippt wurde. Nebenbei wurde auch die Gleichstellung von Frauen auf unbestimmte Zeit vertagt.

Bis heute zeigen die fortwährende Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen (Gender Pay Gap), die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit, die sinkende politische Beteiligung von Frauen oder die Zunahme geschlechtsbezogener Gewalt das Ausmaß der verpassten Chancen, im Zuge der Deutschen Einheit patriarchale Strukturen zu überwinden und bessere Bedingungen für die nächste Generation zu schaffen.

Menschenwürde

Die Menschenwürde steht am Anfang des Grundgesetzes, sie bindet und verpflichtet alle staatliche Gewalt. Mit ihr wird deutlich, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt – und dass niemand zum reinen Objekt staatlicher Politiken gemacht werden darf. Eine Formulierung wie in der Weimarer Reichsverfassung, wonach der Schutz der Ehe der „Erhaltung und Vermehrung der Nation dient“, ist damit ausgeschlossen. Reproduktive Rechte stehen nicht unter dem Vorbehalt staatlicher Nützlichkeitserwägungen und Bevölkerungspolitiken.

Damit kaum vereinbar ist die Annahme einer „Austragungspflicht“ für alle (auch ungewollt) Schwangeren, wie sie das Bundesverfassungsgericht 1993 postuliert hat. Vor der extrauterinen Lebensfähigkeit kann der Staat den Embryo oder Fötus nicht ohne oder gegen die Schwangere schützen, weil er ihn nicht wie ein Kind aus der Familie herausnehmen und durch staatlich Beauftragte versorgen lassen kann. Mit einer strafbewehrten Austragungspflicht macht der Staat die Schwangere zum Objekt der Erfüllung seiner Schutzpflichten. Diese Aufhebung des Subjektstatus von Schwangeren ist verfassungsrechtlich nicht begründbar.

Dabei ist das dystopische Potenzial noch gar nicht ausgeschöpft: Sind Schwangere und Embryo erst einmal juristisch getrennt und wird der Embryo entgegen der gesamten deutschen (und internationalen) Rechtsordnung in seiner Rechtssubjektivität einem geborenen Kind gleichgestellt, sind nahezu unbegrenzte staatliche Zugriffe auf Körper, Persönlichkeit und Leben der Schwangeren eigentlich nur konsequent. In den USA sind bereits Drogen konsumierende oder zu „gefährlichem Verhalten“ neigende Schwangere staatlicher Kontrolle bis hin zu erzwungenem Gewahrsam unterstellt. Fortschreitende ärztliche Überwachung und Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt könnten ein staatlich durchzusetzendes Recht des Embryos auf pränatale Untersuchungen und pränatale Therapien unter Verzicht auf das Einverständnis der Schwangeren plausibel machen. Ein pränataler „Kindesschutz“ (oder vielmehr: staatlicher Embryonenschutz) könnte unbegrenzte staatliche Eingriffe ermöglichen; pränatale Sorgerechtsstreitigkeiten wären plötzlich ebenso denkbar wie eine Haftung der Mutter für postnatale Schäden des Kindes, wenn ihr ein „Fehlverhalten“ während der Schwangerschaft nachgewiesen werden kann.

Antidiskriminierung

Seit 1949 ist in Artikel 3 Absatz 3 GG das Verbot der Diskriminierung aufgrund der „Rasse“ verankert. Gemeint waren und sind alle Erscheinungsformen von Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus. Obwohl rassistische Diskriminierung in Deutschland täglich geschieht, blieb das Diskriminierungsverbot über Jahrzehnte eine vergessene Norm. Doch rassistische Bevölkerungspolitiken wirken weiter. Geflüchtete Frauen erhalten keine reproduktive Gesundheitsversorgung, (potenzielle) Eltern mit Migrationsgeschichte keine Familienförderung. Da Rassismus und Armut oft eng verknüpft sind, leiden von Rassismus Betroffene auch vermehrt unter Einsparungen im Gesundheitssystem und bei Geburtshilfe, Nachsorge oder Mutterschutz. Reproduktive Gerechtigkeit und Antidiskriminierung aus Artikel 3 Absatz 3 GG sind untrennbar miteinander verbunden.

Obwohl das Grundgesetz in weiten Teilen als Antwort auf den Nationalsozialismus verstanden wird, war es lange Zeit ebenfalls blind für die Diskriminierung behinderter Menschen. Anstaltsmorde und Zwangssterilisationen wurden nach 1949 kaum öffentlich diskutiert, anerkannt oder gar entschädigt. Erst 1994 wurde der Schutz vor Benachteiligung wegen Behinderung in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG eingefügt. Dennoch erhielten Frauen mit Lernschwierigkeiten („geistige Behinderung“) weiter gesundheitsschädliche Verhütungsmittel, die zu ihrer Unfruchtbarkeit führten. Vom betreuenden Personal, Eltern oder Ärzt*innen wurden sie über diesen Effekt häufig nicht aufgeklärt oder sogar gezielt getäuscht, und der deutsche Staat ergriff keine effektiven Maßnahmen gegen diese menschenrechtswidrigen Zwangssterilisationen. Menschen mit Behinderungen wird oft auch die notwendige Elternassistenz verwehrt; Eltern von Kindern mit Behinderungen berichten über endlose Kämpfe um ihnen rechtlich zustehende Unterstützung, beständige Diskriminierung und erhebliche gesellschaftliche Feindseligkeit.

Die Entsolidarisierung wird verschärft durch die Fortentwicklung pränataler diagnostischer Methoden, die weniger auf therapierbare Erkrankungen zielen als auf das Auffinden von nicht heilbaren Krankheiten und Behinderungen. Die Zulassung nicht-invasiver pränataler Bluttests als Kassenleistung etwa kommt einer faktischen pränatalen Selektion nahe. Auch Ärzt*innen, die sich grundsätzlich gegen Schwangerschaftsabbrüche positionieren, ändern mitunter ihre Meinung, wenn ein „auffälliger“ Befund vorliegt. Die Lebensbedingungen und sozialen Sicherungen für Familien mit behinderten Kindern sind dringend so zu verbessern, dass eine Entscheidung für ein Kind nicht mehr wesentlich von dieser Frage abhängt.

In aktuellen Diskursen werden jedoch weniger substanzielle soziale Verbesserungen, eine Stärkung der Solidargemeinschaft oder eine kulturelle Abkehr von den Kontinuitäten eugenischer Diskriminierung und Vernichtung gefordert, sondern Diskriminierung aufgrund von Behinderung wird nahezu ausschließlich als Argument gegen eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs angeführt. Dabei lässt sich das eine nicht gegen das andere ausspielen: Nichtdiskriminierung aufgrund von Behinderung und aufgrund von weiblichen reproduktiven Fähigkeiten gelten uneingeschränkt nebeneinander, wie zuletzt auch in einer gemeinsamen Erklärung der Ausschüsse für die UN-Frauenrechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonvention betont wurde.

Ehe und Familie

Wer nach reproduktiven Rechten im Grundgesetz sucht, wird auch auf den „besonderen Schutz von Ehe und Familie“ stoßen. Obwohl die Abkehr von der Weimarer Formulierung zur „Erhaltung der Nation“ eindeutig ist, wurde und wird ein spezifischer Zusammenhang zwischen Ehe und Familie behauptet. Längst nicht mehr vertretbar ist die Position, dass nur die ehebasierte Familie geschützt sei, doch wird sie noch immer als „vollständigste“ Familienform gelobt. Weit mehr irritiert, dass sich trotz der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare 2017 hartnäckig die Behauptung hält, mit Ehe im Sinne des Grundgesetzes sei nur die verschiedengeschlechtliche Ehe gemeint, da nur diese auf Nachwuchs angelegt sei und damit zur Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft beitrage. Das ist grundrechtsdogmatisch wie tatsächlich in jeder Hinsicht abwegig.

Gleichwohl bereitet diese Argumentation den Boden für Diskriminierungen aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität. Wird in die Ehe von zwei Frauen ein Kind geboren, so ist die nicht gebärende Ehepartnerin nicht automatisch Mutter, sondern muss nach derzeitiger Rechtslage ihr Kind adoptieren. Die Elternschaft von inter- oder transgeschlechtlichen Personen steht noch grundsätzlicher infrage. Für solche nach Artikel 3 Absatz 3 GG verbotenen Geschlechtsdiskriminierungen gibt es keinerlei Rechtfertigung, aber wie verbotene rassistische oder behindertenfeindliche Diskriminierung finden auch sie Rückhalt in Teilen der Gesellschaft.

Eine andere Frage ist, ob der besondere Schutz der Familie auch ein Grundrecht auf Familiengründung, gegebenenfalls auch durch Inanspruchnahme von reproduktionsmedizinischen Maßnahmen sowie deren Bereitstellung und Finanzierung, umfasst. Grundsätzlich gilt, dass die bestehende Familie besonders geschützt ist, nicht jeder Weg zu einer künftigen. Auch aus reproduktiven Menschenrechten ergibt sich kein Anspruch auf jede mögliche reproduktionsmedizinische Maßnahme. Einige solcher Maßnahmen betreffen zudem die Grundrechte Dritter, insbesondere bei der Leihmutterschaft. Insgesamt ist der Auffassung entgegenzutreten, es gebe ein Recht auf ein – überdies genetisch „eigenes“ und „gesundes“ – Kind. Allerdings: Wenn reproduktionsmedizinische Maßnahmen zur allgemeinen und rechtmäßigen Gesundheitsversorgung gehören, darf beim Zugang nicht diskriminiert werden.

Demokratie und Rechtsstaat

Reproduktive Gerechtigkeit und reproduktive Menschenrechte verlangen einen erheblichen Einstellungswandel, Ressourcenumverteilung und neue Politiken. Und beide gehen davon aus, dass reproduktive Rechte die Grundlage sind für ein gutes Zusammenleben und eine demokratische Gesellschaft.

Der Ausschuss für die UN-Frauenrechtskonvention hat stets die Bedeutung reproduktiver Rechte für die Gleichberechtigung sowie die politische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Teilhabe von Frauen betont. Gleiches gilt für andere diskriminierte Gruppen. Wer nicht über den eigenen Körper, die eigene Familiengründung, die eigene Zukunft entscheiden kann, wird kaum als mündige Person zu Fragen des Gemeinwesens mitreden dürfen oder können. Wer unentwegt darum kämpfen muss, ein Kind bekommen oder großziehen zu dürfen – oder kein Kind bekommen zu müssen –, wird kaum die Ressourcen besitzen, sich in anderen gesellschaftlichen oder politischen Fragen zu engagieren. Gewaltsame antinatalistische Politiken vernichten Zukunft, pronatalistische reproduktive Unterdrückung ist mit grundlegenden Ausschlüssen aus Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur verbunden.

Reproduktive Menschenrechte sind insofern ein genuin demokratisches Konzept. Sie achten alle Menschen als frei und gleich und stellen Mehrheitsentscheidungen unter den Vorbehalt von Nichtdiskriminierung und Minderheitenschutz. Sie erteilen menschenverachtenden Bevölkerungspolitiken eine Absage und beharren auf dem Grundsatz, dass der Staat um des Menschen willen da ist und nicht umgekehrt. Die Beendigung reproduktiver Diskriminierung schafft erst die Grundlage für viele Menschen, sich auch aktiv für das Gemeinwesen einzubringen. Rechtspopulistische und rechtsextremistische Politiken versprechen, gesellschaftliche Probleme durch Ausschluss und insbesondere auch durch reproduktive Unterdrückung zu „lösen“. Dies ist nicht nur menschenverachtend, sondern auch kein zukunftsfähiges politisches Konzept. Erzwungene Gruppenhomogenität trägt zur Frage des künftigen Zusammenlebens nichts bei.

Wie wollen wir (zusammen) leben?

Reproduktive Grund- und Menschenrechte verlangen einen grundlegenden Wandel. Die Freiheit der Entscheidung, ein Kind zu haben oder (jetzt) kein (weiteres) Kind zu haben, wird zu einer komplexen gesellschaftlichen Aufgabe, wenn sie ohne Diskriminierung möglich und die hierfür notwendigen Einrichtungen, Dienste, Mittel und Informationen durch eine soziale Infrastruktur tatsächlich verfügbar sein müssen.

Hierzu gehört auch das Recht, Kinder in einer guten Umgebung aufzuziehen. Die vorgeburtliche Fixierung deutscher Debatten verstellt den Blick auf die Dimension des Zusammenlebens mit Kindern, obwohl diese Bedingungen auch erheblichen Einfluss auf reproduktive Entscheidungen haben. Zugleich bedeutet die effektive Bekämpfung reproduktiver Unterdrückung einen grundlegenden Wandel. Wenn es nicht mehr darum geht, andere Menschen zu bevormunden, zu verdrängen oder auszuschließen, rückt zwangsläufig die Frage in den Mittelpunkt, wie wir zusammenleben wollen. Reproduktive Rechte, Gesundheit und Gerechtigkeit werden erst langsam Teil unserer politischen, sozialen und rechtlichen Diskurse. Es wird Zeit, die Versprechen des Grundgesetzes auf Freiheit und Gleichheit zu erfüllen - und trotz allem Zukunft zu gestalten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Schreibweise: Die Schreibung der Begriffe weiß und Schwarz soll deutlich machen, dass es sich um soziale (Herrschafts-)Konstruktionen handelt; die Irritation des Leseflusses ist beabsichtigt.

  2. Vgl. Loretta J. Ross/Rickie Solinger, Reproductive Justice. An Introduction, Oakland 2017, S. 9ff.; Zakiya Luna/Kristin Luker, Reproductive Justice, in: Annual Review of Law and Social Science 9/2013, S. 327–352. Siehe auch den Beitrag von Anthea Kyere und Susanne Schultz in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  3. Siehe auch die Beiträge von Roman Birke und Catherina Hinz in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  4. Vgl. mit vielen Nachweisen Ulrike Lembke, Familienrecht „ohne Geschlecht“? – Familienrecht ohne Geschlechtsdiskriminierung!, in: Anne Röthel/Bettina Heiderhoff (Hrsg.), Geschlecht im Familienrecht – eine überholte Kategorie?, Frankfurt/M. 2023, S. 87–196, hier S. 121ff.

  5. Vgl. Theresa Anna Richarz, The State’s Hands in Our Underpants. Rechtliche Regulierung von Reproduktion in Deutschland, in: Marie Fröhlich/Ronja Schütz/Katharina Wolf (Hrsg.), Politiken der Reproduktion, Bielefeld 2022, S. 47–67, m.w.N.

  6. Siehe auch den Beitrag von Daphne Hahn in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  7. Vgl. Ulrike Lembke, Reproduktive Selbstbestimmung und reproduktive Gerechtigkeit - ein intersektionaler Menschenrechtsansatz, in: GENDER 1/2024, S. 11–25.

  8. Vgl. Susanne Baer/Ute Sacksofsky (Hrsg.), Autonomie im Recht – Geschlechtertheoretisch vermessen, Baden-Baden 2018; Angelika Siehr, Das Recht am öffentlichen Raum. Theorie des öffentlichen Raumes und die räumliche Dimension von Freiheit, Tübingen 2016.

  9. Vgl. Andrea Büchler, Reproduktive Autonomie und Selbstbestimmung. Dimensionen, Umfang und Grenzen an den Anfängen menschlichen Lebens, Basel 2017; Laura Anna Klein, Reproduktive Freiheiten, Tübingen 2023.

  10. Vgl. Ute Gerhard, Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik, Frankfurt/M.–New York 2018, S. 293ff., m.w.N.

  11. Vgl. Ulrike Lembke, Verpasste Modernisierung. Die Konsolidierung patriarchaler Staatlichkeit in juristischen Diskursen über die gesamtdeutsche Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs 1990 bis 1993, in: Ariadne 77/2021, S. 182–203.

  12. Nach §1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt. Dies gilt ausnahmslos; so fingiert §1923 Absatz 2 BGB nicht etwa eine Erbfähigkeit des Fötus, sondern umgekehrt den Eintritt des Erbfalls erst nach der Geburt. Überlegungen zu einem pränatalen Sorgerecht sind daher grober Unfug. Schon die gegenüber §211ff. eigenständige Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in §§218ff. StGB belegt, dass die Geburt eine wesentliche rechtliche Zäsur ist. Und auch die UN-Kinderrechtskonvention ist kein Embryonenschutzvertrag, sondern gilt allein für (geborene) Kinder.

  13. Vgl. Büchler (Anm. 9), S. 94ff.

  14. Vgl. Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, Externer Link: http://www.netzwerk-praenataldiagnostik.de.

  15. Vgl. Dagmar Herzog, Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte, Berlin 2024.

  16. Vgl. Kirsten Achtelik, Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Berlin 2015.

  17. Vgl. Lembke (Anm. 4), S. 109ff., S. 117ff., S. 126ff.

  18. Lesenswert aber: Maren Klein, Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Verbots der Eizellspende mit dem Argument des Schutzes des Kindeswohls, Berlin 2019.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Ulrike Lembke für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Freie Rechtswissenschaftlerin und Expertin für rechtliche Geschlechterstudien. Von 2009 bis 2023 war sie Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Universität Hamburg, der Fernuniversität in Hagen und der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2020 ist sie Richterin des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin.