Im Dezember 1991 blickte der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zurück auf ein Jahr, das "in die Geschichte des angeblich 'neuen' Deutschlands eingehen" werde.
Mit dieser Einschätzung war der Wissenschaftler nicht allein. Auch andere teilten das Gefühl, in den gewaltvollen Wochen des vergangenen Herbst einen historischen Moment miterlebt zu haben, der das frisch vereinte Land verändert hatte. Ausdruck fand dieses Gefühl unter anderem in einer vor allem in linken und liberalen Zeitungen und Publikationen häufig gebrauchten Wendung, die das Erschrecken über die unerwartete Gewalt mit einem Erinnerungsbild zu fassen versuchte: mit dem Verweis auf den Terror der Roten Armee Fraktion im sogenannten Deutschen Herbst 1977. Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte in diesem Sinne am 4. Oktober 1991 auf einer Konferenz gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Nationalismus das erste Mal vom "Deutschen Herbst 1991" gesprochen.
Zumindest mit Letzterem lagen die Zeitgenossen falsch. In historischen Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik spielt das Jahr 1991 keine besondere Rolle. Und auch in der öffentlichen Erinnerung ist es nicht zu einer ähnlichen Referenz geronnen wie 1977. Doch das Gefühl, eine Zäsur erlebt zu haben, war deshalb nicht falsch. Gegenwärtig wächst die Einsicht, dass vor allem in Ostdeutschland die Nachwendejahre nicht nur durch den Übergang in die marktwirtschaftliche Demokratie geprägt waren, sondern ebenso von massiver Gewalt. Sie entwickelte sich zu einem entscheidenden Signum der "Baseballschlägerjahre", denen im Abstand von drei Jahrzehnten nun größere Aufmerksamkeit in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit zuteil wird. Eine genauere historische Beschreibung, die die innere Dynamik der rechten Gewalt in den 1990er Jahren erfasst, steht jedoch aus. Hierfür bietet die Wendung vom "Deutschen Herbst 1991" einen Ausgangspunkt.
Rechte Gewalt im Herbst 1991
Was also war geschehen? Mitte September 1991 wurde die deutsche Öffentlichkeit auf eine Welle von Angriffen auf Geflüchtete und ihre Wohnstätten aufmerksam, die das kaum ein Jahr geeinte Land tiefgreifend erschütterte. Bereits Ende August hatten Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt in ihren Statistiken eine Zunahme "fremdenfeindlicher Gewalttaten" registriert.
Gewaltsame Übergriffe auf "Ausländer" und "Fremde" hatte es in beiden Teilen Deutschlands auch zuvor gegeben. Das Pogrom von Hoyerswerda schuf aber eine neue Situation, weil das tagelange Gewaltgeschehen das Interesse der Medien bündelte und durch spektakuläre Pressefotos und Fernsehbilder der rechten Gewalt eine ungekannte Sichtbarkeit verschaffte. "Hoyerswerda" wurde über die Landesgrenzen hinaus zu einem Schreckensbild rechter Gewalt, zugleich aber auch zum Vorbild für eine Welle an Folgetaten, die im Herbst 1991 durch die Bundesrepublik rollte.
Im 400 Kilometer entfernten Biebertal bei Gießen verfolgte etwa ein 18-jähriger Bäckerlehrling über die Medien die Gewalt in Hoyerswerda mit Neugier und Zustimmung.
Ihr Ausmaß lässt sich heute kaum genauer beziffern. Besser sind wir über den Verlauf der Gewalt informiert. Hatten die Sicherheitsbehörden Anfang 1991 noch rund 30 "fremdenfeindliche Gewalttaten" pro Monat registriert, waren es im Sommer bereits 80. Im September zählten Kriminalpolizei und Verfassungsschutz dann mehr als 220 "fremdenfeindliche Gewalttaten", von denen drei Viertel auf die Tage nach dem Beginn der Gewalt in Hoyerswerda entfielen. Im Oktober waren es 489.
Verantwortlich für das Anschwellen der Gewalt war vor allem die Häufung von Brandanschlägen, von denen allein im Oktober 154 gezählt wurden. Weit mehr als das in der Erinnerung haften gebliebene Pogrom von Hoyerswerda repräsentieren Brandanschläge wie jener im hessischen Fellingshausen die Gewalt des Herbst 1991, die auch kein ostdeutsches Phänomen war. Die große Mehrheit der Brandanschläge im Oktober 1991, 115 an der Zahl, wurde vor allem in ländlichen Regionen Westdeutschlands verübt.
Die Gewalt umfasste zudem zahlreiche schwere Sachbeschädigungen und Körperverletzungen aus "fremdenfeindlichen" Motiven, die im Herbst 1991 ebenfalls drastisch zunahmen. Offiziell stieg ihre Zahl von rund 50 Vorfällen im Sommer auf insgesamt 486 Vorfälle im September und Oktober 1991, wobei die Statistiken der Sicherheitsbehörden diese Entwicklung wahrscheinlich deutlich unvollständiger erfassten als bei den recht zuverlässig registrierten Brandanschlägen. Rassistische Bedrohungen und Beleidigungen, die die Statistik nicht als Gewaltdelikte klassifizierte, sondern als andere "fremdenfeindliche" Gesetzesverstöße, wurden noch weniger erfasst. Doch selbst ohne ihre systematische Berücksichtigung stieg die Zahl der insgesamt registrierten "fremdenfeindlichen" Gewalt- und weiterer Straftaten allein für den Oktober 1991 zusammengenommen auf fast tausend – mehr als dreimal so viele, wie für die gesamte erste Jahreshälfte gezählt worden waren.
Am Jahresende lagen die Zahlen der "fremdenfeindlichen" Gewalt noch immer deutlich über denen aus dem Frühjahr und Sommer, auch wenn sie seit Mitte Oktober wieder rückläufig waren. Doch die Gesamtbilanz des Jahres 1991 zeigte in aller Deutlichkeit, dass der sprunghafte Anstieg im Herbst rechte Gewalt auf ein ungekanntes Niveau gehoben hatte: Im Vergleich zum Vorjahr hatte sich 1991 allein die Zahl der Sachbeschädigungen, Körperverletzungen und Brandanschläge auf annähernd 1.500 Vorfälle fast verfünffacht.
Zweiter "Deutscher Herbst"?
War dies ein zweiter "Deutscher Herbst", wie es Wilhelm Heitmeyer und anderen 1991 schien? Darauf gibt es zwei Antworten, je nachdem, wie man den Ausdruck versteht. Begreift man ihn als Aufforderung, das Gewaltgeschehen aus dem Herbst 1991 mit jenem aus dem Jahr 1977 zu vergleichen, um die rechte Gewalt der frühen 1990er Jahre im Lichte des Linksterrorismus zu deuten, erweist sich die Wendung vom "Deutschen Herbst" als wenig hilfreich. Zu offensichtlich sind die Unterschiede zwischen 1977 und 1991.
Die Soziologen Jörg Bergmann und Claus Leggewie haben dies am Beispiel des Brandanschlags in Fellingshausen eindrucksvoll beschrieben.
Doch die Wendung vom "Deutschen Herbst" lässt sich für das Jahr 1977 ebenso sehr als Ausdruck begreifen, der weniger die Gewalt selbst als die besondere Dramatik und Spannung fasst, in die der Terror der RAF die bundesdeutsche Gesellschaft versetzte. Sie setzten Volker Schlöndorff, Rainer Werner Fassbinder und andere Regisseure 1978 in ihrem Episodenfilm "Deutschland im Herbst" eindrucksvoll ins Bild, der den Ausdruck in der politischen Sprache der Bundesrepublik verankerte.
Ein Feiertag im Schatten der Gewalt
Auch im Herbst 1991 provozierte die Gewalt heftige Reaktionen und Diskussionen, die rasch grundlegende Fragen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung betrafen. Sie setzten mit dem Pogrom von Hoyerswerda ein, wurden in ihrer Dramatik aber vor allem am ersten Jahrestag der "Wiedervereinigung" am 3. Oktober sichtbar, der zufällig mitten in die Gewaltwelle fiel. Das Datum war 1990 zum neuen Nationalfeiertag bestimmt worden, der den Deutschen Anlass zur Rückschau auf den Einigungsprozess geben sollte. 1991 stand der Feiertag dann aber im Schatten der Gewalt. Hierfür sorgten nicht zuletzt teilnehmerstarke Demonstrationen "gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus" in zahlreichen Städten,
Auch Politiker aller Parteien nutzten den Nationalfeiertag, um die Deutschen in Ost und West zur "Solidarität untereinander und zur Toleranz gegenüber Ausländern" aufzurufen, wie es die "Tagesschau" am Abend des 3. Oktober zusammenfasste. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte schon im Vorfeld gemahnt, dass sich der Vereinigungsprozess letztlich in der Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit gegenüber "den Ausländern" erweisen werde. "Wenn wir im Verhältnis zu den Ausländern versagen, dann würden wir auch im Verhältnis unter uns Deutschen nicht Bestand haben."
Doch Demonstrationen, Appelle und mahnende Worte auch anderer Staatsvertreter konnten nicht verhindern, dass die begonnene Serie rechter Angriffe und Anschläge mit dem Nationalfeiertag noch einmal dramatisch zunahm. Verfassungsschutz und Polizei registrierten am Tag der Deutschen Einheit 1991 den "absoluten Höhepunkt der fremdenfeindlichen Krawalle in den 1990er Jahren", der seinerseits neue Gewalttaten in den folgenden Tagen animierte.
Mit den Nachrichten vom Brandanschlag in Hünxe und der weiteren Gewalt dieses Tages machten Schmerz und Trauer, wie es später der Musiker Reinhard Mey in einem Lied beschrieb, für viele Menschen aus dem Feiertag einen Tag von Wut und Entsetzen.
Zur kollektiven Selbstbetrachtung hatte der neue Nationalfeiertag eingeladen. Doch statt des glücklich geeinten Landes im Herzen Europas war am ersten Jahrestag seiner "Wiedervereinigung" ein Land zu besichtigen, in dem Staat und Gesellschaft einer Welle rechter Gewalt hilflos gegenüberstanden, die just am "Tag der Deutschen Einheit" endgültig eskalierte. Dieser Erfahrung gab die Wendung vom "Deutschen Herbst 1991" Ausdruck.
Kollektive Selbstverständigung im geeinten Deutschland
Die im Herbst 1991 aufgeworfenen Verunsicherungen und Fragen blieben virulent, auch als die Gewaltwelle zunächst wieder abebbte und Wilhelm Heitmeyer beobachtete, wie Anfang 1992 die "abnehmende Zahl von Überfällen auf Ausländer und Heime von AsylbewerberInnen" vielen politischen Beobachtern "Entspannung zu signalisieren" schien.
Die Erfahrungen und Perspektiven von 1991 gingen 1992 in einen erneuten langen Herbst voller Gewalt auf. Auch deshalb ist uns der "Deutsche Herbst 1991" heute kaum als besonderer historischer Moment in Erinnerung. Er ist aufgehoben im Rückblick auf "die fremdenfeindliche Gewaltwelle der frühen 1990er Jahre",
Dies zeigt sich besonders deutlich an der verbreiteten Tendenz, in den hitzig geführten Debatten der Zeit die Gewalt als ostdeutsch zu begreifen.
In gleicher Weise entwarfen auch andere Interpretationen der Gewalt allgemeine Gesellschaftsdeutungen, indem sie die Eskalation mal mehr, mal weniger der geeinten Bundesrepublik zurechneten. In der heftigen politischen Diskussion zwischen Regierung und Opposition um Zuwanderung und das Asylrecht, die von vielen kritischen Beobachtern als Brandbeschleuniger wahrgenommen wurde, ging es nicht zuletzt um Fragen von Zugehörigkeit und die Grenzen der Nation in einer Zeit beschleunigter Globalisierung und Migrationsbewegungen.
Eine populäre Deutung der Gewalt als Ergebnis einer Jugendkrise, die durch eine Erschütterung jugendlicher Lebenswelten junge Männer zur Gewalt führen würde, lässt sich demgegenüber als Abrechnung auch mit der "alten" Bundesrepublik und der liberal-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft verstehen, in der verlässliche soziale Bindungen und kulturelle Referenzrahmen verloren gegangen seien. Schließlich lenkte auch die Deutung der Gewalt als Ausdruck verfestigter rechtsextremer Organisationsstrukturen und Mentalitäten die Aufmerksamkeit auf Defizite der bundesdeutschen Vergangenheit und einer unzureichenden Abkehr von düsteren Traditionen der deutschen Geschichte.
Perspektiven
All diese Erklärungsansätze, die bis heute die Diskussion bestimmen, erfassen jeweils wichtige Dimensionen des Gewaltgeschehens. Doch für eine angemessene historische Aufarbeitung und ein öffentliches Erinnern an die Gewalt ist es entscheidend, nicht nur wie die Zeitgenossen ihren Ursachen nachzugehen, sondern zugleich sichtbar zu machen, welchen bleibenden Einfluss die Gewalt mit den um sie kreisenden Debatten für das Selbstverständnis des vereinten Deutschland entfaltete. Hierbei ist es essenziell, die Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf jene Menschen zu richten, denen die Gewalt galt: Geflüchtete und andere Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die oftmals bereits seit Jahrzehnten in Deutschland lebten, Homosexuelle, Obdachlose, alternativ gekleidete Jugendliche und andere, die ins Fadenkreuz der Gewalt gerieten. Bei ihnen prägten sich durch Anschläge und Angriffe ausgelöste Gefühle der Angst und Bedrohung, der Verletzung und Schutzlosigkeit häufig besonders tief in ihre Vorstellungen von dem nun geeinten Land ein, in dem sie lebten.
Ihre bislang weitgehend übersehenen Erfahrungen gilt es heute einzubeziehen in die Geschichtserzählungen und Erinnerungsdebatten um die 1990er Jahre, die noch immer vor allem vom Blick auf das Verhältnis von "Wessis" und "Ossis" geprägt sind. Im neuen Deutschland fanden in den 1990er Jahren nicht nur "Ost" und "West" ein spannungsvolles Miteinander. In der Auseinandersetzung mit der Gewalt begann das Land auch langsam damit, sich seiner gesellschaftlichen Vielfalt bewusst zu werden. Dies ging einher mit zahllosen Verletzungen, Blindstellen und Diskriminierungen. Sie gilt es aufzuarbeiten. In Reaktion auf die Gewalt entstanden ab Herbst 1991 aber auch neue Gruppen und Bündnisse, die einen zivilgesellschaftlichen Kontrapunkt gegen die Gewalt setzen wollten und die Erinnerung an die Opfer der Gewalt zum Ausgangspunkt für Forderungen nach einer neuen demokratischen Kultur machten. Beides prägt die Bundesrepublik bis heute. Verstanden als zeitgenössische Wendung, kann uns der "Deutsche Herbst 1991" in diesem Sinne an einen entscheidenden Moment der jüngeren bundesdeutschen Geschichte erinnern, an dem gesellschaftliche Konflikte und Debatten begannen, die wir bis heute führen.