Für den Januar 2021 planen der Deutsche Bundestag und die Französische Nationalversammlung ein gemeinsames Treffen im Schloss von Versailles, 150 Jahre nach der Proklamation des Deutschen Kaiserreiches. Während die Deutschen mit der Reichsgründung der Welt zu verstehen gegeben hatten, dass mit der Einheit nun ein alternativloser Weg zu seinem glücklichen Ende gekommen sei, hatte Frankreich seine dominierende politische Stellung in Europa und den Glauben an sich selbst verloren. Versailles galt fortan als Ort der französischen Demütigung und entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten zum Kristallisationspunkt für die deutsch-französische "Erbfeindschaft",
Heute wird der Deutsch-Französische Krieg oftmals als "vergessener Konflikt" bezeichnet, dominieren die Erinnerung in Deutschland und Frankreich doch die Kriege des 20. Jahrhunderts. Nichtsdestotrotz finden sich in beiden Ländern zahlreiche Spuren dieses ersten industriellen Krieges,
Im Folgenden wird die Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg in vergleichender Perspektive beleuchtet, jedoch auch nach Interaktionen zwischen den Erinnerungspraktiken in beiden Ländern gefragt. Unweigerlich kommt dem Schloss von Versailles eine zentrale Rolle zu, das ein deutsch-französischer Gradmesser für den konkurrierenden beziehungsweise geteilten Umgang mit der Vergangenheit in den letzten 150 Jahren war.
Deutschland: Erinnerungskonkurrenz zwischen Krieg und Reichsproklamation
Der Sieg über Frankreich nahm in den ersten Jahren nach der Reichsgründung einen zentralen Platz in der deutschen Erinnerungskultur ein. Zwischen 1871 und 1898 erschienen ungefähr 7000 historische Arbeiten zum Deutsch-Französischen Krieg.
Die Berliner Siegessäule mit der Siegesgöttin Viktoria wurde symbolträchtig zum dritten Jahrestag des Sieges in Sedan (1873) eingeweiht. Dieses erste Nationaldenkmal sollte an die drei Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870/71 erinnern, liest sich jedoch vor allem, nicht zuletzt durch das Mosaik von Anton von Werner, als Warnung vor der immerwährenden französischen Gefahr. In der Kontinuität der "Befreiungskriege" gegen Napoleon positionierte er das Reich in einer nationalhistorischen Perspektive als neue "Wacht am Rhein" und fügte dem Konstrukt der "Erbfeindschaft" einen weiteren Mosaikstein hinzu.
Wie sich auch am Niederwalddenkmal ablesen lässt (1883), konkurrierte das Gedenken an den Sieg gegen Frankreich rasch mit der Erinnerung an die Reichseinigung (Abbildung). Sie kam zum einen in einer großen Anzahl von Bismarck-Türmen und -Säulen (240) zum Ausdruck, zum anderen in Denkmälern für Kaiser Wilhelm I., wie zum Beispiel im monumentalen Reiterstandbild am Deutschen Eck in Koblenz (1897). Symptomatisch waren auch die Erinnerungsarbeiten von Künstlern und Schriftstellern, so etwa der "Kaisermarsch" von Richard Wagner ("… Als mit Dir wir Frankreich schlugen! Feind zum Trutz, Freund zum Schutz! Allem Volk das Deutsche Reich, zu Heil und Nutz!"), der Blick von Gustav Freytag auf die Reichsgründung als Beginn einer neuen Ära oder das "Triumphlied" (1871) von Johannes Brahms als Ausdruck des Wunsches nach nationaler Einheit.
Eine symbolische Wandlung vollzog sich auch in der Inszenierung des Sedantags nach 1890, der unter Wilhelm I. noch ein Ehrentag der Armee gewesen war. Unter dem neuen Kaiser Wilhelm II. ging der direkte Bezug zur siegreichen Schlacht zunehmend verloren; nationalistische Überheblichkeit, angriffslustiges Gebaren, imperiale Machtansprüche und ein Gefühl der militärischen Unbezwingbarkeit prägten nun die Feierlichkeiten, die ein Abbild der wilhelminischen Kultur waren.
Gleichzeitig war nach der Jahrhundertwende festzustellen, dass die emotionale Aufladung des Deutsch-Französischen Krieges nachließ und die gesellschaftliche Mobilisierung für den Sedantag zunehmend abebbte. Die patriotischen Jubelszenen des Wilhelminismus verdeckten diese Entwicklung jedoch, genauso wie die Widerstände in den süddeutschen Regionen gegen die Feierlichkeiten am Sedantag, war doch der Argwohn gegenüber der preußischen Dominanz im Reich noch lange nicht verschwunden. Auch der "Kulturkampf" gegen die Katholiken und die gesellschaftliche Ausgrenzung der Sozialdemokraten ließen große Bevölkerungsgruppen in mentaler Distanz zur offiziellen Erinnerungspolitik. Mögen auch die Bilder des Hurrapatriotismus bis heute den Blick dominieren, so war die Erinnerungslandschaft des Kaiserreichs doch heterogener als vielfach angenommen und einem permanenten Wandel unterworfen.
Frankreich: Verarbeitung multipler Traumata
Wer sich heute an einen Essenstisch in Frankreich setzt, kann bisweilen den augenzwinkernd dahingesagten Satz hören "Noch ein Käse, den die Preußen uns nicht klauen" (während der Besatzungsjahre im Ersten und Zweiten Weltkrieg erlebte der Satz eine Aktualisierung).
Da Front und Heimatfront in diesem Konflikt zusammengerückt und aufeinander bezogen waren,
Besonders schmerzhaft war für die Franzosen der Verlust von Elsass-Lothringen, dessen innere Verbundenheit mit Frankreich in großer medialer Vielfalt thematisiert wurde. Bis heute legendär sind die Abbildungen von der traurigen "Elsa" als Personifikation des Elsass’ (oftmals in Ketten dargestellt), die von der nationalen Allegorie "Marianne" getröstet wird oder sich an einen französischen Soldaten klammert. Doch auch Autoren wie Maupassant, Zola und Flaubert thematisierten die Besetzung und Annexion der beiden Provinzen. Sie zeichnen mit bisweilen rassistischen Anklängen das "Bild vom hässlichen brutalen Sieger",
Dass Elsass-Lothringen unrechtmäßig annektiert worden sei und von der jungen Generation zurückgewonnen werden müsse, wurde den Schülern vor allem in den französischen Grundschulen vermittelt. Neben anderen Lehr- und Lesebüchern ist hier das von Augustine Fouillée (Pseudonym: G. Bruno) 1877 verfasste Werk "Le Tour de la France par deux enfants" zu nennen, das die jungen Franzosen an die Verbundenheit der beiden verloren gegangenen Provinzen mit dem Mutterland erinnern sollte. In dem Buch beginnen die beiden Kinder (Allegorie für Elsass und Lothringen) ihre Frankreichrundfahrt im lothringischen Phalsbourg, bei der sie die historischen, geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundlagen Frankreichs kennenlernen. Das Buch prägte Generationen, erfuhr es doch bis 1914 eine Auflage von 7,4 Millionen Exemplaren und wurde im Unterricht bis in die 1950er Jahre eingesetzt.
So verwirft auch die heutige Forschung die These, dass der französische Revanchegedanke bis 1914 wachgehalten wurde und maßgeblich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beigetragen habe. Nur eine kleine nationalistische Minderheit der Franzosen habe in einen neuen Krieg ziehen wollen, während sich die große Mehrheit zunehmend und stillschweigend in den Verlust von Elsass-Lothringen gefügt habe (Léon Gambetta: "Immer daran denken, nie davon sprechen"). Die mit der Niederlage einhergehenden Konsequenzen wurden zwar als eine tiefe patriotische Wunde empfunden, aber der Rückgewinn dieser Provinzen wurde in eine ferne Zukunft verschoben. Der folgende Satz des sozialistischen Politikers Jean Jaurès trifft dieses Denken sehr zutreffend: "Weder Krieg noch Verzicht".
Die Differenzierung des Revanchegedankens geht mit der Beobachtung einher, dass das blutige Ende des Zweiten Kaiserreichs und der Beginn der Dritten Französischen Republik, die zwei Tage nach der Niederlage in Sedan ausgerufen worden war, die französische Gesellschaft auf Jahre spalten sollte. Parallel zu den Friedensverhandlungen brach am 18. März 1871 die Pariser Kommune aus, bei der sich die bürgerliche Regierung den revolutionären Forderungen von Sozialrevolutionären und Sozialisten gegenübersah. Regierungstruppen rangen im Mai 1871 schließlich die "Communards" in verlustreichen Straßenkämpfen nieder. Über 20.000 Kommunarden wurden erschossen, über 10.000 kamen ins Gefängnis oder wurden zu Zwangsarbeit in den Überseeterritorien verurteilt.
Die wechselseitige Perzeption reduzierte sich nach 1871 jedoch nicht auf Stereotype und Hasstiraden. Die durch die Besatzung erfolgte Nähe und die daraus entstandene Möglichkeit zur Beobachtung bewogen nicht wenige Franzosen, vom Gegner lernen zu wollen.
Deutschland und Frankreich: Von geteiltem Leid und gemeinsamer Trauer
Der Krieg durch das Prisma der militärischen und propagandistischen Mobilisierung verstärkt das Bild vom deutsch-französischen Antagonismus, der Fokus auf die Trauer in beiden Gesellschaften lenkt den Blick hingegen eher auf die gemeinsamen Wunden. Die Zahl der Kriegstoten gibt einen Hinweis auf die Dimension der beidseitigen Verluste, während uns die Beschäftigung mit den Ritualen, Symbolen und Denkmälern einen Eindruck von der Verarbeitung der Kriegstrauer bietet. Angesichts der neuen Massenheere (Frankreich 900.000 Soldaten, Deutschland 1.200.000) und der bisher nicht gekannten Feuerkraft der Waffen ließ sich u.a. ein Wandel im Umgang mit den Toten beobachten. Wurden sie in früheren Epochen zumeist auf den Schlachtfeldern zurückgelassen oder notdürftig verscharrt, bemühten sich die Familien angesichts des Massensterbens auf beiden Seiten, die sterblichen Überreste in die Heimat zurückzuholen und sie würdig zu begraben.
Anerkennung wurde nun nicht mehr nur den furchtlosen Armeen entgegengebracht, sondern auch dem toten Individuum – und nicht nur den Offizieren. Für die Überlebenden wurde es zur patriotischen Pflicht, den Gefallenen wie auf dem Kriegerdenkmal in Hamburg-Rotherbaum zu gedenken: "Den tapferen Soehnen die dankbare Vaterstadt. 1870–1871". Diese Form heroischer Sinnstiftung fiel der deutschen Seite angesichts des Sieges zwangsläufig leichter, blieb den französischen Kommunen doch nur der patriotische Dank für den geleisteten Opfergang.
Die offizielle Geschichtspolitik des Kaiserreichs kannte nur die siegreichen Helden. Ausgeblendet blieben die Schrecken des Krieges wie das Leid beziehungsweise die Traumata der Invaliden, Überlebenden und Hinterbliebenen.
Legt der Vergleich die These von gemeinsamen Schicksalen nahe, so bietet die neu definierte deutsch-französische Grenzregion ein vielfältiges Bild wechselseitiger Bezogenheiten.
Die Verarbeitung der Trauer machte Elsass-Lothringen zu einem Kontaktraum, wie auch die 1887 gegründete Gesellschaft "Le Souvenir français" dokumentiert. Als eine französische Form der Kriegsgräberfürsorge wurde ihr im Reichsland erlaubt, lokale Abteilungen zu bilden, sich um die französischen Gräber zu kümmern und Denkmäler für die verstorbenen Soldaten zu errichten. Als die Gesellschaft jedoch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg subversiv antideutsche Ressentiments schürte, verboten die deutschen Behörden ihre Aktivitäten im Reichsland.
Versailles 1870/71: Auftakt zur deutsch-französischen "Erbfeindschaft" im 20. Jahrhundert?
"Die triumphalen Tage in Versailles in diesem Sommer [1919] können nicht nur als Lösegeld betrachtet werden, sondern auch als eine entfernte Folge der Ereignisse, die dort 1870, in den traurigen Monaten der preußischen Besatzung, stattfanden."
Diese Worte des französischen Historikers Albert Pingaud von 1919 verweisen auf den Grad der Demütigung, welche die Kaiserkrönung im Spiegelsaal von Versailles 1871 bei den Franzosen hinterlassen hatte. Die Zahl vergleichbarer Zitate ist Legion, sodass es heute seltsam anmutet, zu lesen, dass auf deutscher Seite vor allem pragmatische Gründe den Ausschlag bei der Wahl des Ortes gegeben hätten.
Den verantwortlichen Politikern auf deutscher Seite war Symbolik nicht fremd, sodass sie die Bedeutung des Schlosses von Ludwig XIV. nur schwerlich ignorieren konnten: "Es ist die monumentale und ornamentale Darstellung seiner Persönlichkeit, seiner Auffassung von königlicher Macht und damit auch seines Strebens nach einem mächtigen Frankreich."
Dass die Symbolik der "Machtdemonstration gegenüber Frankreich" diente,
Presse und Öffentlichkeit in Deutschland hatten die Wahl von Versailles mit patriotischer Befriedigung begleitet, doch war der Jubel nach der Kapitulation von Paris einige Tage später und dem abzusehenden Kriegsende spürbar stärker. So entwickelte sich das Schloss auch nicht zu einem Wallfahrtsort des deutschen Nationalismus, blieb Versailles doch – nicht zuletzt "wegen seiner Lage außerhalb des deutschsprachigen Raums" – ein "immaterieller, trockener Begriff".
Versailles 1919: Eine vertane Chance
"Der Sieger von 1871 war der Besiegte von 1919, und Versailles annullierte Frankfurt, beseitigte aber gleichzeitig das 1871 an gleicher Stelle geschaffene Reich."
Wie 1871 ließen sich für die Wahl des Ortes auch 1919 pragmatische Gründe anführen, residierte doch der Conseil Supérieur de la Guerre bereits seit November 1917 im Schloss. Dass es sich jedoch um eine "zweifache Revanche" handelte, wie es oben Jean-Claude Allain andeutet, belegen unzählige Aussagen von französischen Politikern aus dieser Zeit. Welche Bedeutung auch hier wieder der Symbolik zukam, verdeutlicht der Friedensschluss am 28. Juni 1919. Eckart Conze konstatiert, dass der deutschen Delegation im Vorfeld der Unterzeichnung des Versailler Vertrags "nichts erspart blieb",
In diese Kontinuität stellte sich auch Adolf Hitler, doch verbarg er hinter den revisionistischen Forderungen weitergehende expansionistische Bestrebungen, sodass er nach dem Sieg über Frankreich 1940 mit dem erinnerungspolitischen "Versailles-Ping-Pong" brach. Er ließ am 22. Juni 1940 jenen Eisenbahnwaggon aus dem Museum holen, in dem die Deutschen 1918 in Compiègne den Waffenstillstand unterzeichnen mussten. Damit wurde die deutsch-französische "Erbfeindschaft" durch einen weiteren Erinnerungsort "bereichert".
Versailles 2003: symbolische Überschreibung der "Erbfeindschaft"
Es gehört zur Geschichte der deutsch-französischen Verständigung nach 1945, dass Erinnerungsorte der deutsch-französischen "Erbfeindschaft" mit freundschaftlichen Gesten bzw. Bildern überschrieben wurden.
Bundeskanzler Gerhard Schröder wollte Versailles nicht auf 1871 und 1919 reduzieren und fügte eine weitere Erinnerungsschicht hinzu, um den Ort zu einem Symbol für gemeinsame Politik in Gegenwart und Zukunft zu machen: "Aber Versailles ist eben auch der Ort, der auf immer mit der Verkündung der allgemeinen Menschenrechte im Jahre 1789 verbunden bleiben wird. An jenen großen Augenblick der Geschichte knüpfen wir heute an."
Die vier Redner unternahmen mit unterschiedlichen Akzentuierungen den Versuch, Versailles als Ort der doppelten Erinnerung – Symbol einer zweifachen Demütigung und Quelle des Hasses – in einen positiven Ort der überwundenen "Erbfeindschaft" umzuwidmen.
Schluss
Versailles spiegelt wie vielleicht kein anderer Ort die Konjunkturen der deutsch-französischen Beziehungen seit dem 18. Jahrhundert. Es oszilliert zwischen dem Konstrukt der "Erbfeindschaft" und ihrer Überwindung. Versuchten Deutsche und Franzosen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch symbolisches Überschreiben historische Niederlagen auszulöschen, steht das Schloss heute für die gemeinsamen Anstrengungen von Politikern, Historikern und Geschichtslehrern, die Annäherung spürbar und anschaulich zu machen, aber auch die wechselvolle Geschichte der beiden Nationen gemeinsam aufarbeiten zu wollen. So ist es heute möglich, dass der Kriegsverlierer von damals den Sieger von 1870/71 nach Versailles einlädt.
Wie fruchtbar diese Transnationalisierung von Erinnerung und Geschichtsschreibung weiterhin ist, zeigt sich seit 2014 auch im "Museum des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 und der Annexionszeit" in Gravelotte bei Metz. Es reiht sich in die Liste der Museen ein, die wie das Historial de la Grande Guerre in Péronne (1992), das wiedereröffnete Mémorial de Verdun (2016) und das Historial franco-allemand du Hartmannswillerkopf (2017) die großen Konflikte des 20. Jahrhunderts in einer multiperspektivischen Gesamtschau präsentieren wollen. In dieser Dichte sind sie in Europa einzigartig und dienen als historische Lernorte für Versöhnungsprozesse zwischen ehemals verfeindeten Nationen. Sie befinden sich in Grenzregionen, die in der Vergangenheit schon "so oft unseren europäischen Herzschmerz verkörpert" haben,