Handelt es sich bei den Akteuren, Erfolgen und gesellschaftlichen Einbettungen der radikalen Rechten in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik um ein ausschließlich, vor allem oder in besonderer Weise ostdeutsches Problem? Diese Frage wird seit Anfang der 1990er Jahre und verstärkt wieder seit 2014/15 gestellt und in der politischen Öffentlichkeit, aber auch in den Sozialwissenschaften intensiv diskutiert – aktuell im Kontext der sich radikalisierenden Proteste gegen die Russland-Sanktionen und Energiepolitik.
Dabei basiert der zeitgenössische Rechtsextremismus in seinen verschiedenen Varianten – vom Nationalsozialismus bis zum Rassismus – auf der Prämisse einer unaufhebbaren, auf askriptiven Merkmalen wie "Rasse", Ethnie oder Geschlecht ruhenden Ungleichwertigkeit sozialer Gruppen und Individuen. Die Durchsetzung dieser Ungleichwertigkeitsideologie erfordert eine systematische physische und psychische Gewaltanwendung, letztendlich eine Gewaltherrschaft, also eine Diktatur.
Der gegenwärtige Rechtspopulismus, der durch Parteien wie Lega Nord in Italien, Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen oder die Alternative für Deutschland (AfD) repräsentiert wird, setzt demgegenüber zunächst auf ein homogen verstandenes "Volk" (lateinisch populus), das nativistisch, ethnisch oder kulturell begriffen wird und als Träger eines starken Wir- und Heimat-Gefühls fungiert. Diese "Volksgemeinschaft" erscheint heute grundsätzlich bedroht. Im Inneren sind es die etablierten liberal-demokratischen und kosmopolitischen Eliten, denen Korruption und Verrat am Volk vorgeworfen wird; äußere Feinde sind "einströmende" fremde Völker und deren Kulturen. Zur Abwehr dieser doppelten Bedrohung muss von der "formalistischen", bürokratischen oder elitären Demokratie zur "wahren" Demokratie übergegangen werden, in der nicht nur plebiszitäre oder direktdemokratische Verfahren, sondern in substanzieller Hinsicht geschichtsgesättigte Gemeinschaftswerte dominieren. Rechtspopulistische Bewegungen und Parteien sind outputorientiert, das heißt, sie konzentrieren ihre politische Arbeit weniger auf die demokratische Partizipation der Mitglieder, sondern legitimieren sich vor allem durch Erfolge in der taktisch flexiblen Umsetzung ihrer Interessenpolitik. Mit Blick auf konkrete Politikangebote zeichnen den gegenwärtigen Rechtspopulismus außenpolitisch ein klarer Nationalismus sowie instrumentelle Europäisierungs- beziehungsweise Globalisierungsauffassungen aus. Innenpolitisch dominieren ein nativistisch oder kulturell fundiertes Staatsbürgerrecht, restriktive und instrumentelle Einwanderungsstrategien, konservative bis autoritäre Law-and-Order-Auffassungen unter Kombination mit direktdemokratischen Verfahrenselementen, ein Wohlfahrts(staats)chauvinismus sowie ein teils patriarchaler, autoritärer oder rechtskonservativer, teils auf nicht-westliche Lebensweisen und Weltanschauungen fokussierender Antipluralismus und Traditionalismus.
Angesichts dieser Merkmale kann es nicht überraschen, dass es Varianten des Rechtspopulismus gibt, die sich weitgehend im Rahmen von Rechtsstaat und Demokratie bewegen, aber auch solche, die fließend in rechtsextremistische Politikformen und -inhalte übergehen. Zum Teil sind beide Strömungen innerhalb einer Partei vorzufinden, wie etwa in der AfD.
Ist die radikale Rechte der Bundesrepublik ostdeutsch?
Damit zurück zur Ausgangsfrage: Sind nur, dominant oder in spezifischer Weise Ostdeutsche – also die Bevölkerung in den östlichen Bundesländern und Ostberlins, namentlich diejenigen, die entweder selbst noch in der DDR geboren und aufgewachsen sind oder deren Eltern wesentlich durch die DDR-Gesellschaft geprägt wurden – die Träger*innen und Unterstützer*innen der radikalen Rechten in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik? Wenn damit ausgesagt oder suggeriert werden soll, dass der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik nur oder vor allem ein ostdeutsches Problem ist, braucht es kaum mehr als vier Sätze, um dieser "These" deutlich zu widersprechen.
Erstens gab es nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Bedingungen der deutschen Zweistaatlichkeit vielfältige rechtsradikale Bewegungen, Parteien und terroristische Akteure in der alten Bundesrepublik – von den Republikanern und der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) bis zur Wehrsportgruppe Hoffmann oder den Attentätern des Münchner Oktoberfestes 1980 –, die offenkundig eine genuin westdeutsche Traditionslinie verkörpern. Zweitens lässt sich für die Zeit nach 1990 allein anhand der tödlichen rechtsextremistischen Gewalttaten zeigen, dass der Rechtsextremismus weder auf den Osten beschränkt ist, noch dort hochgradig konzentriert agiert. Dafür ist es hinreichend, an die Toten des Anschlags in Mölln 1992, den Mord an Walter Lübcke 2019 oder an den rassistischen Amoklauf in Hanau mit neun Toten 2020 zu erinnern. Drittens zeigen die Wahlergebnisse klassischer rechtsradikaler Parteien wie NPD, Republikaner oder Deutsche Volksunion sowie der AfD, dass sie keineswegs nur im Osten der Bundesrepublik erfolgreich waren beziehungsweise sind, sondern auch im Westen. So erreichte die AfD bei den Landtagswahlen 2016 in Baden-Württemberg 15, 2018 in Bayern 10 oder 2022 in Niedersachsen knapp 11 Prozent der Stimmen. Viertens stammt ein beachtlicher Anteil der Führungskräfte rechtsradikaler Akteure auf Bundes- oder ostdeutscher Länderebene nach 1990 aus Westdeutschland. Exemplarisch soll auf Thorsten Heise (Freie Kameradschaften/NPD) und Björn Höcke (AfD) verwiesen werden.
Mein Widerspruch soll aber die These eines wesentlich ostdeutschen Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik keineswegs schlicht umkehren und das Phänomen im Kern als westdeutsches oder nur durch "den Westen" verursachtes beschreiben. Dagegen spricht nicht nur der Umstand, dass es in den 1980er Jahren eine aktive rechtsextremistische Szene in der DDR gab, sondern auch mit Blick auf die jüngere Vergangenheit, dass die AfD im Osten fast durchgängig zwischen doppelt und viermal so hohe Stimmenanteile in den Bundes- und Landtagswahlen der vergangenen Jahre erreicht hat wie im Westen: Anteile von 25 oder fast 30 Prozent wie in Sachsen-Anhalt oder Sachsen hat es in den westlichen Bundesländern nie gegeben.
Im Folgenden soll vielmehr die These entfaltet werden, dass es sich in Ostdeutschland um eine gegenüber den westlichen Ländern eigentümliche radikale Rechte handelt, die sich langzeitig formiert hat, nicht zuletzt im Zuge der Transformations- und Vereinigungsprozesse seit 1989/90. In meiner Analyse konzentriere ich mich auf den Rechtspopulismus, wobei mich weniger die Seite der organisierten Akteure interessiert, sondern die Attraktivität, Annahme und Unterstützung rechtsradikaler Ideologien und Bewegungen durch relevante Teile der Bevölkerung.
Historisches Gewordensein
Es ist analytisch und gesellschaftspolitisch ausgesprochen wichtig, Erklärungen sozialer Phänomene sowie Diskussionen ihrer (Um-)Gestaltungschancen nicht auf die unmittelbare Gegenwart zu beschränken, sondern ihr historisches Gewordensein einzubeziehen und zu rekonstruieren. Dazu zählen die intergenerationale Aufschichtung sozialer Erfahrungen und deren Folgen für die gegenwärtigen Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsschemata sozialer Gruppen. Aufschichtungsprozesse und Wirkungsketten umfassen nicht nur wenige Jahre oder Jahrzehnte, sondern in wichtigen Dimensionen selbst Jahrhunderte, vollziehen sich also in der sogenannten longue durée.
Das gilt auch für Mentalitäten oder (politische) Kulturen des Rechtsradikalismus. Diese können für die ostdeutsche Region hier nicht substanziell nachvollzogen, ja nicht einmal ernsthaft skizziert werden.
Die staatssozialistische Epoche von 1946/49 bis 1989 schloss in vielfacher Hinsicht an die vorgängigen Wirtschafts- und Sozialstrukturen, Herrschaftsregime und die sie mittragenden (politischen) Mentalitätsmuster mit ihren soziokulturellen Homogenisierungsstrategien, einer kaum versteckten Xenophobie sowie gleichzeitiger Unter- und Überpolitisierung der Gesellschaft unter (post-)totalitären Vorzeichen an. Das führte zur Formierung eines eigentümlichen staatssozialistischen Populismus, der sich dem klassischen Links-Rechts-Schema verweigerte. Als Alltagsideologie und politisches Kulturmuster der deutlichen Bevölkerungsmehrheit umfasste dieser ein staatszentriertes Politikverständnis.
In der Friedlichen Revolution 1989 erfuhren weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung eine Mobilisierung und die Wirkmächtigkeit demokratisch-politischen Protests auf der Straße. Vor allem in Mitteldeutschland, hauptsächlich in Sachsen, transformierte sich aber bereits im Dezember 1989 der politische Diskurs in Richtung etatistisch-rechtspopulistischer Orientierungen: von "Wir sind das Volk!" zu "Wir sind ein Volk!", vom Hoffen auf einen autonomen demokratischen Neuansatz hin zur Überhöhung der westdeutschen Regierungspolitik und Helmut Kohls zum Heils-, also Wohlstandsbringer, vom politischen Experiment der Runden Tische zum Beitritt und zur Anpassung an den Westen. Das zeigte sich auch im Umgang mit "Anderen". Nach der Auflösung der autoritären Staatsmacht wurden linke Jugendkulturen vom rechtsradikalen Mob ebenso attackiert wie alle nicht-deutsch erscheinenden Bevölkerungsgruppen. Die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sind dafür zwei herausragende Beispiele.
Formierungslogik nach 1990
Warum und mit welchen Aufschichtungslogiken es nach dem 3. Oktober 1990 zur Formierung des heute so präsenten und wirkmächtigen (rechts)populistischen Mentalitäts- und politischen Kulturmusters in Ostdeutschland kam, lässt sich in fünf Schritten und Zeitabschnitten rekonstruieren:
Die unmittelbar dem Beitritt folgende Wirtschaftskrise, Entlassungswelle und Deindustrialisierung in den "neuen Ländern", aber auch frühe Abwertungserfahrungen der Ostdeutschen angesichts ihrer Unkenntnisse und Hilfsbedürftigkeit begründeten eine erste herbe Enttäuschung. Bereits ab Juli 1990 formierten sich daher Massenproteste. Der sich rasch auf die Treuhandanstalt konzentrierende Sozialprotest war allerdings nicht nachhaltig erfolgreich. Das galt ebenso für die Kritik und alternative Strategieentwürfe zur ostdeutschen Transformation, wie sie durch die Protestakteure oder von ostdeutschen Organisationen auf der lokalen Ebene formuliert wurden, etwa von Parteien, Vereinen, Verbänden und Verwaltungen. Das Zerschellen der Hoffnungen auf raschen Wohlstand an den bundes-, also wahrgenommen: westdeutschen Machtzentralen gaben den tradierten populistischen Mentalitäten neue Nahrung und restrukturierten sie unter den veränderten Bedingungen. In diesen und auch den folgenden Jahren noch äußerte sich neben eskalierenden rechtsradikalen Praktiken von unten der organisierte Protest stärker auf der linken politischen Seite. Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) erschien vielen Ostdeutschen als einzige konsequente system- und elitenkritische Kraft mit einem Verständnis ihrer Arbeits- und Lebenswelten. Das demonstrierten die Wahlerfolge in den ostdeutschen Bundesländern von 10 bis 23 Prozent deutlich.
Die Jahre zwischen 1993 und 2004 waren für eine Mehrheit der Ostdeutschen durch anhaltende Ungleichheits-, Abwertungs- und Ohnmachtserfahrungen geprägt. Das resultierte in der Abwanderung Hunderttausender in die westlichen Bundesländer und verschob die Sozialstruktur im Osten nachhaltig hin zu einem Überhang Älterer, Männer und geringer qualifizierter beziehungsweise immobilerer Arbeitskräfte. Wer nicht abwandern wollte oder konnte, stürzte sich in die Arbeit, das eigene Gewerbe und den Konsum (Eigenheim, Freizeit, Reisen). Hier wollten gerade die Angehörigen der Mittelschichten den Anspruch der Freiheit, der Leistungsgesellschaft und der Angleichung von Ost und West schrittweise durch eigene Anstrengung einholen.
Die zweite massive Enttäuschungs- sowie anschließende Empörungs- und Protestwelle formierte sich zwischen 2004 und 2006. Sie ging einerseits auf die Verlangsamung des Angleichungsprozesses in praktisch allen Dimensionen vom BIP bis zum Vermögen seit Ende der 1990er Jahre zurück, andererseits auf die Regelungen und Wirkungen der Agenda 2010. Die Agenda-Politik weitete gerade in Ostdeutschland den prekären Arbeitsmarkt noch einmal aus und Verarmungsrisiken nahmen zu. Dabei konnten Ostdeutsche weniger als Westdeutsche überbrückende Einkommen und Vermögen heranziehen. Zudem verstanden sich die Ostdeutschen mit ihrer DDR-Erfahrung stärker noch als westdeutsche Arbeitnehmer*innen als "Opfer" eines Systemversagens. Die Versuche, über die etablierten Partizipationsverfahren in Parteien und Verbänden Widerstand und Änderungen herbeizuführen, fruchteten kaum. Daher wurden die neuen "Montagsdemonstrationen" sowie alternative Empörungsforen organisiert. Wieder reagierte die politische Klasse in den Augen der Betroffenen nur mit hohlen Phrasen und fernen Evaluationsversprechen. In Ostdeutschland ließ das die Unzufriedenheit mit und das Misstrauen gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Institutionen auf neue Höchststände steigen.
Die letzte Enttäuschungswelle war gerade halbwegs bewältigt, als sich vor dem Hintergrund der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2008 bereits die nächste aufbaute. Gerade in Ostdeutschland blieb es für eine überwältigende Mehrheit nicht nachvollziehbar und der blanke Hohn, dass für sie als ostdeutsche Erwerbstätige noch vor wenigen Jahren keine Finanzmittel für die Fortführung des bisherigen deutschen Wohlfahrtsstaates zu Verfügung gestanden hatten, mithin die Agenda-Politik 2010 "alternativlos" erschien, nun aber nicht nur für die einheimischen und globalen Großbanken, sondern auch noch für die vermeintlich wenig(er) hart arbeitenden, aber hohe Wohlfahrtsleistungen beziehenden Griechen und weitere Südeuropäer Milliarden für Zahlungen und Kredite vorhanden waren. Erneut erschienen die etablierten Eliten entrückt, korrupt und nicht am "Volkswohl" interessiert.
Die vierte Welle von Enttäuschung, Empörung und Protest wurde 2015/16 durch die Aufnahme Hunderttausender Geflüchteter aus Syrien, Irak, Afghanistan, aber auch von neuen Arbeitsmigrant*innen aus Europa und Afrika ausgelöst. Die massenhaften Aufenthaltsgenehmigungen und humanitäre Versorgung dieser Menschen wurden für viele zu einer weiteren Enttäuschungs- und Entfremdungserfahrung. Nicht nur, dass "der Strom an Fremden" als Bedrohung ihrer geschützten Lebensweisen erschien, was xenophobe Reflexe auslöste und verstärkte. Auch der Bezug "leistungslosen Einkommens" stieß einer Mehrheit vor dem Hintergrund der ostdeutschen Enteignungs- und sozialen Verunsicherungsgeschichte sowie ihrer harten Arbeitsanstrengungen unter Krisenbedingungen bitter auf. Vor allem empörte sie sich über die offenkundige Irrelevanz der vermeintlich ostdeutschen Mehrheitsmeinung für die Gestaltung der Migrationspolitik, zum anderen über die linksliberale Kritik an eben dieser Haltung. Die Artikulation radikaler Empörung und Kritik mit Rufen von "Volksverräter!" bis "Lügenpresse!" zunächst auf Pegida-Demonstrationen in Dresden waren die eine Folge, die "Suche" nach einer politischen Kraft, die diese aufzunehmen und im etablierten Politikbetrieb soweit wie möglich durchzusetzen vermochte, die zweite. Die Partei Die Linke kam dafür angesichts ihrer Migrationspolitik und Wirkungslosigkeit unmöglich infrage, wohingegen die AfD rasch zum Sachwalter, Systematisierer und Radikalisierer dieses Habitus aufstieg. Es ist nur folgerichtig, dass die AfD gerade in denjenigen sozialen Milieus und Regionen Ostdeutschlands die größten (Wahl-)Erfolge feiert, in denen materielle Deprivationserfahrungen und Vulnerabilitäten am ausgeprägtesten sind – vom prekären Milieu älterer Männer und junger Menschen mit geringer und mittlerer Bildung bis zu den peripheren Grenzregionen im Osten und Südosten –, in denen aber auch in der symbolischen Dimension die stärksten Traditionsbestände von Heimatstolz, Xenophobie, Pluralitätsängsten und Systemmisstrauen existieren und am intensivsten rechtsradikale Narrative (weiter)gesponnen wurden.
Neu in der vierten Welle, die sich in der Pandemie- und Energiekrisenpolitik seit 2020 mit der (An-)Klage eines Unwissens, Unwillens und Unvermögens der etablierten Eliten nahtlos fortsetzte, ist nicht nur, dass die "etablierte Politik" anders als bisher auf die sich Empörenden und Protestierenden kommunikativ und in Teilen auch inhaltlich zuging. Vielmehr rückte die Welle Ostdeutschland und die Politiken für Ostdeutsche nach einer Pause von gut 15 Jahren wieder in den Fokus der bundesrepublikanischen Aufmerksamkeit und (umverteilungs)politischer Initiativen. Zwei Gründe sind dafür maßgebend: Zum einen war und ist es nicht nur ein ostdeutsches Problem, wie die Wahlergebnisse im Westen und inhaltliche Debatten um die richtige Politik auch in den anderen Parteien zeigen. Zum anderen aber bedeuten gerade im Osten die hohen Stimmenanteile für die AfD unter Berücksichtigung der Anteile für Die Linke, die bei etwa 10 bis 30 Prozent liegen, dass entweder gegen diese beiden radikalen Parteien gar keine Regierungsbildung mehr oder – wie in Sachsen oder Sachsen-Anhalt geschehen – nur noch durch eine Koalition aller anderen in den Parlamenten vertretenen Parteien möglich ist. Dieses neue Koordinatensystem stellt für die politischen Programmatiken, Strategieentwicklungen und Taktiken der klassischen Parteien wie für die Regierungsbildung und das Regierungshandeln eine historische Zäsur dar. Keine Regierung im Osten, aber auch im Bund kann gegenwärtig jenseits rechtspopulistischer Bewegungen, Interessen und Mentalitäten agieren.
Resümierend ist festzuhalten, dass sich in den skizzierten Erfahrungsaufschichtungen und Formierungslogiken seit 1990 ein ostdeutscher rechtspopulistischer Habitus entwickelt und mittlerweile konsolidiert hat, dessen zentrale Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsschemata sich auch jenseits der Zukunft der AfD bei etwa 30 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung diagnostizieren lassen.
Fazit
Was folgt aus alldem – für das Begreifen und gesellschaftspolitisches Handeln?
Erstens: So wenig die radikale Rechte in der Bundesrepublik ein alleiniges oder auch nur dominant ostdeutsches Problem darstellt, so sehr entpuppt sich der ostdeutsche Rechtsradikalismus und hier konkreter der Rechtspopulismus als besonderer. Dieser lässt sich ohne eine Reflexion seines langzeitigen Gewordenseins, seiner aktuellen regionalen Kontexte und seiner Eigenheiten nicht angemessen verstehen. "Besonders" heißt aber keinesfalls kausal singulär oder "autark", vielmehr zeigen etwa ostmitteleuropäische rechtspopulistische Kulturen deutliche Verwandtschaften zu den ostdeutschen und bestehen intensive Verknüpfungen mit den westdeutschen Dynamiken, nicht zuletzt im Rahmen der AfD.
Zweitens: Wenn es richtig ist, dass der ostdeutsche Rechtspopulismus als politische Kulturformation auf langzeitigen Erfahrungsaufschichtungen sowie narrativen wie diskursiven Verdichtungen basiert und in relevanten Bevölkerungsgruppen gerade der ländlichen Peripherie habituell verfestigt ist, kann er hier nicht kurz- oder selbst mittelfristig verschwinden oder irrelevant für das soziale Handeln werden.
Drittens: Der ostdeutsche Rechtspopulismus speist sich wesentlich aus den in der DDR geformten Mentalitäten, den widersprüchlichen Erfahrungen der revolutionären Transformation und der Vereinigungspolitik, darin insbesondere aus den materiellen wie symbolischen Verteilungs-, Partizipations- sowie Anerkennungsdefiziten gegenüber wichtigen Gruppen von Ostdeutschen. Eine Debatte, die die Erklärung und Überwindung des Rechtspopulismus nur auf eine dieser Dimensionen beschränken will, wird nicht erfolgreich sein.
Viertens: Die angesichts der fließenden Übergänge in den Rechtsextremismus von nicht wenigen geforderte Ausgrenzung rechtspopulistischer Akteure und ihrer Unterstützer aus dem demokratischen Diskurs ist verständlich, bleibt aber politisch problematisch. Neben einer harten Abgrenzungslinie gegenüber Rechtsextremisten und extremistischen Rechtspopulisten, die einen starken Rechtsstaat benötigt, braucht es Artikulationsgelegenheiten für, eine diskursive Offenheit gegenüber und die konfliktbereite Integration von rechtspopulistischen Akteuren und Argumentationen in den demokratischen Prozess. Politische Abschottungen und Kommunikationsverweigerungen machen demokratische Konfliktintegration sowie Lernprozesse unmöglich und würden zudem rechtspopulistische Vorurteile wie Systemkritik bestätigen.
Fünftens: Eine langfristig erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem ostdeutschen Rechtspopulismus erfordert neben der kritischen Aufarbeitung der Geschichte der DDR, der friedlichen Revolution und der Vereinigung sowie einer auch darauf bezogenen neuen Selbstanerkennung und Selbstkritik der Ostdeutschen und ihres Handelns den systematischen Versuch eines politischen Diskurses, der die Grenzen von Ost und West, von sozialen Schichten und Milieus und von politischen Lagern sowie von Weltbildern überschreitet – mit dem Ziel des Perspektivwechsels, des wechselseitigen Lernens und der Gewinnung auch systemverändernder Handlungschancen. In der gegenwärtigen neuen Transformationsperiode wird der Rechtspopulismus – und nicht nur der ostdeutsche – unsere Demokratie vielfach herausfordern. Darauf sollte sie, sollten also wir alle, vorbereitet sein.