Im Hintergrund erstrecken sich die Plattenbausiedlungen von Weimar, Nordhausen oder Jena-Lobeda. Die Fotos sind schwarz-weiß, doch auch mit einem Farbfilm würde man wahrscheinlich eher kahle und graue Umgebungen erblicken. Ein Container oder Bauwagen, auch mal ein Garagenteil, ist Ort des Geschehens. Jugendliche mit Bohrmaschine, Schraubenzieher oder Spachtel verputzen Hausfassaden oder streichen Wände. Auf weiteren Fotos sind Alltagsszenen aus dem Inneren der Räumlichkeiten abgebildet: ein Jugendlicher beim Training im Kraftsportraum, zwei Mädchen mit Zigarette in der Hand auf einem Sofa, junge Männer mit kurzrasierten Haaren, Bomberjacke samt Reichskriegsflagge-Aufnäher und Springerstiefeln.
Die Fotos sind Teil einer Dokumentation der Fotografin Anna Lingscheid, die Ende 1992 an mehreren Orten in Thüringen unterschiedliche Jugendclubs besuchte. Es sind Dokumente, die einen Einblick in den Alltag der Clubs und ihrer Besucher*innen gewähren. Die Geschichte dieser Fotos ist verwoben in die politischen Geschehnisse der Transformationsgesellschaft. Die porträtierten Projekte wurden gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Als Reaktion auf den enormen Anstieg rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten, die oftmals dem jugendlichen Rechtsextremismus zugeordnet wurden, legte die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl Anfang der 1990er Jahre das "Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt" (AgAG) auf. Es handelte sich um das erste sogenannte Modell- und Sonderprogramm, das sich in Ostdeutschland gezielt gewalttätigen rechten Jugendlichen widmete. Durch sozialpädagogische Projekte sollte die Gewalttätigkeit der Jugendlichen minimiert werden. Die zwischen 1992 und 1996 finanzierten Maßnahmen in 30 "Brennpunktregionen" reichten von offener Jugendarbeit über Angebote des Betreuten Wohnens, Streetwork, erlebnispädagogische Formate bis hin zu internationalen Jugendbegegnungen. Der Großteil der 144 Projekte richtete sich an rechte beziehungsweise rechtsorientierte Jugendliche.
In den Projekten arbeiteten 147 Mitarbeiter*innen, die größtenteils – nämlich zu 60 bis 71 Prozent – über keine fachliche Ausbildung oder einschlägige Vorerfahrungen im Bereich der Sozialen Arbeit, Jugendarbeit oder Pädagogik verfügten. Hingewiesen werden muss vor diesem Hintergrund auf eine enorme Überforderungssituation, die sowohl die Transformationsgesellschaft als auch die Arbeit der Projektmitarbeiter*innen auszeichnete. Einzelne Sozialräume waren mit einem bis dato ungekannten Ausmaß offener rechter Gewalt und einem rasanten Erstarken rechter Jugendsubkulturen konfrontiert. Dazu kam, dass die Jugendarbeit und Jugendhilfe der DDR mit der Wende abgewickelt worden war und ein großes Vakuum hinterlassen hatte. Damit hatte das Aktionsprogramm auch die Aufgabe, den Ausbau der Jugendhilfe- sowie Jugendarbeitsstrukturen in den neuen Bundesländern voranzutreiben. Die Mitarbeiter*innen der AgAG-Projekte standen somit vor der doppelten Herausforderung, sich parallel zur täglichen Arbeit mit neuen Handlungsansätzen und -konzepten zu beschäftigen.
Akzeptierende Jugendarbeit
In dieser Gemengelage entfaltete das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit mit rechten Jugendcliquen, das Ende der 1980er Jahre in Westdeutschland entwickelt worden war, eine enorme Attraktivität. Praxisorientierte Konzepte wie die akzeptierende Jugendarbeit mit ihren klaren Prämissen erschienen für Akteur*innen in Ostdeutschland wie "rettende Strohhalme, an denen sich die Mitarbeiterinnen durch den sozialpädagogischen Alltag zu hangeln versuchten".
Die Leitideen der akzeptierenden Jugendarbeit mit rechten Jugendcliquen resultierten aus einem Praxisprojekt mit rechten Skinhead-Cliquen Ende der 1980er Jahre in Bremen. Unter der Leitung von Franz Josef Krafeld wurden die Praxiserfahrungen von fünf studentischen Mitarbeiter*innen in einem aufwändigen und methodisch gerahmten Prozess aufgearbeitet, systematisiert und strukturiert. Der Ansatz der akzeptierenden Arbeit war bis dato in der Arbeit mit Suchtmittelabhängigen anerkannt und wurde auf den Bereich Jugendarbeit und Rechtsextremismus übertragen. Nicht zu Unrecht bezeichnet Krafeld diesen Prozess rückblickend als Beispiel innovativer Praxisforschung und Praxisentwicklung.
Es kann davon ausgegangen werden, dass sich das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit auch mithilfe des Aktionsprogramms zum wichtigsten Konzept der offenen und aufsuchenden Arbeit mit der Zielgruppe rechter Jugendlicher entwickelte. In expliziter Abgrenzung positionierten sich Krafeld und sein Team gegen antifaschistische Bildungskonzepte und pädagogische Praktiken, die sich "konventioneller Belehrungs-, Informations- und Aufklärungsansätze" bedienten. Dabei sahen Krafeld und seine Kolleg*innen den Versuch, die Jugendlichen auf einer argumentativen Ebene zu erreichen und zu überzeugen, als vollkommen ungeeignet an. Im Gegensatz dazu erhoben sie das Akzeptieren rechter Jugendlicher zur Grundprämisse der Jugendarbeit. Sozialarbeiter*innen sollten sich "als eine Art von ‚Sozialisationshelferin‘ bzw. ‚Sozialisationsförderin‘ zur Verfügung stellen". Das Konzept baute folglich auf der Vorstellung abgehängter Jugendlicher auf und fußte "auf der Überlegung, daß Rechtsorientierungen Symptome erheblicher Schwierigkeiten und Konflikthaftigkeiten der Lebensführung darstellen, deren Kern existentielle Instabilitäten, soziale Desintegration, Orientierungsverunsicherungen, Ängste und politisch-soziale Ohnmachtsempfindungen ausmachen".
Rechtsextreme Orientierungen werden damit allein als Produkte "gesellschaftlicher und sozialer Alltagserfahrungen" begriffen – nicht auch als Erscheinungen verfehlter Erziehung oder mangelnder Aufklärung über gesellschaftlich vorhandene Ideologien der Ungleichwertigkeit. An dieser Stelle spiegelt sich der Einfluss des Soziologen Wilhelm Heitmeyer und seiner Forschungen zu rechtsextremen Orientierungen unter Jugendlichen wider. Heitmeyer verweist in seiner Theoretisierung auf die Bedeutung von Modernisierungs- und Desintegrationsprozessen in der Entwicklung rechtsextremer Einstellungen. Daraus abgeleitet, steht im Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit mit rechten Jugendcliquen das Verstehen und nicht das Aufklärenwollen an erster Stelle. Krafeld plädiert für eine Jugendarbeit, die sich auf die Lebenswelt und damit einhergehende Alltagserfahrungen und Nöte der Jugendlichen einlässt, da diese – in Anlehnung an Heitmeyer – der Grundstein für Aggression und Gewalt seien. Die Jugendlichen sollen in ihrer Lebenswelt und ihrem eigenen jugendkulturellen Erscheinen als Subjekte mit eigenen Erfahrungen, Problemen und Bedürfnissen ernst genommen werden. Gleichzeitig sieht Krafeld den Sinn der eigenen Arbeit nicht erst in der Veränderung der Jugendlichen. Zentrales Ziel ist ihre Unterstützung in der eigenen Lebensrealität, damit die Jugendlichen befähigt werden, "befriedigende Wege der Lebensbewältigung [zu] entfalten".
"Glatzenpflege auf Staatskosten"?
Das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit sowie das AgAG blieben nicht ohne Widerspruch. Sie waren in den 1990er Jahren Gegenstand einer zuweilen sehr kontrovers und emotional geführten Debatte, die innerhalb der Sozialen Arbeit und Pädagogik über den Umgang mit rechten Jugendlichen geführt wurde. Diese Kontroverse wurde nicht nur innerhalb der Fachdisziplinen verhandelt, sondern fand unter dem Schlagwort "Glatzenpflege auf Staatskosten" auch Eingang in die Feuilletons überregionaler Zeitungen. Die Debatte hält bis heute an und ist bis auf wenige Ausnahmen kaum wissenschaftlich aufgearbeitet worden.
Grundlegend ging es dabei um die Frage, welche Rolle die Jugendarbeit bei der Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus einnehmen und wie ihr Umgang mit rechten Jugendlichen aussehen kann. Die allgemeine Notwendigkeit der Arbeit mit rechten Jugendlichen wurde im Fachdiskurs selten infrage gestellt, vielmehr ging es um eine spezifische Kritik am Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit sowie dem AgAG und der darin vorhandenen inhaltlichen Ausrichtung, dessen Prämissen und Leitideen. Grundsätzlich waren die unklare Konzeptionierung, die zeitliche Befristung sowie die prekären Strukturen des AgAG insbesondere mit Blick auf die Qualifikation der Angestellten Gegenstand der Kritik. Zudem wurde die Fokussierung auf den Bereich Jugend problematisiert, da diese den Rechtsextremismus isoliert betrachte und fernab der erwachsenen Mehrheitsgesellschaft behandle. Ein weiterer Kritikpunkt war die Übertragung eines Konzeptes aus einer westdeutschen, migrantisch geprägten Großstadt auf ostdeutsche Sozialräume der Transformationsgesellschaft. Damit stand zugleich die Auswahl von "Brennpunktregionen" in der Kritik, die allein in ostdeutschen Sozialräumen angesiedelt waren. Erklärt wurde dies seitens der politischen Verantwortlichen mit der Vielzahl rassistischer und rechter Gewalttaten in Ostdeutschland, wobei Kritiker*innen auf die reale Bedrohung und zugleich quantitativ höheren rassistischen Übergriffe in Westdeutschland hinwiesen.
Bemängelt wurde also, dass der Rechtsextremismus nicht als politisches Problem der gesamten Gesellschaft begriffen werde. Durch die Übertragung eines Konzeptes aus dem Bereich der Drogenarbeit auf das Phänomen Rechtsextremismus entstehe zudem das Bild von Rechtsextremismus als einer Art Krankheit, die mit den gleichen Mitteln therapiert werden könne. Rechtsextremismus werde dadurch verharmlost und entpolitisiert.
Neben der Kritik an der Eingrenzung, Isolierung und Entpolitisierung des Problems Rechtsextremismus durch das AgAG und das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit betraf ein weiterer zentraler Einwand die Auswahl der Zielgruppe. Im Fokus standen in erster Linie rechte, gewalttätige Jugendliche, (potenzielle) Opfergruppen wurden nicht repräsentiert. Dieses Desiderat spiegelte sich auch in Zahlen wider: Nur 11 der 144 Projekte im AgAG richteten sich an "ausländische" Jugendliche. Kritiker*innen wiesen darauf hin, dass durch diese Schwerpunktsetzung die materiellen und finanziellen Ressourcen allein in Projekte flossen, in denen (potenzielle) Täter*innen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt verkehrten. Diese "akzeptierende" Betrachtung und Bereitstellung von Räumen verstärke dabei nicht die Abkehr von rechter Gewalt, sondern im Gegenteil Hinwendungsprozesse zu rechten und rechtsextremen Kreisen: "Die Berichte über AJA-Projekte [Akzeptierende Jugendarbeit, Anm. d. Aut.] scheinen eher dafür zu sprechen, dass unter dem Motto der ‚Akzeptanz‘ rechtsextremistische Aktivitäten geduldet, zum Teil sogar unterstützt wurden." Verschärft wurde die Diskussion in den 1990er Jahren durch Berichte, die die Verharmlosung und Unterstützung rechtsextremer Strukturen und vereinzelt auch direkte Verstrickungen von Clubmitarbeiter*innen in rechtsextreme Strukturen thematisierten. Diese Warnungen erscheinen seit der Selbstenttarnung des NSU 2011 in einem neuen Licht. Denn auch das Kerntrio des rassistischen Terrornetzwerks verkehrte im jungen Erwachsenenalter in einem Jugendclub in Thüringen, der in den 1990er Jahren durch das AgAG finanziert wurde.
Wie die Adressierung der (potenziellen) Opfer bildeten auch genderreflektierende Perspektiven eine Leerstelle im Konzept und in der Praxis des AgAG. So wurden junge Frauen als Zielgruppe zwar aufgeführt, lediglich ein Bruchteil der geförderten Projekte richtete sich jedoch explizit an weibliche Jugendliche. Bei der Problematisierung der zeitgenössischen Rechtsextremismusforschung verwiesen die Psychologin Birgit Rommelspacher sowie der Sozialpädagoge Rudolf Leiprecht auf das Fehlen geschlechtertheoretischer Perspektiven, das wiederum Auswirkungen auf die damalige Jugendarbeit hatte. Durch die Fokussierung auf offene Gewalttaten richteten sich sozialpädagogische Angebote vornehmlich an männliche Jugendliche; die spezifischen Ausdrucksformen rechter und rechtsextremer Einstellungen von Frauen wurden dabei verkannt und übersehen.
Handlungsstrategien im Fokus
Das AgAG lief 1997 aus. Das danach implementierte Bundesprogramm "Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus" markierte einen Paradigmenwechsel hin zur Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft durch umfangreichere präventive Maßnahmen gegen Rechtsextremismus. Dazu zählten Angebote der politischen Bildung, des "interkulturellen Lernens" oder sozialräumliche Ansätze, die die Lebensbedingungen aller Menschen in einem Dorf oder einem Stadtteil in den Mittelpunkt rücken. Diese programmatische Umorientierung kann als direkte Kritik an der Ausrichtung des AgAG verstanden werden. Das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit wurde wiederum von Krafeld zu einer "gerechtigkeitsorientierten Jugendarbeit" weiterentwickelt, anhand derer nicht nur die Interessen von rechten Jugendlichen, sondern die Gerechtigkeitsinteressen aller Menschen in der Jugendarbeit forciert werden sollen. Das gilt auch und gerade für diejenigen, die von rechten Jugendlichen diskriminiert, ausgegrenzt und bedroht werden. Trotz programmatischer Veränderungen und konzeptioneller Weiterentwicklungen hielt die Debatte über den sozialpädagogischen Umgang mit rechten Jugendlichen aber an.
Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin legte 2006 erstmals Handlungsstrategien vor, die zwischen den Zielgruppen der rechten und rechtsextremen Jugendlichen unterscheiden. Plädiert wurde hier für eine deutliche Grenzziehung in der sozialpädagogischen Arbeit mit solchen Jugendlichen, die als rechte Aktivist*innen oder Kader auftreten. Die Frage, welche Ansätze und Methoden für welche Zielgruppe geeignet sind, wurde ein paar Jahre später auch von dem Erziehungswissenschaftler Peter Rieker aufgegriffen, der zwischen einem primären, sekundären und tertiären Präventionsbereich im Kontext Rechtsextremismus unterscheidet.
Nach dem Auslaufen des AgAG wurde die Notwendigkeit der primären Präventionsansätze gegen Rechtsextremismus verstärkt betont, etwa durch Projekte der politischen Bildung für dezidiert demokratische und/oder migrantische Jugendliche sowie progressive Jugendkulturen. Auch genderreflektierende Perspektiven verbreiteten sich zunehmend, und im Fachdiskurs wird heute auf die Bedeutung der Rolle von Mädchen und deren "doppelter Unsichtbarkeit" im Rechtsextremismus hingewiesen. Auch die Kategorie Männlichkeit im Rechtsextremismus und die Bedeutung genderreflektierender Angebote für männliche Jugendliche jenseits tradierter Männlichkeitsvorstellungen werden verhandelt. Dass es sich bei diesen Perspektivierungen um keine Trivialität handelt, zeigen Ergebnisse des Forschungsprojektes "Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren". Am Beispiel eines Jugendclubs in Brandenburg wird hier veranschaulicht, dass durch den fehlenden Einbezug genderreflektierender Perspektiven männliche Räume und Vergemeinschaftungsprozesse ermöglicht wurden, die eine konstitutive Bedeutung für rechtsextreme Szenebildungsprozesse besaßen.
Seit 2010 werden im Fachdiskurs Fragen zur Jugendarbeit mit rechten beziehungsweise rechtsorientierten Jugendlichen wieder verstärkt verhandelt. Unter dem Schlagwort "Deradikalisierung" sind in den vergangenen Jahren vermehrt Projekte entstanden, die im Sinne der Präventionsarbeit gewalttätige und straffällige und damit meist männliche Jugendliche erneut in den Fokus sozialpädagogischen Handelns stellen. Neben der terminologischen Unschärfe des Deradikalisierungsbegriffs, der seinen Ursprung in der Bekämpfung von islamistischem Terrorismus hat, wird hier auch die unkritische Verwendung von Prämissen kritisiert, die ursprünglich der akzeptierenden Jugendarbeit zugeordnet werden können. Mädchen und junge Frauen geraten erneut ins Abseits der Betrachtung.
Ausblick
Die skizzierte Entwicklung des Fachdiskurses verdeutlicht die breite Diskussion über Handlungsstrategien seit den 2000er Jahren. Konstatiert werden muss gleichwohl, dass im Nachgang der kontroversen Debatte über die akzeptierende Jugendarbeit kaum vergleichbare anwendungsbezogene Konzepte für die Zielgruppe der rechten Jugendlichen entwickelt
wurden.
Soll an den Potenzialen einer lebensweltorientierten Jugendarbeit festgehalten werden, bietet sich die Auseinandersetzung mit lokalräumlichen, mitunter autoritär sowie völkisch-nationalistisch geprägten Alltagserzählungen von Jugendlichen an. Der Sozialpädagoge Kai Dietrich veranschaulicht, wie in einem gemeinsamen Prozess mit dieser Zielgruppe verbreitete Erzählungen von Demokratie und Gesellschaft modifiziert und weiterentwickelt werden
können.
Zudem sind in den vergangenen Jahren vielfältige fachliche Standards im Bereich der Rechtsextremismusprävention erarbeitet worden, die neben genderreflektierenden Ansätzen auch die Reflexion über notwendige Grenzziehungen in der Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen ins Zentrum rücken. Hingewiesen wird im gegenwärtigen Fachdiskurs auf den Stellenwert präventiver Ansätze, die sich dezidiert der Stärkung des demokratischen Gemeinwesens oder emanzipatorischer Jugendkulturen widmen. Als unhintergehbar gestalten sich daneben gezielte rassismuskritische Angebote, wie etwa Empowermenttrainings für geflüchtete oder nicht-weiße Jugendliche. Dies kann als eine direkte Lehre aus den Erfahrungen der 1990er Jahre angesehen werden, in der sich die Jugendarbeit vornehmlich an der Lebenswelt weißer deutscher Heranwachsender orientierte und von Gewalt Betroffene kaum Unterstützung, zum Beispiel in Form von Beratungsangeboten, erhielten.
Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft erweisen sich die skizzierten Bedarfe dringlicher denn je. Aktuell steht dabei zur Debatte, wie die Soziale Arbeit auf eine sich wandelnde und selbstbewusster agierende rechtsextreme Szene reagieren kann. So berichten Mitarbeiter*innen von Praxisprojekten der Sozialen Arbeit verstärkt von Einschüchterungsversuchen durch rechtspopulistische Akteur*innen. Dabei handelt es sich um Versuche der Delegitimierung genderreflektierender und rassismuskritischer Projekte. In Sozialräumen, in denen rechte und autoritäre Einstellungen zu mehrheitsgesellschaftlicher Hegemonie avancieren, bilden rechte und rechtsextreme Jugendliche keine randständige oder deviante Gruppe. Wie in der Rückschau auf die 1990er Jahre gilt es auch heute, zu betonen, dass rechtsextreme Jugendliche integraler Bestandteil der Gesellschaft sind und von dieser nicht losgelöst betrachtet werden können. Ferner wird durch den Blick zurück auf die Erfahrungen, Kontroversen und Debatten der 1990er Jahre deutlich, dass eine Verengung des Problems Rechtsextremismus auf den Bereich der Jugend und des offenen Gewalthandelns eine einseitige Erzählung produziert. Darin wird die Rolle der Mehrheitsgesellschaft bei der Entstehung rechtsextremer Gewaltverhältnisse ausgeklammert, und Lebenswelten von nicht-weißen, migrantischen, weiblichen sowie queeren Personen kommen schlichtweg nicht vor. Es gilt daher, diese Perspektiven verstärkt ins Zentrum sozialpädagogischen Handelns zu rücken.