Der Streit um die Deutung der Reichsgründung begann schon, bevor der neue deutsche Nationalstaat überhaupt proklamiert worden war. Im Dezember 1870 sandte das Parlament des Norddeutschen Bundes eine Abordnung nach Versailles, ins Hauptquartier der preußischen und verbündeten Truppen, die seit Monaten Paris belagerten. Offiziell war der Zweck dieser Aktion, den preußischen König aufzufordern, "durch die Annahme der deutschen Kaiserkrone das deutsche Einigungswerk zu weihen". Tatsächlich ging es darum, die Rolle der Volksvertretung in diesem "Einigungswerk" symbolisch aufzuwerten. Der Kaiserkrone sollte, wie es einer der Initiatoren des Unternehmens, der nationalliberale Abgeordnete Eduard Lasker, intern formulierte, "der populäre Ursprung aufgedrückt" werden.
Am 16. Dezember erreichten die 27 Parlamentarier das Hauptquartier. Doch dort ließ man sie erst einmal warten. Am Hof des Preußenkönigs Wilhelm herrschte die Furcht, "der Reichstag wolle den Fürsten die Kaiserfrage aus den Händen winden". Wilhelm hatte bereits erregt erklärt, "er wolle sich die Krone nicht vom Parlament anbieten lassen, sonst komme es auf den Fall von 1849 zurück, und das dürfe nicht sein".
Der König weigerte sich deshalb kategorisch, die parlamentarische Abordnung zu empfangen, ehe nicht die Zustimmung sämtlicher Fürsten zur Kaiserproklamation gegeben wurde. Erst nachdem diese eingetroffen war, fand Wilhelm sich dazu bereit, der Abordnung eine Audienz zu gewähren. Die verlief dann durchaus harmonisch, auch wenn man sich am Hof darüber mokierte, dass die Parlamentarier "in den primitivsten Wagen" vorfuhren. Allen Versuchen allerdings, den Volksvertretern einen Anteil an der Reichsgründung zuzubilligen, schob Wilhelm entschieden einen Riegel vor. Er nehme zwar, erklärte er in seiner Antwort auf die Ansprache des Führers der Parlamentsdeputation, den "Wunsch der deutschen Nation und ihrer Vertreter" wohlwollend und dankend zur Kenntnis. Die Grundlage für die Kaiserproklamation könne er aber "nur in der einmüthigen Stimme der deutschen Fürsten" sehen.
Bei der Proklamation Wilhelms zum Kaiser am 18. Januar 1871 waren die Parlamentarier denn auch nicht anwesend. Nach ihrer Audienz hatten die Volksvertreter unverrichteter Dinge wieder aus Versailles abreisen müssen. Keiner von ihnen wurde in den Spiegelsaal des Schlosses, wo die Zeremonie stattfand, eingeladen. Dort blieben Fürsten und aristokratische Militärs weitgehend unter sich. Symbolsprache und Ablauf des Festakts am 18. Januar sollten in jeder Hinsicht signalisieren, dass hier eine Kaisererhebung aus ausschließlich fürstlicher Machtvollkommenheit vorgenommen wurde. Die dabei gehaltenen Reden vermieden peinlich genau jedes Wort, das diese Aussage hätte infrage stellen können. Das "Volk" wurde allein als Adressat der Proklamation erwähnt, die Bismarck reichlich teilnahmslos und "mit hölzerner Stimme" verlas. Präsent war es allenfalls in Uniform, als einige von der Militärführung ausgesuchte Ordensträger unter den Mannschaften der verschiedenen Truppenteile. Der vom preußischen Kronprinzen eingeladene Künstler Anton von Werner wirkte als einer von ganz wenigen Zivilisten wie ein Fremdkörper.
Sechs Jahre später wurde im Berliner Schloss ein monumentales Gemälde von Werners enthüllt (Abbildung 1). Diese "Schlossfassung" der Kaiserproklamation war das erste aus einer ganzen Reihe von Bildern, in der der Künstler das Ereignis des 18. Januar 1871 dargestellt hat. Am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört, zeigte es im Stil des fotografischen Realismus den Moment, in dem der badische Großherzog den preußischen König Wilhelm zum Kaiser ausrief. Anders als in der erhaltenen, späteren "Friedrichsruher Fassung" (Abbildung 2), die heute als ikonische Darstellung der Reichsgründung schlechthin gilt, befanden die Fürsten sich in der "Schlossfassung" allerdings im Hintergrund des Bildes, und Bismarck stand hier nicht im Zentrum. Tatsächlich wurde in der ersten Fassung des Gemäldes der Blick auf keinen der mehr als hundert porträtierten Teilnehmer an der Kaiserproklamation gelenkt, die irgendwelche "historische" Bedeutung beanspruchen können.
Wenn es eine Person gab, die in dem Bild die Augen des Betrachters auf sich zog, war es am ehesten die Figur eines frei stehenden Soldaten der preußischen Garde in auffällig weißer Uniform am Fuß der Stufen zur Fürstenempore. Außer ihm waren noch vier andere Personen auf dem Bild dargestellt, die weder Fürsten noch hohe Offiziere sind. Links unten standen zwei weitere preußische Gardesoldaten in ebenfalls auffällig weißen Uniformen auf zwei Treppenstufen, die zum eigentlichen Boden des Saals hinaufführen – und die es im Spiegelsaal des Versailler Schlosses in Wahrheit gar nicht gibt. Rechts unten bildeten zwei Soldaten in bayerischen Uniformen das Gegenstück dazu. Diese einfachen Soldaten teilten die Sicht der Betrachter des Gemäldes, die geradezu zwischen ihnen stehen.
Abbildung 2: Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, Friedrichsruher Fassung (© picture-alliance/akg)
Abbildung 2: Anton von Werner, Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches, Friedrichsruher Fassung (© picture-alliance/akg)
Der Künstler Anton von Werner integrierte damit technisch ebenso geschickt wie diplomatisch raffiniert das weitgehend von der Zeremonie am 18. Januar 1871 ausgeschlossene "Volk" als Soldaten und Betrachter. Gleichzeitig erfüllte er aber auch die Erwartungen der fürstlichen Stifter des Bildes und der in Versailles anwesenden Aristokraten und hohen Offiziere. Im wahrsten Sinne des Wortes malte von Werner mit der ersten Fassung seiner "Kaiserproklamation" von 1877 das Bild einer "Reichseinigung". Bayern wie Preußen, Vertreter des "Volks" wie der Eliten jubelten darin einmütig dem Kaiser begeistert zu. Diese Darstellung entsprach zunächst den Idealen der liberalen Nationalbewegung. Ihr stand von Werner ebenso nahe wie seine Patrone und Auftraggeber, der Großherzog von Baden und der preußische Kronprinz. Für große Teile der alten aristokratischen Führungsschichten war sie durchaus akzeptabel. In der "liberalen Ära" der 1870er Jahre bildete diese integrale Geschichtskonstruktion den Hintergrund für die Politik, mit der die äußerliche Einigung der Nation im Innern fortgesetzt wurde.
Mythisierung Bismarcks zum "Reichsgründer"
Mit dem Ausklang der "liberalen Ära" Ende der 1870er Jahre bekam das Narrativ von der Reichsgründung als Gemeinschaftswerk der Nation allerdings schon wieder Risse. Von vornherein hatte es in Konkurrenz zu Deutungen gestanden, die stattdessen die Rolle von Einzelpersonen betonten. Anton von Werners "Friedrichsruher Fassung" der Kaiserproklamation von 1885, die Bismarck als Blickfang in den Mittelpunkt rückte, reflektierte solche konkurrierenden Interpretationen.
Bismarcks Mythisierung zum "Reichsgründer" war jedoch kein Selbstläufer. Generalstabschef Helmuth von Moltke und Kaiser Wilhelm I. galten 1871 zunächst mindestens ebenso sehr als "Väter des Vaterlandes" wie der Reichskanzler. Besonders Moltke war wegen seines Anteils am militärischen Erfolg der "Reichseinigungskriege" von 1864, 1866 und 1870/71 zunächst ausgesprochen populär. Wenn Bismarck ihn in der Folgezeit ausstach, mochte das zum Teil mit der ausgeprägten Neigung des Kanzlers zur Selbstinszenierung zusammenhängen. Dem "großen Schweiger" Moltke fehlte im neugegründeten Deutschen Reich, das jahrzehntelang keine Kriege führte, aber auch schlicht eine Bühne.
Im übertragenen wie im einfachen Wortsinn wirklich auf den Denkmalsockel des Nationalhelden gehievt wurde der Kanzler freilich erst nach dem Abschied von der Macht 1890 und seinem Tod acht Jahre später. Noch die mehrbändige Darstellung der deutschen Nationalstaatsgründung, die der Historiker Heinrich von Sybel Anfang der 1890er Jahre veröffentlichte, erschien unter dem Titel "Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.". Erst danach lief Bismarck auch dem "Heldenkaiser" den Rang ab. Zwei Dinge gaben dafür den Ausschlag. Zum einen war es eher kontraproduktiv, dass sein gleichnamiger Enkel weder Kosten noch Mühen scheute, um den ersten Kaiser als "Wilhelm den Großen" im nationalen Gedächtnis zu verankern. Die zunehmende Unpopularität Wilhelms II. zog so auch das Andenken an seinen Großvater in Mitleidenschaft. Bismarck hingegen, als Reichskanzler und auch danach zu Lebzeiten noch heftig umstritten und vielfach angefeindet, wurde nach seinem Tod nicht zuletzt deswegen schnell verklärt, weil die Erinnerung an ihn gegen den amtierenden Monarchen instrumentalisiert werden konnte.
Um die Jahrhundertwende wurde die Reichsgründung daher vollends zur "Geschichte Bismarcks", wie der Historiker Max Lenz ein 1902 erschienenes Buch zum Thema betitelte. Der überwiegend nationalliberal oder liberalkonservativ geprägten deutschen Geschichtswissenschaft und großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit galt die Entstehung des Deutschen Reiches nun als das Werk eines einzigen Mannes – des ersten Reichskanzlers. Erich Brandenburg goss diese personalisierende Interpretation mit seinem 1916 veröffentlichten Werk "Die Reichsgründung" in eine Form, die jahrzehntelang Bestand haben sollte.
Der Erste Weltkrieg und die Revolution von 1918 beendeten zwar das 1871 geschaffene Deutsche Kaiserreich. Der deutsche Nationalstaat überdauerte aber diese Erschütterungen, und mit ihm überdauerte auch der Kult um Bismarck als "Reichsgründer". Der Bismarck-Kult wandelte nach 1918 jedoch seine Funktion. Statt gegen Wilhelm II. wurde er nun gegen die Weimarer Republik instrumentalisiert.
Republiktreue Stimmen setzten dem kaum eine Interpretation des Kaiserreichs entgegen, das dieses in positive Kontinuitätslinien deutscher Geschichte einordnete. Den Linksliberalen und Sozialdemokraten nahestehende Historiker wie Walter Goetz, Johannes Ziekursch oder Veit Valentin sahen die Wurzeln der Weimarer Demokratie vor allem in der Revolution von 1848. Die Reichsgründung 1871 erschien ihnen dagegen eher als eine Verirrung. Das halbe Jahrhundert des Kaiserreichs interpretierten sie als einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte. Diese sei erst 1918 wieder auf den "richtigen" Weg zurückgekehrt.
Allein manche national denkende Liberale, wie der "Vernunftrepublikaner" Hermann Oncken, unternahmen zumindest halbherzige Versuche, das Kaiserreich als Vorgeschichte der Weimarer Demokratie neu zu denken. Mit einer Mischung aus Sympathie und kritischer Distanz zeichnete Oncken die Reichsgründung von 1871 als eine Verbindung von "alten historischen Gewalten und den neuen Triebkräften der Zeit". Sie sei der erste Schritt zu einem nationalen Gemeinwesen der Deutschen gewesen. Das 1871 entstandene Kaiserreich habe die Erfordernisse der Zeit angesichts von Industrialisierung und Massenpolitik freilich nur unvollkommen erfüllt. Erst in der Weimarer Republik sei die soziale und demokratische Vollendung des deutschen Nationalstaats geglückt. "Unvollendet" erschien das Kaiserreich Oncken allerdings auch, weil 1871 nur ein kleindeutscher Nationalstaat ohne Österreich zustande gekommen war. Die Hoffnung auf eine "Wiedergeburt der großdeutschen Idee" teilte Oncken mit weiter rechts stehenden Historikern. Wie diese und ihre republiktreuen Opponenten von links hielt er zudem an der Wahrnehmung Bismarcks als "Reichsgründer" fest.
Der Bismarck-Mythos verband sich seit 1914 darüber hinaus auch mit der Vorstellung eines "deutschen Sonderwegs". Was seit Beginn des Ersten Weltkriegs von den westlichen Kriegsgegnern des Deutschen Reichs abwertend formuliert worden war, wurde in Deutschland trotzig zur nationalen Tugend stilisiert. Politisch rechts stehende Historiker wie Adalbert Wahl, der zwischen 1926 und 1936 eine vierbändige Geschichte des Kaiserreichs veröffentlichte, sahen in diesem einen "Höhepunkt der Menschheitsgeschichte überhaupt".
Das Andenken an die "Bismarck’sche Reichsgründung" leistete zwischen 1918 und 1933 so einen Beitrag zum Untergang der ersten deutschen Demokratie. Als Waffe gegen die Weimarer Republik verwendet wurde der Bismarck-Mythos allerdings vor allem von der traditionellen Rechten. Die Nationalsozialisten nutzten diese Waffe zwar auch. Aber ihre Versuche einer Vereinnahmung des Mythos stießen allzu offensichtlich an Grenzen. Die Konstruktion einer Kontinuität von 1871 zu 1933, von Bismarck zu Hitler, erwies sich als äußerst schwer. Hitlers "großdeutsche" Ziele und seine Weltherrschaftspläne standen in klarem Gegensatz zur "kleindeutschen" Reichsgründung von 1871 und der von Bismarck danach verkündeten Politik der "Saturiertheit". Das wurde bereits 1938/39 deutlich, als das nationalsozialistische Deutschland über die Politik einer Revision des Versailler Vertrags hinausging. Spätestens 1941 war es für niemanden mehr zu übersehen. Die Reichsgründung und Bismarck traten denn auch als historischer Bezugspunkt nationalsozialistischer Propaganda immer mehr zurück. Stattdessen beanspruchte der konservative Widerstand gegen Hitler die Erinnerung an das Kaiserreich und den toten Kanzler zunehmend als Legitimationsobjekt für sich.
Das war einer der Gründe dafür, warum der Bismarck-Mythos auch 1945, mit dem Untergang des 1871 entstandenen Deutschen Reichs, kein Ende fand. Der Kult um den alten Kanzler und das Kaiserreich durchlief abermals einen Wandel. Teilweise wurde dabei im Westen Deutschlands, in der jungen Bundesrepublik, an Bilder der Zeit vor 1933 angeknüpft. Allerdings war es jetzt nicht mehr so sehr der Antidemokrat und Republikgegner Bismarck, sondern die ihm wie die Reichsgründung zugeschriebene Sozialversicherung des Kaiserreichs, die in den Fokus rückte. Nach zwei verheerenden Weltkriegen, der krisenhaften Zwischenkriegszeit und den Hungerjahren ab 1945 erschien das Kaiserreich vielen geradezu als eine "gute alte Zeit", in der soziale Harmonie durch Ausbau des Sozialstaats geherrscht habe.
Außerdem hatte 1945 das Ende des Deutschen Reiches markiert. Es gab keinen einheitlichen deutschen Nationalstaat mehr. Und es war Bismarck, dem in der populären Imagination das Verdienst zugeschrieben wurde, diesen Nationalstaat geschaffen zu haben. So lag es nahe, auch in dieser Hinsicht von ihm für die Gegenwart lernen zu wollen. Wie der "Schöpfer der deutschen Sozialversicherung" trat deshalb nun aus einem ganz praktischen, neuen Bedürfnis heraus der "Reichsgründer" in den Mittelpunkt des Interesses. Geschichte mochte sich nicht wiederholen. Aber vielleicht ließen sich doch für eine Politik der Wiedervereinigung aus "Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung", wie ein Buchtitel der Zeit hieß, mehr als nur einige Fingerzeige entnehmen.
"Historische Sozialwissenschaft" und 1871
Mit den Jahren verblasste freilich nicht allein die Hoffnung auf eine schnelle Wiedervereinigung. Von den beiden zunächst als Provisorien gegründeten deutschen Staaten gewann zumindest die Bundesrepublik bald an Selbstbewusstsein. Und mit dem außerordentlichen Boom des "Wirtschaftswunders" nahm das Bedürfnis nach Orientierung an einer "guten alten Zeit" ab. Statt das Paradies in die Kaiserzeit zurück zu projizieren, fanden die Westdeutschen es zunehmend in der Gegenwart, in der schönen bunten Welt der Werbung und des Konsums.
Parallel dazu sank auch Bismarcks Stern. Während des ersten Jahrzehnts nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte bei demoskopischen Umfragen die Mehrheit der befragten Deutschen auf die Frage, welcher "große Deutsche" am meisten für sein Land getan hatte, stets seinen Namen genannt. In den späten 1950er Jahren lief dann Adenauer in Umfragen Bismarck den Rang als derjenige Politiker ab, der am meisten für Deutschland geleistet habe. Mitte des folgenden Jahrzehnts fielen die durch demoskopische Untersuchungen ermittelten Popularitätswerte Bismarcks noch weiter. Das markierte zwar kein Ende des öffentlichen Interesses an ihm und der ihm nach wie vor zugeschriebenen Gründung des Kaiserreichs 1871, wohl aber eine Umwertung.
In der Öffentlichkeit hatte spätestens seit Bismarcks Tod ein positives Bild des ersten Reichskanzlers dominiert. Kritiker, die an die zeitgenössischen Sichtweisen seiner politischen Gegner vor allem aus linksliberalen, sozialdemokratischen oder auch katholischen Kreisen anknüpften, konnten sich dagegen jahrzehntelang kaum durchsetzen. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus akzentuierten dann Historiker aus solchen Milieus wie Erich Eyck und Hans Rosenberg in der Emigration ihre Interpretationen von Bismarck und der Reichsgründung neu. Während der 1960er Jahre wurde ihre kritische Sichtweise von einer Generation junger Historiker in der Bundesrepublik aufgegriffen. Diese Historiker identifizierten sich mehr oder weniger mit der Richtung der "Historischen Sozialwissenschaft". Von der Bildungsexpansion profitierend, besetzten sie in den 1970er Jahren zahlreiche Lehrerstellen an Schulen und universitäre Lehrstühle. Zumindest bis zur Jahrtausendwende prägten sie die Darstellung der Geschichte des Kaiserreichs und der Reichsgründung wesentlich. Über die historischen Handbücher und Schulbücher, die sie schrieben oder beeinflussten, und über ihre Schüler tun sie es zum Teil bis heute.
Die "Historische Sozialwissenschaft" stellte das Bild der Reichsgründung auf den Kopf. Bisher im Mainstream der deutschen Historiografie und Öffentlichkeit meist als nationale Heldentat gesehen, mutierte sie zu Bismarcks Schurkenstück. Durch die Reichsgründung, betonten nun etwa einflussreiche Historiker wie Hans-Ulrich Wehler oder Wolfgang Mommsen, habe Bismarck die 1871 eigentlich anstehende Modernisierung und Demokratisierung Deutschlands verhindert. Mehr noch: Mit ihr sei Deutschland auf eine schiefe Bahn geraten, auf der es dann in den Nationalsozialismus rutschte. Aus dem Geist des Militarismus entstanden, habe der Nationalstaat von 1871 sich zu einer Brutstätte des Antisemitismus und Radikalnationalismus entwickelt. Vom Kaiserreich zum "Dritten Reich" führe deshalb eine klare Linie der Kontinuität.
Trotz ihrer struktur- statt personengeschichtlichen Ausrichtung, die schon im Namen der "Historischen Sozialwissenschaft" anklingt, hielten deren Vertreter daran fest, dass Bismarck eine zentrale Rolle für die Nationalstaatsgründung gespielt habe. In ihren Interpretationen wurde der erste Reichskanzler allerdings vom strahlenden Nationalhelden zum perfiden und sinistren Manipulator, zum "Dämon der Deutschen", wie es Johannes Willms am drastischsten formulierte.
Fritz Fischer hatte mit seiner These, das kaiserliche Deutschland habe 1914 den Ersten Weltkrieg gezielt ausgelöst, und die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch die aggressive Außenpolitik des "Dritten Reiches" sei deshalb keineswegs ein "Betriebsunfall" der deutschen Geschichte, bereits Anfang der 1960er Jahre eine damals in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik weitverbreitete Überzeugung infrage gestellt. Die Repräsentanten der "Historischen Sozialwissenschaft" gingen noch einen Schritt weiter: In ihrer Interpretation hatte schon Bismarck mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, der wesentlich dazu beitrug, die Reichsgründung zu ermöglichen, eine Tradition militaristischer Politik begonnen. Bismarcks vermeintlich entscheidende Rolle in der "Julikrise" 1870, früher bereits als Ausweis seiner Genialität und nationalen Überzeugungen gerühmt, diente jetzt als Beleg seiner taktischen Perfidie. Der von Eberhard Kolb auf Grundlage einer erschöpfenden Auswertung der zeitgenössischen Quellen geführte Nachweis, dass die entscheidenden Provokationen 1870 tatsächlich von französischer Seite ausgegangen waren, ging in der nun neu wuchernden Legendenbildung um die "Emser Depesche" unter.
Statt zu Orten historischer Identifikation wurden Reichsgründung, Kaiserreich und Bismarck jetzt zu Ausgangspunkten unheilvoller Traditionen erklärt, von denen sich die Deutschen ebenso entschieden zu distanzieren hätten wie von dem mit ihnen durch vielfältige Kontinuitätslinien verbundenen Nationalsozialismus. Dass es sich bei diesem Urteil auch um einen "Reflex der eigenen zeitgeschichtlichen Situation" handelte, wie eine aufmerksame Beobachterin schon 1970 anmerkte,
Komplexität des Kaiserreichs: Multiple Modernen
Diese Tiefenschichten der historiografischen Debatte verloren 1990 an Relevanz. Dennoch gingen die von politischen Gegensätzen zwischen der "Historischen Sozialwissenschaft" und ihren Gegnern unterfütterten Auseinandersetzungen weiter. Allerdings verlagerten die Kontroversen sich schon seit dem "Historikerstreit" 1986 zusehends auf die Zeit des Nationalsozialismus. Dieser rückte nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Fachwissenschaft, deren Debatten sich während der 1960er und 1970er Jahre noch vor allem am Kaiserreich entzündet hatten.
Unter diesen Umständen weitete die Kaiserreichsforschung sich in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten zwar weiter aus. Sie wurde aber auch wesentlich komplexer und unübersichtlicher. Der Trend zur Kulturgeschichte begünstigte zudem Forschungen, die sich nicht mehr ohne weiteres in politische und politisch motivierte Meistererzählungen einordnen ließen.
Angelsächsische Historiker, von den politischen Implikationen der Auseinandersetzungen ihrer deutschen Kollegen weitgehend unbelastet, zeigten neue Wege auf und gaben wichtige Anregungen.
Etwas vereinfacht gesagt stehen drei Bilder der Reichsgründung in der pluralistischen Geschichtsschreibung von heute nebeneinander. Sie unterscheiden sich vor allem darin, wie sie das Verhältnis des Kaiserreichs zur Moderne beurteilen.
Für die nach wie vor einflussreichen Vertreter und Erben der "Historischen Sozialwissenschaft" konservierte die Reichsgründung 1871 anachronistische Traditionsüberhänge, die dann die weitere deutsche Geschichte noch ein ganzes Menschenalter prägten. Bismarck erscheint aus dieser Sicht als Wegbereiter Hitlers, der Nationalsozialismus als im Kern konservativ, das Kaiserreich als der Beginn eines geraden Weges in den Abgrund, dessen Tiefpunkt 1945 erreicht wurde. Erst danach habe ein ebenso gradliniger Aufstieg zur Moderne begonnen. Die demokratische Revolution von 1918 wird in dieser Interpretation zu einer gescheiterten, die Weimarer Republik zu einer Totgeburt.
Andere Historiker zeichnen das Kaiserreich dagegen mittlerweile geradezu als eine Vorgeschichte der Gegenwart. Letzten Endes werden dabei ähnlich lineare Kontinuitäten vom Kaiserreich zur Bundesrepublik von heute suggeriert, wie in der Interpretation der "Historischen Sozialwissenschaft" vom Kaiserreich zum "Dritten Reich". Und während diese die Demokratie der Weimarer Republik kleingeredet hat, so läuft eine positiv wertende Sicht des Kaiserreichs als "Geburt der Moderne" bewusst oder unbewusst darauf hinaus, den Nationalsozialismus wieder zum Betriebsunfall der deutschen Geschichte zu erklären.
Eine dritte Position schließlich sieht die Gründung des Kaiserreichs 1871 ebenfalls als die Zeit der Entstehung eines modernen Deutschland. Diese Moderne habe allerdings vielfältige Potenziale gehabt – demokratische ebenso wie diktatorische. Eine Pfadabhängigkeit in die eine oder andere Richtung wurde demnach durch die Reichsgründung nicht begründet. Aus dem modernen Deutschland, das zwischen 1871 und 1918 entstanden war, konnte im weiteren Verlauf der Geschichte vielmehr sowohl eine "helle" wie eine "dunkle" Moderne werden.