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Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik | Rechte Gewalt in den 1990er Jahren | bpb.de

Rechte Gewalt in den 1990er Jahren Editorial #baseballschlägerjahre. Ein Hashtag und seine Geschichten Rechte Gewalt in Deutschland nach 1945. Eine Einordnung der 1990er Jahre Deutscher Herbst 1991. Rechte Gewalt und nationale Selbstbetrachtung Umkämpftes Erinnern. Für eine migrantisch situierte Geschichtsschreibung Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik Radikale Rechte als ostdeutsches Problem? Zur langen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Rechtspopulismus in Ostdeutschland Jung, männlich, ostdeutsch, gewalttätig? Die Debatte um Jugendarbeit und rechte Gewalt seit den 1990er Jahren

Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik

Franka Maubach

/ 16 Minuten zu lesen

Die Bilder der ausgebrannten Häuser in Mölln und Solingen zählen zu den ikonischen Zeugnissen der "Baseballschlägerjahre". Die Gewaltform des Brandanschlags auf die Wohnhäuser türkeistämmiger Familien hat eine historische Genese, die in die alte Bundesrepublik zurückführt.

"Wie ich mir die Zukunft vorstelle, weiß ich nicht, aber wenn’s noch weiter mit diesen Brandanschlägen geht, möchte ich keine Zukunft. Ich habe keine Lust, mal selber in diesen Flammen zu stecken."
Nuray, 1993

1993, nach dem Brandanschlag in ihrer Stadt, der fünf jungen Frauen und Mädchen der Familie Genç das Leben gekostetet hatte, wurde die 14-jährige Solingerin Nuray zu ihrer Zukunft befragt. Zunächst antwortete sie ganz altersgemäß: Sie gehe gerne zur Schule, habe eine deutsche Freundin und nette Nachbarn. Aber auch wenn Deutschland ihre Heimat sei: Eine Zukunft hier könne sie sich schwer vorstellen, sie fühle sich in der Türkei, dem Heimatland ihrer Eltern, "sicherer". Ihre Angst brachte sie auf eine erschreckend lakonische und dabei jugendliche Weise zum Ausdruck: Sie habe "keine Lust, mal selber in diesen Flammen zu stecken". Ob man es, so wie Nuray, formulieren konnte, oder ob man es für sich behielt und schwieg: Es war blanke Todesangst, die unter Menschen mit Migrationsgeschichte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre umging, als die rassistische Gewalt in der Bundesrepublik wie nie zuvor eskalierte. Sie gründete auf dem Wissen, was möglich war und passieren konnte.

Ikonische Bilder der ausgebrannten Häuser in Mölln und Solingen, die im November 1992 und im Mai 1993 Deutschland erschütterten, prägten sich vor allem den türkeistämmigen Bevölkerungsgruppen in der Bundesrepublik unauslöschlich ein, begleitet von Ängsten um die eigene Familie und um sich selbst. Ferda Ataman, seit Juli 2022 Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, erinnert sich in einem Radiofeature: "Ich weiß noch, dass meine Mutter damals viel Nachrichten schaute, weinte und sagte: 'Bizi yakıyorlar', 'Sie verbrennen uns'." Der Mord an den Familien Arslan und Genç enthielt eine bedrohliche Botschaft: Es konnte alle treffen, die als "Ausländer" angesehen wurden, auch Kinder. Das Wissen darum, dass es "Menschen gab, die sie tot sehen wollten", wie es Fatma Aydemir in ihrem Roman "Dschinns" eine weibliche Hauptfigur sagen lässt, war danach ein steter Begleiter. So mischten sich die Bilder von Mölln und Solingen mit Rassismuserfahrungen im Alltag. Beides fügte sich zum Wissen um die Kontinuitäten rassistischer Gewalt zusammen – eine Erkenntnis, die sich nicht-betroffene Angehörige der Gesellschaft offenbar erst mühsam kognitiv und immer wieder aufs Neue erarbeiten müssen.

Bei dem von vier rechtsradikalen Tätern verübten Mordanschlag in Solingen kamen in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1993 fünf Mädchen und junge Frauen ums Leben. Die 28-jährige Gürsün İnce starb nach dem Sprung aus dem Dachgeschossfenster des Einfamilienhauses in der Unteren Wernerstraße 81. Vier Menschen verbrannten im Haus: die 18-jährige Hatice Genç, die neunjährige Hülya Genç, ihre vierjährige Schwester Saime sowie die zwölfjährige Gülüstan Öztürk, die aus der Türkei zu Besuch war. Anlass für den Besuch war das einen Tag später anstehende Opferfest gewesen. Die Mädchen hatten neue Kleider bekommen, die zusammen mit kleinen Geschenken neben ihren Betten lagen, Saime dazu noch einen Kindergartenplatz, über den sie so glücklich war, dass sie den Brief immer wieder ihrer Großmutter zeigte – Mevlüde Genç hat danach in Interviews von diesem letzten Tag erzählt. Ihre Erzählungen machen deutlich, dass und wie der Mordanschlag das Leben einer Familie von jetzt auf gleich zerstörte. Wie gingen die Überlebenden und die potenziellen Opfer rassistischer Gewalt mit der Angst um? In welchem gesellschaftlichen Klima ereigneten sich die Mordanschläge, welche historischen Ursachen lassen sich identifizieren?

Ich möchte hier die These vertreten, dass die Gewaltform des Brandanschlags auf die Wohnhäuser türkeistämmiger Familien eine historische Genese hat, die in die alte Bundesrepublik zurückführt. Seit den 1970er, vor allem aber in den 1980er Jahren entwickelte sich hier das, was zeitgenössisch als "Türkenhass" oder "Türkenfeindlichkeit" bezeichnet wurde, zu einem eigenen Kosmos. Wer in ihm lebte, den begleitete die Angst vor Diskriminierung, aber auch vor Gewalt und Abschiebung, verlässlich durch den Alltag. Die bundesdeutschen 1980er Jahre lassen sich als Pendant zu den "Baseballschlägerjahren" ein Jahrzehnt später verstehen; zugleich unterscheidet sie ihr Gepräge von dieser Zeit. In diesen Jahren entstand ein Einwanderungsrassismus, der nicht nur in seinen politischen und gesellschaftlichen, sondern auch in seinen begrifflichen Kontexten verstanden werden muss. Er wird hier zuerst skizziert. Danach wird am Beispiel des Wohnens, das ich als Kreuzungspunkt des Einwanderungsrassismus begreife, gezeigt, wie struktureller Rassismus und Rassismus im Alltag einander verstärkten.

Einwanderungsrassismus in der Bundesrepublik

Fragen nach den Erfahrungen und Umgangsweisen mit rassistischer Gewalt sind zeithistorisch wenig untersucht. Entweder werden die Brandanschläge 1992 und 1993, so suggeriert es die stereotype Reihung der Ortsnamen Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, als Folgeereignisse der Gewaltwelle in Ostdeutschland verstanden. Oder sie werden in einer von der zeitlichen Nähe der Ereignisse nahegelegten kausalen Logik mit dem "Asylkompromiss" in Verbindung gebracht, der am 26. Mai 1993, drei Tage vor dem Anschlag in Solingen, vom Bundestag verabschiedet wurde.

Tatsächlich lassen sich die Brandanschläge auf von Familien türkischer Herkunft bewohnte Häuser nicht jenseits der rassistischen Konstellation verstehen, die sich mit Mauerfall und Vereinigung entwickelte und in der "Vereinigungskrise" auswuchs – als eine Kombination aus, wie der Historiker Patrice Poutrus pointiert, "politischer Mobilisierung, Kampagnenjournalismus und rassistischer Gewalt". Die dadurch erzeugte Dynamik mobilisierte potenzielle Gewalttäter*innen, während sich für die potenziellen Opfer die Angst, im Alltag rassistische Gewalt zu erleben, zu einer Möglichkeit mit immer größerer Wahrscheinlichkeit verdichtete.

Gleichzeitig wohnt diesen Erklärungen, mag die Folge der Ereignisse sie auch plausibilisieren, eine dreifache Gefahr inne: Erstens dienen sie als bequemes Argument, um die Ursachen rassistischer Gewalt vom "reinen Westen" auf den "braunen Osten" abzuschieben und sich damit der Notwendigkeit zu entziehen, die westdeutsche Parallelgeschichte in ihrer Spezifik und Genese zu untersuchen. Zweitens verknüpfen sie lokale Gewaltereignisse und bundespolitische Entscheidungen in zwar plausibler, aber auch suggestiver Weise, denn gründlich gearbeitete empirische Forschungen zur Asylpolitik nach der Vereinigung liegen bislang nicht vor; es fehlt uns an quellenbasiertem Wissen. Daneben verstellt die These den Blick auf mittel- und längerfristige Kontinuitäten, die in die Geschichte der Bundesrepublik zurückreichen. Drittens geraten die lokalen Kontexte und individuellen Erfahrungen zu oft aus dem Blick. Um die Allgegenwart rassistischer Diskriminierung verstehen zu können, muss der Kosmos individueller Erfahrungen und Reaktionsweisen viel systematischer ausgeleuchtet werden – auch um aus den oft passivierten Opfern handelnde Akteur*innen zu machen.

Rassistischer Begriffskosmos

Wenn Menschen türkischer Herkunft von den 1980er Jahren erzählen, wie Fatma Aydemir oder Ferda Ataman, dann wird deutlich, dass antitürkischer Rassismus zu dieser Zeit auf allen Ebenen der Gesellschaft grassierte. Ataman spürte damals "an vielen Stellen", dass sie "Ausländerin" sei. Aus der Optik des damaligen Kindes – Ataman wurde 1979 geboren – ließ sich die Diskriminierung vor allem am Verhalten ihrer Lehrer*innen ablesen. So sollte sie in eine, wie es damals hieß, "Ausländerklasse" eingeschult werden, wogegen ihre Eltern erfolgreich protestierten, und erhielt später keine Gymnasialempfehlung. Solche Entscheidungen gegen die Förderung begabter Kinder beruhten auf der politisch induzierten und gesellschaftlich geläufigen Vorstellung, dass die "Gastarbeiter"-Familien ohnehin in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden und dass deren Kinder darum keine deutsche Schulbildung nötig hätten.

Dieser Kosmos eines im Alltag stets präsenten Rassismus stellte sich für Kinder und Jugendliche wie Nuray oder Ferda Ataman anders dar als für ältere Personen, anders für Männer als für Frauen und je unterschiedlich auch für verschiedene soziale Schichten und Milieus. In ihm lebten zudem nicht nur die Angehörigen jener in sich diversen Gruppe, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren, sondern alle, die als "türkisch" – und das meinte damals: fundamental "fremd" – angesehen wurden. Das Wort "Türke" bedeutete mehr als die Herkunft aus der Türkei; es avancierte zum konstruktiven Synonym für den "Fremden" an sich, eine kaum überbrückbare Nicht-Dazugehörigkeit und grundlegende Distanz. Aus diesem Grund muss den Begriffen, die damals geprägt wurden und kursierten, mit aller semantischen Vorsicht begegnet werden; mit einer Sprachsensibilität, die keiner abstrakten Political Correctness gehorcht, sondern sich dem Nachdenken darüber verdankt, dass diese Begriffe historische Konnotationen transportieren, die reaktiviert werden, wenn man die Wörter verwendet.

Auch der in den 1980er Jahren gebräuchliche, vom Migrations- und Rassismusforscher Mark Terkessidis kritisch reflektierte Begriff "Fremdenfeindlichkeit" wurde schon zeitgenössisch als "Türkenfeindlichkeit" übersetzt. Nach dem Brandanschlag in Solingen argumentierte der damalige Leiter des Zentrums für Türkeistudien in Essen, Faruk Şen, dass die "Fremdenfeindlichkeit" im Grunde eine "Türkenfeindlichkeit" sei, "weil sich die Aggressionen in erster Linie gegen Andersaussehende richten". Selbst die auf Wände geschmierten rassistischen Parolen waren austauschbar: "Ausländer raus" oder "Türken raus". "Wenn Sie jemanden nach dem Spruch 'Ausländer raus' fragen, fallen ihm immer gleich die Türken ein", pointierte ein Solinger mit türkischer Migrationsgeschichte.

Rassistische Zuzugsbeschränkungs- und Rückführungspolitik

Dieser wirkmächtige Begriffskosmos entwickelte sich parallel zur Einwanderung aus der Türkei und reagierte auf das, was der Historiker Marcel Berlinghoff treffend als "Entdeckung der Einwanderung" bezeichnet hat. Zunächst war "Gastarbeit" als ein befristeter Arbeitsaufenthalt verstanden worden, dessen Dauer sich nach seinem ökonomischen Nutzwert bemaß, in Zeiten der Krise also disponibel war. Parallel zu und zugleich unabhängig von den ersten Rezessionen der Nachkriegszeit, zwischen Mitte der 1960er Jahre und der Ölpreiskrise 1973, wurde deutlich, dass die Arbeitsmigrant*innen nicht nur in Deutschland arbeiteten, sondern dort auch lebten, ihre Familien nachzogen und Freundeskreise aufbauten, sich gewerkschaftlich organisierten oder in Sportvereine eintraten.

Der im November 1973 verhängte "Anwerbestopp" war primär eine Antwort auf diese "Entdeckung der Einwanderung" und reagierte nur sekundär auf die ökonomische Krise. Bekanntlich stieg die Zahl von Migrant*innen aus der Türkei dennoch: nicht nur wegen des Familiennachzugs, sondern auch, weil nach dem Militärputsch 1980 türkische Flüchtlinge Asyl beantragten.

Die Jahre um 1980 lassen sich als Zäsur in der Rassismusgeschichte der Bundesrepublik verstehen, in der mit teilweise drastischen Formen einer Zuzugsbeschränkungs-, Rückführungs- oder gar Ausweisungspolitik experimentiert wurde. Dabei unterschied sich die Haltung der beiden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU nur graduell, Kontinuitäten in der "Ausländerpolitik" zwischen den Regierungen Schmidt und Kohl überwogen – aus dieser Perspektive ist die Zustimmung der SPD zum "Asylkompromiss" 1993 weniger erstaunlich. Die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt hatte in der Bundesrepublik, analog zu anderen europäischen Staaten, nicht nur den Anwerbestopp verhängt, sondern in einem Kabinettsbeschluss vom November 1981 auch bekräftigt, dass die Bundesrepublik "kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll". Reform- und Gegenstimmen, wie die des Liberalen Gerhart Baum, der zu Protokoll gab, die Bundesrepublik sei "de facto ein Einwanderungsland", oder des ersten "Ausländerbeauftragten", Heinz Kühn (SPD), konnten sich nicht durchsetzen.

Stattdessen wurden die Ansätze zu einer ihrerseits zu problematisierenden "Integrationspolitik" und Vorschläge einer Einbindung durch Partizipation von einer forcierten Zuzugsbeschränkungs- wie Rückführungspolitik verdrängt. Diese operierte auf mehreren Ebenen und müsste noch genauer bis in ihre lokalen bürokratischen Details hinein verfolgt werden. Ein Kerninstrument der Zuzugsbeschränkung war der Familiennachzug: Noch unter Schmidt wurde das erlaubte Nachzugsalter auf 16 Jahre gesenkt, bald darauf folgten heftige Diskussionen über eine Altersbegrenzung auf sechs Jahre. Parallel wurde weit vor dem "Asylkompromiss" der Zugang über das Grundrecht auf Asyl etappenweise eingeschränkt, gerade mit Blick auf die nach dem Putsch 1980 aus der Türkei kommenden Flüchtlinge, die – mit diesem Begriff – als "unechte" Flüchtlinge markiert wurden. Restriktive Asyl- und "Ausländer"-Politik entwickelten sich ab den 1980er Jahren in engem Zusammenhang.

Daneben wurde mit rabiaten Formen einer Rückführungs- oder gar Ausweisungspolitik experimentiert. Ausländerbehörden setzten diese gelegentlich willkürlich ins Werk, wie die Ausländerbehörde Gelsenkirchen, die – politisch nicht gedeckt – anordnete, Ausländer über 18 Jahren, die nicht in einem Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis stünden, seien auszuweisen. Der rechtskonservative Innensenator Heinrich Lummer (CDU) unterzeichnete in der Folge einen ähnlichen Erlass für Westberlin. Schon Mitte der 1970er Jahre war dort eine Zuzugssperre für die Bezirke Kreuzberg, Neukölln und Tiergarten verhängt worden – für Bezirke mithin, die sich zu Zentren der türkeistämmigen Community entwickelt hatten und medial als "Gettos" und "Parallelgesellschaft" stigmatisiert wurden. Von diesem politisch beförderten Klima profitierten die Republikaner, die 1989 mit 7,5 Prozent der Stimmen ins Westberliner Abgeordnetenhaus einzogen, ebenso wie die "Bürgerinitiativen Ausländerstopp", die in vielen Städten regen Anhang fanden und als westdeutsche Frühform populistischen Protests à la Pegida eingeordnet werden können.

Zentral war schließlich das unter der Regierung Schmidt vorbereitete und unter Kohl 1983 ausgearbeitete "Gesetz zur Förderung der Rückkehrwilligkeit von Ausländern", das die Entscheidung zur Rückwanderung ins Herkunftsland mit Prämienzahlungen belohnte. 10500 D-Mark plus 1500 D-Mark pro Kind erhielt eine Familie, wenn sie die Bundesrepublik verließ; die Communities titulierten das sarkastisch als "Hau-ab-Prämie". Die Zahl derjenigen, die zurückkehrten, war angesichts der Lage in der Türkei gering. Dennoch forcierte die in Betrieben und Nachbarschaften spürbare Rückreisewelle den Rassismus bei all denjenigen, die dafür zugänglich waren. Während die Rückführung bei Mannesmann in Duisburg auf Hochtouren lief – insgesamt 1000 Arbeiter*innen entschieden sich dort für Abfindung und Rückkehr –, brannte im Stadtteil Wanheimerort 1984 ein von türkeistämmigen Familien bewohntes Haus, in dessen Flur das Gepäck für die Rückreise einer Nachbarsfamilie zwischengelagert stand. Gelegt hatte das Feuer offenbar eine pathologische Pyromanin mit rassistischen Affekten; sie gestand die Brandstiftung zehn Jahre später, als sie in einer Flüchtlingsunterkunft erneut Feuer legte.

Wohnen als Kreuzungspunkt des Einwanderungsrassismus

Brandanschläge auf Häuser wie in Duisburg oder 1988 im bayerischen Schwandorf waren die drastischste Form des Einwanderungsrassismus. Häufiger wurde den Arbeitsmigrant*innen das Recht auf und der Zugang zu Wohnraum bestritten. So unscheinbar das Thema zunächst wirken mag: Für Menschen mit Migrationsgeschichte war – und ist – Wohnen nichts Selbstverständliches.

Wohnen lässt sich darum als ein Kreuzungspunkt einwanderungsfeindlicher Politik wie rassistischer Praxis verstehen; als Kern eines Einwanderungsrassismus, der zugleich von oben wie von unten wirkte, durch bundespolitische Entscheidungen wie durch kommunale Bürokratien und lokale Vermieter*innen. Auch Nachbar*innen, die die Zugezogenen im besten Fall ignorierten, oft drangsalierten und im schlimmsten Fall vertrieben, konnten Zugezogenen mit Migrationsgeschichte das Bleiben verleiden. Die Historikerin Maria Alexopoulou hat auf die Bedeutung des Wohnens für die Migrations- und Rassismusgeschichte hingewiesen; der Wohnungsmarkt, schreibt sie, "blieb ein Feld, auf dem im Kleinen, aber flächendeckend konkrete Anti-Einwanderungspolitik betrieben wurde". Diese sollte rückgängig machen, was die Häuser und die Familien, die sie bewohnten, symbolisierten: Niederlassung auf Dauer.

Sowohl Aufenthaltstitel als auch Familiennachzug waren an den Nachweis von ausreichendem Wohnraum gekoppelt; um 1980 wurde die nötige Quadratmeterzahl in einigen Bundesländern von acht auf zwölf Quadratmeter erhöht. Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörden nutzten ihren Ermessensspielraum nicht selten für eine restriktive Behandlung der Anträge, auch die Wohnraumvermittlung war zum Teil offen rassistisch, etwa wenn am Schwarzen Brett des Mannheimer Wohnungsamtes über den Mietangeboten das Schild "Keine Ausländer"
prangte.

Spuren lokaler Wohnverhinderungspraktiken lassen sich bis in die Nachbarschaften hinein verfolgen, so auch für die Straße in Solingen, wo die Familie Genç ein Haus gekauft hatte. Einer der Täter lebte ganz in der Nähe. Schon vor dem Brandanschlag waren die wenigen türkeistämmigen Familien in der Straße belästigt worden, wie Metin Gür und Alaverdi Turhan in "Die Solingen-Akte" berichten. Für das 1996 erschienene Buch führten sie Interviews in der Nachbarschaft, unter anderem mit Mehmet Abak, der sich zusammen mit seinem Bruder ein Haus gekauft hatte und nach dem Anschlag seine Kinder zur Sicherheit zurück in die Türkei schickte, denn "meine Kinder, die dürfen mir nicht verbrennen". Nicht nur seien haltlose Beschwerden über Lärmbelästigung vonseiten der "Türken" erhoben worden, es wurden, gewissermaßen gegenläufig, nachts auch "Flaschen gegen die Fenster geworfen". Schon damals hätten die Männer begonnen, abwechselnd Wache zu schieben; die Gefahr – das, was passieren könnte und würde – war vielen bewusst. Der Mann der beim Anschlag gestorbenen Gürsün İnce, Achmet İnce, erinnert sich in einem Interview daran, nach Mölln gesagt zu haben, es werde wieder passieren, "und dann erlebt unsere Familie es selbst".

Schluss

Das Wissen um Wiederholung und die endlose Geschichte rassistischer Gewalt ist Menschen mit Migrationsgeschichte stets präsent. Sich eingehend mit der Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Rassismus zu beschäftigen, geht darum nicht in dem normativen Anspruch auf, "den Opfern eine Stimme zu geben". Weit darüber hinaus hat deren Perspektive ein epistemologisches Potenzial: Es generiert historisches Wissen. Familienerzählungen führen in die 1980er Jahre zurück, als sich der "Türkenhass" zu einem Kosmos auswuchs, dessen Grenzen sich immer weiter verschoben und in dem Menschen mit Migrationsgeschichte auf allen Ebenen mit Rassismus konfrontiert werden konnten.

Diese intime Kenntnis war ein Grund dafür, dass Angehörige der NSU-Opfer schon 2006 – fünf Jahre, bevor die Täter sich selbst entlarvten – bei Demonstrationen an den Tatorten Dortmund und Kassel auf Rassismus als Motiv für die Morde hinwiesen, ohne dass dieses Wissen ermittlungstechnisch relevant geworden wäre. Aus den Erfahrungen der Betroffenen lässt sich also viel lernen über die historischen Ursachen rassistischer Gewalt; eine zeithistorische Rassismusforschung muss auf ihnen basieren.

Wer diese Perspektive konsequent aufnimmt, lernt nicht nur etwas über die Ursachen, sondern auch über die Auswirkungen auf Dauer gestellter Rassismuserfahrungen. Nach den Brandanschlägen etablierten sich variantenreiche Formen der Selbstverteidigung und des Schutzes der eigenen Familie. Das Solinger Stadtgedächtnis dagegen bewahrt vor allem die "Ausschreitungen" gewaltbereiter türkeistämmiger wie linker, autonomer Demonstranten in den Tagen nach dem Brandanschlag auf, die überregional weitgehend vergessen sind. Diese von rechtsradikalen Kräften wie den "Grauen Wölfen" instrumentalisierte Gegengewalt stand für das "Ende der Geduld". In der stadtgesellschaftlichen Wahrnehmung führten die "Ausschreitungen" zu einer Opfer-Täter-Umkehr.

Viel weniger präsent sind – neben solidarischem Engagement und antirassistischen Initiativen in der Stadt, die ein eigenes Thema darstellen – die alltäglichen Umgangsweisen mit der Angst nach den Anschlägen. Der Verkauf von Brandmeldern und Strickleitern stieg, Familien schickten ihre Kinder aus der Stadt zu Verwandten, dachten über eine Rückkehr in die Türkei nach oder verließen das Land tatsächlich. Sie legten ihre Kinder nachts angezogen schlafen, ließen sie nur noch ungern vor die Tür und begegneten "dem kollektiven Schutzgedanken des Staates" mit wachsendem Misstrauen. Manche besorgten sich Waffen und verteidigten sich gegen lokale Skinhead-Gruppen. Im Feld der literarischen Imagination lassen sich, wie in Fatma Aydemirs verstörendem, grandiosem Roman "Ellbogen", auch Rachefantasien finden. Das Spektrum dieser Schutzvorkehrungen und Vorsichtsmaßnahmen, Verteidigungsweisen und Gewaltgedanken ist breit – und bisher wenig untersucht.

Die anstehenden 30. Jahrestage könnten einen Anlass bieten, diese Erfahrungs- und Handlungsräume genauer auszuleuchten und in das "Doing Memory" an rassistische Gewalt zu integrieren. Lernen lässt sich auf diese Weise sowohl etwas über die historischen Ursachen und langen Kontinuitätslinien rassistischer Gewalt als auch darüber, wie weit die politischen und gesellschaftlichen Räume waren, in denen Rassismus sich ausbreiten konnte, und wie nötig alle Versuche waren und bleiben, sie zu verkleinern.

In Gedenken an Mevlüde Genç (1943–2022).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach Johannes Motz, Szenen aus dem deutsch-türkischen Alltag in Solingen, in: Manfred Krause/Solinger Geschichtswerkstatt e.V. (Hrsg.), Eine Stadt und ihre ausländischen BewohnerInnen. Geschichte und jüngste Vergangenheit, Solingen 1994, S. 196–200, hier S. 198.

  2. Zit. nach Ferda Ataman/Johannes Nichelmann, "Gastarbeiter"-Kultur. 60 Jahre Migration aus der Türkei, Feature, WDR 2021, Externer Link: http://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-kulturfeature/audio-gastarbeiter---kultur--jahre-migration-aus-der-tuerkei-100.html, Min. 22:32–22:41.

  3. Fatma Aydemir, Dschinns, München 2022, S. 133.

  4. Vgl. dazu den Beitrag von Christian Bangel in diesem Heft.

  5. Das kritisiert auch Maria Alexopoulou, Deutschland und die Migration. Geschichte einer Einwanderungsgesellschaft wider Willen, Stuttgart 2020, S. 215.

  6. Patrice Poutrus, Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin 2019, S. 171. Für den Begriff Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Frankfurt/M. 1995.

  7. Vgl. Teresa Koloma Beck, "I’m a victor, not a victim!". Verweigerung und Selbstbehauptung in Opfererzählungen, in: Mittelweg 2/2021, S. 84–104.

  8. Vgl. speziell für die Perspektive der zweiten Generation auf den Mordanschlag Birgül Demirtaş, Der Brandanschlag in Solingen und seine Wahrnehmung durch die zweite Generation von türkeistämmigen Migranten, Bachelor-Thesis, Hochschule Düsseldorf 2016, Externer Link: https://landesintegrationsrat.nrw/wp-content/uploads/2016/06/Landesintegrationsrat_Demirtas_Solingen_Internet.pdf.

  9. "Ich bin längst nicht so woke, wie manche denken." Interview mit Ferda Ataman, 20.7.2022, Externer Link: http://www.zeit.de/2022/30/ferda-ataman-antidiskriminierungsbeauftragte-migration.

  10. Vgl. Mark Terkessidis, Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld 2004, S. 44–71.

  11. Weder Heimat noch Freunde. Interview mit Faruk Şen, in: Der Spiegel 23/1993, S. 16–29, hier S. 17.

  12. Vgl. Philipp Ther, Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa, Frankfurt/M. 2018, S. 326.

  13. Zit. nach Metin Gür/Alaverdi Turhan, Die Solingen-Akte, Düsseldorf 1996, S. 20.

  14. Vgl. Marcel Berlinghoff, Das Ende der "Gastarbeit". Europäische Anwerbestopps 1970–1974, Paderborn 2013, S. 17.

  15. Protokoll der Kabinettssitzung vom 11.11.1981, Tagesordnungspunkt 4: Ausländerpolitik, Externer Link: http://www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/0000/k/k1981k/kap1_1/kap2_48/para3_4.html.

  16. Vgl. ebd. sowie das wegweisende Memorandum von Heinz Kühn, Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1979, in dem eine erleichterte Staatsbürgerschaft ebenso vorgeschlagen wurde wie das kommunale Wahlrecht.

  17. Für die Bundesebene wurde das bereits getan von Karin Hunn, "Nächstes Jahr kehren wir zurück …" Die Geschichte der türkischen "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik, Göttingen 2005.

  18. Vgl. ebd., S. 459–477.

  19. Im Juni 1980 wurde das "Sofortprogramm zur Begrenzung der Einreise 'unechter' Asylbewerber" verkündet.

  20. Vgl. Hunn (Anm. 17), S. 463f.

  21. Vgl. Stefan Zeppenfeld, Vom Gast zum Gastwirt. Türkische Arbeitswelten in West-Berlin, Göttingen 2021, S. 60, der hingegen argumentiert, dass das an der Mauer gelegene Kreuzberg durch den Zuzug, die Eröffnung von Geschäften und die intensivierte Gewerbetätigkeit wieder belebt worden sei.

  22. Die Zahlen nach Evrim Efsun Kızılay, Hoch die internationale Solidarität? Migrantische Organisierung und die Rolle der Gewerkschaften, in: Lydia Lierke/Massimo Perinelli (Hrsg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, S. 67–97, hier S. 79. Zum Duisburger Brandanschlag vgl. Ceren Türkmen, Migration und Rassismus in der Bonner Republik. Der Brandanschlag in Duisburg 1984, in: ebd., S. 99–131, hier S. 113.

  23. Alexopoulou (Anm. 5), S. 141.

  24. Als lokales Beispiel vgl. ebd., S. 142.

  25. Vgl. ebd., S. 146.

  26. Vgl. auch für die folgenden Zitate Gür/Turhan (Anm. 13), S. 17ff.

  27. Alle sind noch da, nur die Toten nicht. 20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen, WDR 2013, Min. 20:00–20:30.

  28. Claus Leggewie/Zafer Şenocak (Hrsg.), Deutsche Türken. Das Ende der Geduld/Türk Almanlar. Sabrın sonu, Reinbek 1993, S. 17–36.

  29. Diese Fokusverschiebung lässt sich auch an der lokalen Presse ablesen, die über die "Krawalle" ausführlicher berichtete als über den Anschlag. Vgl. die zeitgenössische Kritik von Jörg Meyerhoff, Der Fall Solingen, in: Sage & Schreibe 5/1993, 10ff.

  30. Kemal Bozay, Die Wunden liegen tief. "Unser" Solingen 1993, in: ders. et al. (Hrsg.), Damit wir atmen können. Migrantische Stimmen zu Rassismus, rassistischer Gewalt und Gegenwehr, Köln 2021, S. 60–71, hier S. 62.

  31. Zum "Doing Memory" vgl. Fabian Virchow/Tanja Thomas, Doing Memory an rechte Gewalt in Medienkulturen. Grundzüge eines interdisziplinären Forschungsprogramms, in: Matthias N. Lorenz/dies. (Hrsg.), Rechte Gewalt erzählen. Doing Memory in Literatur, Theater und Film, Berlin 2022, S. 29–51, sowie den Podcast "Doing Memory".

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vertritt im Sommer- und Wintersemester 2022/23 den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal.
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