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Umkämpftes Erinnern | Rechte Gewalt in den 1990er Jahren | bpb.de

Rechte Gewalt in den 1990er Jahren Editorial #baseballschlägerjahre. Ein Hashtag und seine Geschichten Rechte Gewalt in Deutschland nach 1945. Eine Einordnung der 1990er Jahre Deutscher Herbst 1991. Rechte Gewalt und nationale Selbstbetrachtung Umkämpftes Erinnern. Für eine migrantisch situierte Geschichtsschreibung Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik Radikale Rechte als ostdeutsches Problem? Zur langen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Rechtspopulismus in Ostdeutschland Jung, männlich, ostdeutsch, gewalttätig? Die Debatte um Jugendarbeit und rechte Gewalt seit den 1990er Jahren

Umkämpftes Erinnern Für eine migrantisch situierte Geschichtsschreibung

Massimo Perinelli

/ 15 Minuten zu lesen

Die Perspektive der Betroffenen von rassistischer Gewalt und strukturellem Rassismus blieb im vorherrschenden Narrativ zur deutschen Einheit lange außen vor. Zugleich verstellte der Fokus auf rechte Gewalt den Blick auf Einwanderung als soziale Gesellschaftsgeschichte.

Am 22. Februar 2020, drei Tage nach dem rassistischen Anschlag in Hanau, verlasen auf dem dortigen zentralen Freiheitsplatz Angehörige und Freund:innen von einer eigens für die Großkundgebung errichteten Bühne die Namen der neun Mordopfer. Tausende sprachen ihnen laut nach: "Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin". Dieses Gedenkritual wurde innerhalb weniger Wochen unter dem Hashtag #SayTheirNames zum erinnerungspolitischen Imperativ antirassistischer Initiativen und migrantischer Selbstorganisationen. Die Aufforderung, sich die Namen der Ermordeten einzuprägen, sollte verhindern, dass sie als namenlose Opfer und als Fremde dem gesellschaftlichen Vergessen anheimfallen würden, und an das Leben erinnern, das sie geführt hatten.

In der Tatnacht waren die Familien der Opfer von der Polizei in einer Turnhalle untergebracht worden, wo sie ohne seelischen Beistand, ohne Betreuung und ohne Versorgung hatten ausharren müssen, bis schließlich ein Beamter die Namen der Verstorbenen von einem Zettel abgelesen hatte – als amtsdienstliche Information, die mit dem Satz endete: "Die haben es nicht geschafft." Dieser Zettel war eine Notiz zum Wegwerfen gewesen und mit ihr die Namen der Opfer. Die traumatisierten Familien waren in die Nacht geschickt und sich selbst überlassen worden.

Am Abend darauf, dem 20. Februar, hatten der Bürgermeister von Hanau, der Ministerpräsident von Hessen und der Bundespräsident ihre Erschütterung über die "unbegreifliche Tat" geäußert, ebenfalls auf einer Bühne auf dem Freiheitsplatz. Dem Vater von Ferhat Unvar wurde indes der Zugang zum Mikrofon mit der Begründung verwehrt, die Bühne sei voll. Ministerpräsident Volker Bouffier, der auf der Bühne sein Beileid bekundete, hatte keine zwei Jahre zuvor die Prüfberichte des hessischen Verfassungsschutzes zu den NSU-Ermittlungen für 120 Jahre als Geheimsache unter Verschluss genommen und somit die Forderungen nach Aufklärung der Angehörigen der Mordopfer der rechtsextremen Terrorgruppe in den Wind geschlagen. Die Angehörigen in Hanau wussten also, dass sie das Erinnern selbst organisieren mussten.

2022/1992

Seit dem "Sommer der Migration" 2015, als fast eine Million Menschen nach Deutschland kamen, häufen sich Brand- und Sprengstoffanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte, Mordanschläge auf Migrant:innen wie am Olympia-Einkaufszentrum in München 2016, in Halle 2019 oder in Hanau 2020, ebenso Angriffe auf Geflüchtete wie in Chemnitz 2018, aber auch Anschläge auf Politiker:innen, die als zu liberal in der Einwanderungspolitik gelten, wie die Messerattacke auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker 2015 oder der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019. Erst im Oktober 2022 wurde im sächsischen Bautzen kurz vor Inbetriebnahme eine Flüchtlingsunterkunft angezündet, wenige Tage zuvor eine weitere in Groß Strömkendorf in Mecklenburg-Vorpommern.

Viele Jüngere mit Migrationsgeschichte erinnert diese Welle der Gewalt an die 1990er Jahre, die sie selbst gar nicht erlebt haben, als es getragen von einer in Teilen hegemonialen rechten Jugendkultur, täglich zu rassistischen Angriffen kam und auch zu vielen Toten. 1992 starben fast 30 Menschen durch die Gewalt von Neonazis. Allein im September 1992, also nur wenige Tage nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, wurden 151 Schüsse, Brand- und Sprengstoffanschläge auf Unterkünfte von Asylbewerber*innen verübt. Mit dem Begriff "Baseballschlägerjahre" hat diese Zeit einen eigenen Namen bekommen, der die ständige Bedrohung andeutet.

Die allermeisten Angriffe aus den frühen 1990er Jahren sind undokumentiert, unaufgeklärt und ungesühnt. Allein für die 1.129 erfassten rechtsextremen Brandanschläge zwischen 1990 und 1992 liegt die Aufklärungsrate unter 20 Prozent. Die rechte Szene kann auf eine Kultur der Straflosigkeit zurückblicken. Das zeigte sich etwa 2018 bei den gewalttätigen Ausschreitungen in Chemnitz, als dieselbe Generation am Werk war wie 1992 vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen.

Lücke im Narrativ zur deutschen Einheit

Obwohl 1989/90 kaum jemand die Überwindung der Blockkonfrontation bedauerte, stellte die deutsche Vereinigung für viele Menschen hierzulande eine unmittelbare Prekarisierung und Bedrohung ihrer Existenz dar. Es kam zu massenhaften Entlassungen migrantischer Arbeitnehmer:innen in der westdeutschen Industrie, und viele der fast 100.000 ehemaligen Vertragsarbeiter:innen in Ostdeutschland wurden unmittelbar nach dem Mauerfall abgeschoben oder durch Entlassungen und Rückkehrprämien zur Ausreise gedrängt. Von den Ende 1989 rund 60.000 vietnamesischen und 15.000 mosambikanischen Vertragsarbeiter:innen lebten ein Jahr später nur noch etwa ein Drittel bis ein Fünftel in Ostdeutschland. Im nationalen Taumel des Mauerfalls gingen ökonomischer Druck, massive Entrechtung und grundlegende Anfeindungen mit alltäglichem sowie strukturellem Rassismus einher, den all jene zu spüren bekamen, die nicht zur "nationalen Gemeinschaft" gezählt wurden. Auch wenn diese Gewalt von den Betroffenen sehr früh gesehen und in ihrer Bedeutung verstanden wurde, spielte ihre Perspektive im vorherrschenden Narrativ zur deutschen Einheit keine Rolle. Eine systematische Geschichtsschreibung zum Mauerfall, die sich der Perspektive von Migrant:innen, von Juden und Jüdinnen, von Rom:nja und Sinti:zze, von ehemaligen Gastarbeiter:innen, von internationalen Studierenden, von Vertragsarbeiter:innen, von Schwarzen Deutschen, von Geflüchteten und Asylsuchenden verschrieben hat, ist bis heute bruchstückhaft.

Zwar dokumentierten und thematisierten vor allem antifaschistische Gruppen und Archive wie das Berliner Apabiz oder die Münchner a.i.d.a. die Gewaltverbrechen im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses. Ohne die Anerkennung migrantisch situierter Geschichte blieben die damaligen Dynamiken jedoch weitestgehend unverstanden.

Bereits früh war bekannt, wie in den 1990er Jahren von "Überfremdung" und "Asylantenschwemme" berichtet worden war, wie Politiker:innen mit der Rede von der "Überschreitung der Belastungsgrenze durch Asylmissbrauch" Verständnis für die rassistische Gewalt signalisiert hatten und die Bundesregierung noch während des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen die Grundgesetzänderung zur Abschaffung des Rechts auf individuelles Asyl auf den Weg gebracht und wenige Wochen später ein Abkommen mit Rumänien zur erleichterten Abschiebung von vor allem Rom:nja abgeschlossen hatte. Die Geschichte der Migration als soziale Gesellschaftsgeschichte kam in dieser Perspektive jedoch nicht vor beziehungsweise wurde nicht ins Verhältnis zur rassistischen Gewalt gesetzt. Der scheinbar ahistorisch gegebene Rassismus von Neonazis bedurfte keiner weitergehenden Beschäftigung mit den realen Lebensgeschichten derjenigen, die angegriffen wurden. Migrant:innen wurden auf die Rolle von Opfern reduziert.

Die transgenerationale kollektive Gewalterfahrung in den migrantischen Communities, die seit jeher eng verknüpft war mit ihrem Kampf um soziale und politische Rechte, um Würde und gesellschaftliche Zugehörigkeit, wurde aus einer antifaschistischen Perspektive nicht in den Blick genommen und damit die Möglichkeit verbaut, die Funktionalität rassistischer Gesellschaftsformierung zu verstehen. Dass sich die Geschichte der beiden deutschen Staaten – und in verdichteter Form ihrer Vereinigung – politisch, ökonomisch und ideologisch auf dem Rücken der Migrant:innen vollzogen hatte, konnte mit der Fokussierung auf rechte Gewalt nicht gesehen werden. Die Frage der Zugehörigkeit, die sich im Übergang zu den 1990er Jahren in der jüngeren migrantischen Generation, aber ebenso bei jüngeren Schwarzen Deutschen, mit Vehemenz neu stellte, war jedoch das entscheidende Moment, auf das der Rassismus der "Baseballschlägerjahre" mit extremer Gewalt reagierte.

Transgenerationale Aufarbeitung

Die Schwierigkeit einer migrantisch situierten Geschichtsschreibung über die 1990er Jahre lag auch darin begründet, dass 1989/90 eine Zäsur war, die den Blick auf die ältere Migrationsgeschichte verstellte. Im Sinne einer Unterbrechung der Erinnerung war die deutsche Vereinigung ein historisches Trauma auch für die Nachkommen der Gastarbeiter:innen, die die Geschichte ihrer Eltern nicht kannten und diese oftmals als duldsam und schweigend erlebten. Ohne ein Verständnis für die Geschichte der Einwanderung musste die extreme Gewalt gegen die eigenen Lebenszusammenhänge unbegreifbar bleiben. Diese Unterbrechung führte dazu, dass vor dem Hintergrund der täglichen Angriffe in den frühen 1990er Jahren viele aus der gerade erwachsen gewordenen zweiten Eingewandertengeneration sich aus einer Position der Selbstverteidigung heraus als "fremd" markierten und in eine Identitätsfalle gingen. Als "Fremd im eigenen Land", wie die Gruppe Advanced Chemistry 1992 rappte, wurden sie zum Gegenpart innerhalb der gesellschaftlichen Spaltung, die sich im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess vertieft hatte.

Andererseits waren die Kinder der ehemaligen Gastarbeiter:innen in den hiesigen Kiezen und Stadtteilen aufgewachsen und fühlten sich auf eine neuartige Weise zugehörig beziehungsweise "behaymatet". Aus der Erfahrung, in der alten Heimat als Deutsche gesehen, in Deutschland aber als "Ausländer" behandelt zu werden, erwuchs eine hybride Position, aus der nach einem Jahrzehnt der Auseinandersetzung um Rassismus, Zugehörigkeit und Identität am Übergang zum neuen Millennium ein neues postmigrantisches Subjekt hervorging. Dieses gehörte nicht zu einer eindeutig anderen Kultur, lehnte aber auch die Vorstellung von Integration als falschem Versprechen ab und nahm bewusst eine dritte Position ein.

Für die neu gestellte Frage der eigenen Verortung begann diese Generation, die historische Zäsur des Mauerfalls zu überwinden und ihre Eltern nach deren Geschichte zu befragen. Diese transgenerationale Auseinandersetzung eröffnete den historischen Blick auf die 1960er bis 1980er Jahre und lieferte der zweiten Generation erstmals eine Vorstellung von frühen Arbeitskämpfen wie den wilden Streiks zwischen 1969 und 1973, von migrantischen Hausbesetzungen und Mietstreiks sowie der Schaffung eigener Kieze in den verfallenen Innenstädten, von Bemühungen um gerechte Bildungschancen für Kinder, um Staatsbürgerrechte wie dem kommunalen Wahlrecht und um das Bleiberecht politischer Flüchtlinge aus der Türkei und Iran sowie von den Kämpfen gegen die systematische Diskriminierung im Rahmen des damals geltenden Ausländerrechts.

Diese kollektive Aufarbeitung füllte das gesellschaftliche Schweigen mit unzähligen unüberhörbaren Stimmen, die Eingang fanden in kulturelle Formate und allmählich die ersten Archive schufen, aus denen sich dieses migrantisch situierte Wissen schließlich auch wissenschaftlich verdichtete. Ende der 1990er Jahre wurde von vielen jungen migrantischen Filmemacher:innen eine neue Standortbestimmung des deutschen Films eingefordert, in der Literatur entwickelte sich eine neue postmigrantische Sprache, und viele Theater wurden zu Laboratorien dieser neuartigen postmigrantischen Kultur, während migrantischer HipHop die Jugendsprache eroberte. Netzwerke wie Kanak Attak verkündeten "No Integration!", beendeten die Dialogkultur mit der Mehrheitsgesellschaft und verfassten 1998 ein Manifest, das vielleicht als erste postmigrantische Selbstverortung gelesen werden kann.

Mit der Ausstellung "Projekt Migration" 2005 in Köln wurden diese frühen Erzählungen systematisiert, und es folgten erste Dissertationen zur Geschichte der Einwanderung und ihrer Kämpfe sowie zu neuen Theoriedebatten um Rassismus und poststrukturalistische und intersektionale Konzepte von Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Debatten um den Begriff "Multitude" lösten homogene Vorstellungen von autochthonen Bevölkerungen und ihrem verworfenen Anderen auf, ebenso monolithische Erzählungen von Herrschaft und Subalternität oder von Zentrum und Peripherie. Einst kleine lokale Archive wie das Kölner DOMiD entwickelten sich zu zentralen Registern der historischen Migrationsforschung und stehen heute kurz davor, als Museen Migrationsgeschichte kanonisch zu machen. Erste Professuren und Forschungsnetzwerke wie Kritnet entstanden. Kurzum: Die unterbrochene Erinnerung an die (post)migrantische Transformationsgeschichte dieses Landes wurde von den Nachkommen der Migrant:innen, von jüngeren Schwarzen Deutschen und von einer jüdischen Post-Wende-Generation in Auseinandersetzung mit ihren Eltern, durch kulturelle Interventionen, durch Sichtbarmachung und Systematisierung und schließlich durch Institutionalisierung fortgeführt und zu einer neuen Vision einer inklusiven Gesellschaft verknüpft.

In Ostdeutschland besaß dieser Prozess der transgenerationalen Weitergabe eine andere Zeitlichkeit, ordnet sich aber ebenfalls in die Überwindung der gewaltvollen Unterbrechung ein, die die ehemaligen Vertragsarbeiter:innen und ihre Nachkommen mit dem Mauerfall erleben mussten. Hier fand die "Entdeckung" der Geschichte der Elterngeneration auf ganz ähnliche Weise statt wie im Westen, allerdings 20 Jahre später. Zwar hatte es mit Polen und Ungarn auch bereits in den 1960er Jahren erste Anwerbeabkommen gegeben, jedoch war die Arbeitsmigration in die DDR im größeren Maße erst ab den 1970er und 1980er Jahren angelaufen, namentlich aus Algerien, Kuba, Mosambik, Vietnam und Angola; hinzu kamen in den 1970er Jahren politische Flüchtlinge vor allem aus Chile. Vor einigen Jahren begannen im Osten die jetzt erwachsen gewordenen Nachkommen der Vertragsarbeiter:innen – aufgrund des verwehrten Familiennachzugs und der erzwungenen Rückkehr oftmals vaterlos aufgewachsene Kinder binationaler Ehen –, die Geschichte ihrer Eltern sichtbar werden zu lassen, nicht zuletzt für sich selbst. Der gegenwärtig zu beobachtende migrationshistorische "Aufbruch Ost" zeugt von einem heterotopischen Begehren, das strukturell der Geburt des Postmigrantischen in Westdeutschland zu Beginn der 2000er Jahre ähnelt.

Migrantischer Perspektivwechsel

Die Aufarbeitung der Vergangenheit und die damit einhergehende Eroberung kultureller wie akademischer Sprechpositionen ab den späten 1990er Jahren schufen allmählich einen Resonanzraum für die Perspektive von Opfern rassistischer Gewalt. Die Transformation zu einer postmigrantischen Gesellschaft fand indes unter den Bedingungen der Kontinuität rassistischer Angriffe und struktureller Entrechtung statt. In dem für demokratisches Gelingen grundlegenden doppelten Axiom von Recht und Repräsentation fand vor allem im Letzteren ein großer Paradigmenwechsel statt, wie sich an allgegenwärtigen Diversity-Kampagnen zeigt. Auf der Ebene der Gleichstellung von Migrant:innen, von Schwarzen Menschen, von Geflüchteten oder von Rom:nja und Sinti:zze ist hingegen wenig geschehen. Angesichts fehlender Rechte von Geflüchteten, ihrer über Jahrzehnte fortgesetzten Unterbringung in menschenunwürdigen Lagern, der Praxis der Abschiebung, der Militarisierung der Grenzregime und dem Sterbenlassen an den europäischen Außengrenzen, angesichts faktischer Segregation im Schulwesen und mangelnder Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, der Persistenz rechter Netzwerke in Ermittlungsbehörden, fehlender Antidiskriminierungsgesetze und juristischer Untätigkeit gegenüber rechten Netzwerken sowie mangelnder politischer Partizipationsmöglichkeiten, etwa durch die Gebundenheit des Wahlrechts an die Staatsbürgerschaft und nicht an den Lebensmittelpunkt, kann von demokratischer Gleichbehandlung der hier lebenden Bevölkerung nicht die Rede sein.

In zivilgesellschaftlicher Hinsicht hat sich in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland allerdings vieles grundlegend verändert und steht in einem zunehmenden Gegensatz zu den behördlichen Beharrungskräften und dem staatlichen Handeln. Rassismus wird mittlerweile auf breiter zivilgesellschaftlicher Ebene thematisiert und bekämpft, wobei den Betroffenen eine zentrale Rolle zugesprochen wird. Dies war bis vor wenigen Jahren undenkbar, trotz des Engagements der Angehörigen.

So nahmen die Familien der Opfer des NSU von Beginn an zahlreiche Anstrengungen auf sich, um die Ermordeten durch öffentliches Gedenken in das gesellschaftliche Gedächtnis einzuschreiben. Auf einer zentralen Demonstration nur wenige Wochen nach den beiden Morden an Mehmet Kubaşık in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel am 4. beziehungsweise 6. April 2006 trugen die Teilnehmenden die Porträts der neun ermordeten Männer an der Spitze des Protestzuges. Sie machten auf das rassistische Motiv hinter der Mordserie aufmerksam, das noch jahrelang von den Behörden, der Politik und den Medien geleugnet werden sollte, und machten mit dem körpernahen Tragen der Fotos zusammen mit der Parole "Wir lassen euch nicht allein!" in türkischer Sprache die Toten als unverbrüchlichen Teil der eigenen Community sichtbar. Im Gegensatz zu dem Aufruf #SayTheirNames, der das Erinnern zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe machte, waren die betroffenen Familien im NSU-Komplex isoliert. Zwar appellierten die Familien Yozgat und Kubaşık an den Staat, die Täter endlich festzunehmen, doch war die Trauer auf die eigene Community beschränkt und wurden alle Hinterbliebenen von den Ermittlungsbehörden und der Presse weitere fünf Jahre als Täter:innen stigmatisiert und kriminalisiert.

Jahre zuvor hatten sich die Überlebenden des Pogroms von Hoyerswerda 1991 organisiert und die Angriffe thematisiert, und wenige Tage nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 hatten die überlebenden Vietnames:innen den Verein Diên Hông gegründet, der bis heute eine maßgebliche Rolle in der Aufarbeitung der Ereignisse spielt. Ebenso erinnert Izabela Tiberiade, Tochter eines überlebenden Rom, an die antiziganistische Dimension der Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen. Ibrahim Arslan, der 1992 als Kind den Brandanschlag in Mölln knapp überlebte, kämpft seit vielen Jahren für das Erinnern an seine ermordete Cousine Ayşe Yilmaz, seine Schwester Yeliz sowie an seine Großmutter Bahide Arslan. Und die 2022 verstorbene Mevlüde Genç hielt über drei Jahrzehnte die Erinnerung an ihre in Solingen ermordeten Töchter Gürsün İnce und Hatice Genç, an ihre Enkeltöchter Hülya und Saime Genç und an ihre Nichte Gülüstan Öztürk wach.

Erst die Erinnerung an die eigene Geschichte machte begreifbar, worauf der Rassismus strukturell, alltäglich oder gar terroristisch zielte, und war deswegen für das Aufarbeiten der erfahrenen Gewalt grundlegend. So bot etwa Mitat Özdemir, Überlebender des Nagelbombenanschlags des NSU auf der Kölner Keupstraße 2004, eine der wenigen Analysen für die umfassende Gewalt des NSU-Komplexes, die mit der Mord- und Anschlagsserie, der behördlichen Opfer-Täter-Umkehr und der medialen Stigmatisierung der Betroffenen die migrantischen Lebensrealitäten in diesem Land über viele Jahre angreifbar machte. Auf dem zivilgesellschaftlichen NSU-Tribunal 2017 in Köln schilderte er die Geschichte des einstigen Arbeiterstadtteils in Köln-Mülheim und speziell der Keupstraße, die ehemalige migrantische Industriearbeiter:innen instandgesetzt und zu einer Laden- und Geschäftszeile entwickelt hatten, die zum Stolz der türkeistämmigen Bevölkerung in ganz Nordrhein-Westfalen geworden war, und wie die Bombe sowie die nachgelagerte behördliche, politische und mediale "Bombe nach der Bombe" die Emanzipationsbewegung und die ökonomische Konsolidierung der einstigen Gastarbeiter:innen destabilisiert und gedroht hatte, aus der Keupstraße ein zu meidendes Getto zu machen – und ihre Bewohner:innen erneut zu Fremden.

Diese Erinnerungen sind nicht nur von multiperspektivischen Geschichten geprägt, sondern auch von vielfältigen und widersprüchlichen Emotionen. Gerade dort aber, wo die Mechanismen von Rassismus, Missachtung und Entrechtung die Erinnerungen an die Vergangenheit unterbrechen, ist auch ihre Verarbeitung strukturell verunmöglicht. Auf der Suche nach Gerechtigkeit und im Kampf um Anerkennung versuchen nachkommende Generationen daher oftmals lebenslang und teilweise unbewusst zu lösen, was für die Eltern- und Großelterngeneration unaussprechbar bleiben musste, weil der gesellschaftliche Raum der Reflexion und Empathie nicht gegeben war. Das transgenerationale Erinnern spielt dabei stets eine doppelte Rolle, da das Wissen um die Kämpfe der Älteren eine gesellschaftliche Neupositionierung der Jüngeren erlaubt, so wie auch die Geschichten der Jüngeren den Älteren ermöglichen, ihr Erlebtes neu zu bearbeiten.

Gerade das offensive Moment in der Erinnerung an die Geschichte rassistischer Gewalt hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert, etwa wenn das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen nicht nur als passiv erlebte Katastrophe erzählt wird, sondern mittlerweile die Gegenwehr der angegriffenen Vietnames:innen hervorgehoben wird. Und auch das Beispiel der Keupstraße zeigt, dass hier keine unerklärliche Gewalt aus dem Nichts eine passive Community getroffen hat, sondern dass die Nagelbombe ein Angriff auf die erkämpfte Zugehörigkeit und die heterogene Prägung unserer Städte bedeutete, in der die Geschichte der Migration eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Multidirektionales Erinnern

Das migrantisch situierte Wissen in der Erinnerungsarbeit verdoppelt sich aber nicht nur transgenerational, sondern übersteigt auch die jeweils partikulare Gruppengeschichte und öffnet sich anderen Erfahrungen. Tatsächlich erinnern seit einigen Jahren viele Betroffene unterschiedlicher kollektiver Gewalterfahrungen gemeinsam an ihre Geschichten beziehungsweise erkennen ihre eigene Geschichte in den Erzählungen anderer. Diese Methode, bei der versucht wird, den Raum der Solidarität im Bewusstsein der Heterogenität in der Gesellschaft zu erweitern und damit offensiv der Gefahr einer Opferkonkurrenz zu begegnen, kann mit dem Literaturwissenschaftler für Holocaust-Studies Michael Rothberg als "multidirektionale Erinnerung" bezeichnet werden.

Das jährliche Gedenkritual der Familie Arslan zum rassistischen Brandanschlag auf ihr Wohnhaus 1992 war hierfür richtungsweisend. Im Rahmen der "Möllner Rede im Exil" teilten 2017 Ibrahim Arslan und die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano ihre Erinnerungen und erzählten, wie sie als Kinder ihre Familien durch die Gewalt von Nazis verloren und selbst knapp überlebten. 2021 wiederholte das Format diese Praxis: Newroz Duman berichtete von ihrer Fluchtgeschichte als Kind, von dem Leben in Lagern, den Abschiebungen von geliebten Menschen, dem alltäglichen Rassismus und schließlich vom Anschlag in Hanau und der unermüdlichen Arbeit, sich mit den Angehörigen und Freund:innen der Ermordeten zu organisieren, und Naomi Henkel-Gümbel wiederum berichtete von ihren Erlebnissen in der Synagoge in Halle während des terroristischen Anschlags an Jom Kippur 2019.

Als weiteres Beispiel mag die diesjährige Ausstellung "3 Doors" dienen, die in Zusammenarbeit der Hanauer Initiative 19. Februar und der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh mit dem Institut Forensic Architecture konzipiert wurde, um die offenen Fragen zur Aufklärung der Morde in Hanau 2020 und zum Tode Jallohs in Polizeigewahrsam in Dessau 2005 zu untersuchen.

Diese Beispiele multidirektionaler Erinnerung, in denen wechselseitig aus so unterschiedlichen Kontexten wie der Gewalterfahrung der Shoah, dem Rassismus in der Gastarbeiter-Ära, den sogenannten Baseballschlägerjahren, der Polizeigewalt gegen Geflüchtete, dem Neonazi-Terrorismus der 2000er Jahre und den Anschlägen von Halle und Hanau gesprochen wurde, waren weder selbstverständlich noch unproblematisch. Alle Betroffenen dieser Gewaltdimensionen waren und sind mit Blick auf staatliche Ressourcenverteilung und mediale Wahrnehmungsökonomien gegeneinander in Konkurrenz gesetzt. Dennoch gingen sie gestärkt aus ihrem gemeinsamen "öffentlichen Aufstand der Trauer" und des Erinnerns hervor.

Die unterschiedlichen Erinnerungen von Geflüchteten, Überlebenden, Opferangehörigen oder von Migrant:innen sowie von Juden und Jüdinnen verdichten sich zu einer Geschichtsschreibung, die nicht exklusiv und hierarchisch ist. In ihrer Singularität haben sie sich zu einem gemeinsamen Narrativ verwoben, das nicht weniger, sondern mehr Aufmerksamkeit für die einzelnen Positionen erzeugen und nicht Konkurrenz, sondern zukunftsorientierte Solidarität hervorrufen konnte. Dieses nicht-identitäre Erinnern ist eine Errungenschaft, die, von den exkludierten Rändern der Gesellschaft ausgehend, das erinnerungspolitische Dispositiv dieses Landes grundlegend verändert hat.

ist Referent für Migration an der Akademie für politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.
E-Mail Link: massimo.perinelli@rosalux.org