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#baseballschlägerjahre | Rechte Gewalt in den 1990er Jahren | bpb.de

Rechte Gewalt in den 1990er Jahren Editorial #baseballschlägerjahre. Ein Hashtag und seine Geschichten Rechte Gewalt in Deutschland nach 1945. Eine Einordnung der 1990er Jahre Deutscher Herbst 1991. Rechte Gewalt und nationale Selbstbetrachtung Umkämpftes Erinnern. Für eine migrantisch situierte Geschichtsschreibung Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik Radikale Rechte als ostdeutsches Problem? Zur langen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Rechtspopulismus in Ostdeutschland Jung, männlich, ostdeutsch, gewalttätig? Die Debatte um Jugendarbeit und rechte Gewalt seit den 1990er Jahren

#baseballschlägerjahre Ein Hashtag und seine Geschichten

Christian Bangel

/ 14 Minuten zu lesen

"Ihr Zeugen der Baseballschlägerjahre. Redet und schreibt von den Neunzigern und Nullern. It’s about time." Mit diesem Tweet aus dem Herbst 2019 wurde das Hashtag "Baseballschlägerjahre" zu einem Archiv lebensweltlicher Erzählungen aus einer Zeit, die weit ins Heute reicht.

Es begann im Oktober 2019, in jenen Tagen, als die Friedliche Revolution sich zum 30. Mal jährte, aber kaum jemand so richtig feiern mochte. Nur wenige Wochen zuvor hatte ein Attentäter in Halle versucht, die etwa 80 Besucher einer Synagoge zu töten. Im Juni war der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke in seinem Haus von einem Neonazi erschossen worden. Bald würde ein Rechtsextremer in Hanau neun Menschen umbringen. Die AfD wuchs währenddessen immer weiter, in Sachsen holte sie 27,5 Prozent, und auch im Westen ging es für sie stetig bergauf. Die große Frage lautete: Woher kommt plötzlich wieder diese rechte Gewalt?

In diesen Tagen zeigten Hunderte, Tausende Menschen, dass schon diese Frage falsch gestellt war. Sie taten es im digitalen Raum, bei Twitter, unter einem Tweet, den zufällig ich verfasst hatte.

Ihr Zeugen der Baseballschlägerjahre. Redet und schreibt von den Neunzigern und Nullern. It’s about time.

Mit diesen Worten hatte ich einen Zeitungsartikel des Rappers Testo alias Hendrik Bolz geteilt, der darin die rechte Straßenkultur im Stralsund seiner Jugend beschrieb. Ich war berührt davon, weil diese Erinnerungen ziemlich genau meinen aus den 1990er Jahren entsprachen: Faschos in Bomberjacken überall, an der Supermarktkasse, in der Familie, im Freundeskreis.

Und dann geschah etwas Erstaunliches. Im Minutenabstand antworteten mir Menschen mit ihren eigenen Erinnerungen. Sie beschrieben die rechte Gewalt, die sie in ihrer Jugend oder Adoleszenz erlebt hatten. Die Tweets führten in die Nachwendezeit, sie führten auf Parkplätze, in Freibäder, auf Schulhöfe. Sie erzählten von Überfällen auf öffentlichen Toiletten, von Gaspistolen an Schläfen, von Adrenalin und Todesangst, aber auch von einer Alltäglichkeit der Gewalt, von einem fast routinierten Umgang mit tödlicher Gefahr. Mit jedem dieser 280-Zeichen-Berichte wurde deutlicher, dass es hier nicht nur um vereinzelte traumatische Erlebnisse ging, sondern um eine Generationenerfahrung.

Triggerwarnung

Wenn ich auf das Hashtag und die Reaktionen darauf zurückblicke, sollte ich vorher anmerken, dass ich zu dem Thema weder wissenschaftlich noch journalistisch vollständige Distanz halten kann. Mehr als 20 Jahre ist es her, dass ich selbst das letzte Mal in Todesangst vor Rechten weggerannt bin. Ich habe dieses Gefühl seitdem sehr tief in mir vergraben, aber manchmal kommt es an die Oberfläche. All diese Tweets schildern rassistische, homophobe, ideologisierte und teils entgrenzte Gewalt und können Menschen, die das betraf und betrifft, retraumatisieren und wieder in diese Welt aus Panik und Einsamkeit zurückwerfen.

Ich halte es bis heute nicht gut aus, diese Tweets zu lesen. Auch deswegen bin ich dankbar, dass es Friedemann Schwenzer in seiner Masterarbeit getan hat, in der er anhand des Hashtags Erinnerungen an rechte Gewalt in der DDR und Wendezeit untersucht. Einige der strukturellen Aussagen, die ich hier treffe, und der hier gezeigten Tweets stammen aus seiner Arbeit.

Rücklauf

Etwa 2.700 Antworten kamen innerhalb der ersten zehn Tage zusammen. Mehr als 400 davon berichteten konkret und anekdotisch über eigene Erlebnisse. Binnen kürzester Zeit wurde das Hashtag zu einer digitalen Kiste voller grauenvoller, schwarzer Erinnerungen. Noch heute steht sie da und lässt sich nutzen als ein Archiv lebensweltlicher Niederschriften einer Zeit, die weit ins Heute reicht.

Wer die Menschen sind, die unter dem Hashtag ihre Erlebnisse posteten, wissen wir nur annäherungsweise, und verifiziert sind ihre Geschichten nicht. Twitter ermöglicht die anonymisierte Registrierung, sodass uns keine strukturierten Daten über Alter, Geschlecht, Herkunft und Bildungsgrad der Nutzer vorliegen. Obgleich auch erschütternde Berichte aus dem Westen darunter sind, spielen die meisten Berichte im Osten. Den Selbstzuschreibungen zufolge stammen sie häufig aus der sogenannten Dritten Generation Ostdeutschland, also jener Generation der zwischen 1975 und 1985 Geborenen, die ihre Teenagerzeit in den 1990er und 2000er Jahren erlebten. In dieser Zeit spielen auch die allermeisten Schilderungen. Viele beschreiben sich als dem nicht-rechten Spektrum zugehörig, also jener breiten Palette an alternativen Jugendkulturen aus Gothic, Metal, Punk, HipHop, Skate und anderen Independent-Kulturen, die sich im Osten der 1990er oft notgedrungen zusammenfanden.

Zu dieser Mischszene gehörte auch ich. Ich lebte als alternativer Teenager in den 1990er Jahren in Frankfurt an der Oder, das, begünstigt durch seine Lage an der damaligen EU-Außengrenze und eine vielfältige und gewaltaffine Neonaziszene, ein aktiver Schauplatz rechter Subkultur und Straßengewalt war. Das, was in den Tweets beschrieben ist, habe ich entweder so ähnlich erlebt, oder ich hatte Kenntnis von Vergleichbarem.

Alltägliche Gewalt

Von einer Horde Skins mit Baseballschlägern quer durch die Stadt gejagt worden, weil mein buntes Techno-Outfit mich in ihren Augen zur "schwulen Zecke" machte.

1994, mit 13 Jahren ist mir das erste Mal bewusst geworden, wie gefährlich Faschos sind, als ca. 30 Glatzen mit Baseballschlägern vor dem Nachbarhaus standen und jemanden suchten. Ich stand zu Hause am Fenster hinter der Küchengardine. Meine Mutter zog (…) mich weg und sagte mir, dass uns das nichts angeht.

Ende der 90er, Provinz in Ostthüringen. Man fährt mit 16 mit'n Moped hin, wo irgendwas los is. Irgend nen Dorffest, irgendwann kamen immer die Nazis übernehmen erst Bierstand, dann den Rest des Festes. Erst Onkelz, dann Landser. Bloss rechtzeitig weg. #baseballschlaegerjahre

Ich erinnere mich, dass es in den 1990er-Jahren in Sachsen-Anhalt immer opportun war, sich nachts beim Tanken zu beeilen – wegen der lungernden Springerstiefel. Das kannte ich aus dem Münsterland nicht.

Was die unter dem Hashtag geschilderte rechte Gewalt so abhebt von anderen generationellen Gewalterfahrungen, ist ihre Verbreitung und ihre Alltäglichkeit, vor allem im Osten. Dort musste man nicht an einen falschen Ort gehen, um Opfer dieser Gewalt zu werden, es konnte buchstäblich überall geschehen – besonders, wenn man Neonazis optisch auffiel. Dabei genügte es, von den Rechten als dem alternativen Spektrum zugehörig gelesen zu werden. "Zecke" konnte im Zweifel jeder sein, der dem rechten Dress- und Stylecode widersprach. An einem Tag kam man mit seinem Aussehen durch, an anderen nicht. Das Ergebnis war eine ständig in der Luft liegende Gewaltmöglichkeit, die auch wegen ihrer vollkommenen Willkür teils alptraumhaft wirkte.

Die übergeordnete strategische Funktion dieser Gewalt war es, Machtansprüche an Straßen, Stadtteilen oder ganzen Gemeinden abzusichern. Wer mehr darüber wissen mag, sollte das Wort "Viersäulenkonzept" googeln. Im Alltag aber begegnete einem diese Gewalt als entgrenzt und ideologisiert. Sie war nicht auf materielle Güter aus, sondern von dem Willen zur Vernichtung angetrieben. Es ging darum, Menschen zu vertreiben oder gar auszulöschen.

Blinde Flecken

Die Nazis, die einen Obdachlosen mit dem Moped totgefahren haben. Direkt im Hausdurchgang nebenan. #baseballschlaegerjahre

#baseballschlaegerjahre Wenn deine schwarze Freundin auf dem Weg in den Kindergarten angespuckt wird. Und scheinbar niemand sich daran stört, weil es "ganz normal" ist.

Schmerzhaft fehlen in den Berichten zwei bedeutsame Betroffenengruppen, nämlich einerseits Schwarze Menschen und People of Color, andererseits Obdachlose und andere sozial Benachteiligte, die den Statistiken zufolge sehr häufig dem Neonazi-Terror zum Opfer fielen. Dadurch sind die Aspekte des Rassismus und des Sozialdarwinismus in den Schilderungen weitgehend ausgeklammert beziehungsweise nur als Zeugenerzählung vertreten. Glücklicherweise melden sich inzwischen auch immer mehr ostdeutsche Schwarze und People of Color zu Wort, sowohl um ihre Sicht auf die Baseballschlägerjahre einzubringen als auch um den aktuellen Rassismus im Osten zu benennen.

Weißen, nicht-obdachlosen Menschen, die von Nazigewalt betroffen waren, blieb zumindest theoretisch immer die Option des Abtauchens, der Anpassung oder sogar der taktischen Kollaboration mit den Rechten – Schwarzen, People of Color und Obdachlosen waren diese Wege verschlossen. Sie waren der Gewalt vollkommen ausgeliefert. Noch heute schildern viele von Rassismus Betroffene, die im ländlichen oder kleinstädtischen Osten leben, dass sie in den Abendstunden nicht allein auf die Straße gehen. Manche meiden den ländlichen Raum noch immer, selbst für Sonntagsausflüge.

Desinteresse und Sympathie

Wir waren mit dem täglichen Problem allein. Ich bin zum ersten Mal verprügelt worden, da war ich 14. Das war 1991. Die Reaktion war: "Na Kind, dann geh da halt nicht mehr hin." Also mussten wir uns selbst helfen. #baseballschlaegerjahre

Wie die Nazis damals, Ende der 90er, an unserem Haus vorbei kamen bei einem Aufmarsch und nicht mal meine Großeltern (Kriegsgeneration) irgendetwas dazu gesagt haben. Nur Schweigen. Ignoranz. Bagatellisierung. #baseballschlaegerjahre

Erfurt Mitte der 90er. Zeit lang haben Nazis jeden Tag vor Schultor gewartet und einen von uns abgefangen. Kamen manchmal auch während des Unterrichts in die Klasse, schnell zugeschlagen, wieder gegangen. Lehrer haben nie etwas gemacht. Hatten genauso Angst wie wir.

Plauen 90er, gab einen Jugendclub "Schuldenberg". Dieser wurde regelmäßig von Nazis überfallen. Alles komplett zerlegt, mehrere Verletzte. Polizei blieb untätig, da in #Plauen keine #Naziszene. Irgendwann stellte sich heraus: Anführer der #Nazis war Sohn des Plauener Polizeichefs

Chemnitz in den 90ern: Wenn Rummel/Jahrmarkt war sollte man dieses Gebiet meiden. Ich erinnere mich an viele Situationen. Wenn man dann die Polizei um Hilfe gebeten hat kamen Aussagen wie: "Wir haben gerade keine Streifenwagen da, da müßt ihr rennen." Und es waren (Streifenwagen) da.

Von Nazis im Zug "aus Spaß" Waffe an den Kopf gehalten bekommen. Freund wurde wegen langer Haare zusammengeschlagen, Polizei meinte nur, er hätte mit der Frisur ja provoziert.

Die Gewalt traf auf eine mit dem ökonomischen Überleben beschäftigte gesellschaftliche Mitte, die den Rechten kaum zivilgesellschaftlichen Widerstand entgegensetzte. Wie wenig Schutz Betroffene von den Eltern, Lehrern, Schuldirektoren, öffentlichen Autoritäten erfuhren, zeigt sich in den Tweets. Das weit verbreitete Desinteresse oder sogar die klammheimliche Sympathie wirkte sich auch auf die Politik aus. Besonders Anfang der 1990er Jahre, als in Ost und West die Geflüchtetenunterkünfte brannten, war die Tendenz sichtbar, solche Gewalttaten als "Volkes Wille" zu deuten und die Betroffenen noch durch Abschiebung oder andere Sanktionierungen zu strafen. Das wohl eindringlichste Beispiel für das Zurückweichen der Politik vor der rechten Gewalt ist der sogenannte Asylkompromiss im Gefolge des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen.

Zur Realität der frühen 1990er gehört besonders im Osten zudem eine strukturell überforderte, unterausgestattete und teils auch desinteressierte Polizei, die den rechten Gewalttätern keine Gefahr war. Während einzelne Fälle bundesweite Aufmerksamkeit erlangten, etwa die Tötungen Amadeu Antonio Kiowas in Eberswalde im Dezember 1990 oder Torsten Lamprechts in Magdeburg im Mai 1992, als die Polizei nicht beziehungsweise sehr spät eingriff, zeugen die Berichte unter dem Hashtag davon, wie alltäglich polizeiliche Abwesenheit war. Insbesondere im Osten war dies fatal, denn für viele rechte Gewalttäter war das Zurückweichen und Gewährenlassen der Sicherheitsbehörden – und mit ihnen weiter Teile der gesellschaftlichen Mitte – eine bis heute prägende Erfahrung. Sie lernten: Wenn wir etwas wollen, dann müssen wir zuschlagen. Dieses Lernwissen spricht auch noch fast drei Jahrzehnte später aus den gewaltsamen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen.

Umgangsstrategien

Aus meiner Jugend auf Rügen, um die Jahrtausendwende. Schon mit 10 oder 11 war es selbstverständlich, Fluchtpläne zu haben für Orte, wo man lang musste und bekannt war, dass Nazis dort rumhängen. Falls die einem auf die Fresse hauen wollen. #baseballschlägerjahre

Du wechselst an der Umsteigehaltestelle vom Nachtbus die Klamotten, damit sie Dich nicht gleich auf den ersten Blick erkennen (…).

Bin jahrelang nachts immer mit dem Fahrrad gefahren, um schneller abhauen zu können. #baseballschlägerjahre

Als in den frühen 90ern hinter der Erfurter Krämerbrücke div. Subbkulturen schon aus Selbstschutz gemeinsam den Sommer verbrachten, gab es Radpatrouillen zum nahen Nazitreff.

Wir spielten '92 im besetzten Haus Zwickau. Man klingelte, im 2. Stock öffnete sich ein Fenster. Wenn alles save war, öffnete sich die gepanzerte Tür. Auf dem Dach stand ein 20l Weinballon, Molotowcocktail. Bei massiven Angriff wäre der gekippt worden. #baseballschlaegerjahre

Schönstes Nazi-Erlebnis war aufm Zeltplatz. Glatzen hatten schon paar Stunden Leute terrorisiert. Kumpel kam, dessen Bruder Eishockey spielte. Rief an. 30min später gingen ein Dutzend Erfurter Eishockey-Spieler auf Nazi-Jagd. Rest des Zelt-Urlaubs war sehr entspannt.

Silvester in Guben war am schlimmsten, wenn mensch bunte Haare hatte, Punk war oder nicht ins Bild passte. Habe mit 14 angefangen Karate zu trainieren und war immer mindestens mit Reizgas bewaffnet – hatte einfach Angst und Glück: mir ist nie etwas passiert, aber vielen Freunden.

1996, nach Ende der Ausbildung und mit Jobangebot in einer Großstadt bin ich dann aus meinem Dorf im Erzgebirge/Sachsen weggezogen – hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. #baseballschlaegerjahre

Viele Tweets verweisen auf Copingstrategien der Tarnung und des Abtauchens, der Schleichwege und Meldeketten, die angesichts dieser Gewalt entstanden. Aber auch Strategien der Gegengewalt kommen zur Sprache.

Langzeitprägungen

Noch immer mustere ich aufmerksam jede grölende Männergruppe, die irgendwo steht und checke das Gefahrenpotential. Wer nicht aufmerksam ist, kassiert leicht mal – sowas vergisst man nicht wieder. #baseballschlaegerjahre

Aufgrund mehrfacher #Nazi-Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln benutze ich diese bis heute kaum. Bis heute fährt die Angst mit. Mich haben die #baseballschlaegerjahre nachhaltig geprägt.

Ich war 16 (1994) und mit einer Gruppe jüngerer Kinder im Thüringer Wald zelten. Nachts kamen die Skins, um unseren Teil des Campingplatzes 'aufzumischen'. Der Platzwart schloss sich ein. Wir versteckten uns im tiefen Wald. Nachts. Soviel Angst hatte ich nie wieder.

Wer Jahre und Jahrzehnte alltäglich drohender rechter Straßengewalt ausgesetzt war und dabei die alptraumhafte Erfahrung einer daran desinteressierten gesellschaftlichen Mitte gemacht hat, hat oft auch psychische Narben aus dieser Zeit mitgenommen. Mir bleibt bis heute ein schwer zu fassendes Grundgefühl der Angst erhalten, eine Unsicherheit bis hin zur Panik in Situationen, die anderen völlig normal erscheinen. Auch unter dem Hashtag finden wir Beschreibungen solch ungewollt erlernter Wahrnehmungsweisen.

Kein abgeschlossenes Kapitel

Die Tweets unter #baseballschlägerjahre sind das bedrückende Abbild einer generationellen Teilerfahrung, die – darauf deuten auch die medialen Reaktionen hin – bis dato offenkundig nicht in den gesamtdeutschen Kanon Eingang gefunden hatte. Es war für viele nach 30 Jahren immer noch etwas Neues, die Alltagspraxis rechtsextremer Hegemonie geschildert zu bekommen. Das ist bemerkenswert, weil die Gewaltfähigkeit und die Präsenz der rechtsextremen Straßenkultur im Osten auch schon Anfang der 1990er Jahre im Westen bekannt gewesen war. Sie war zu Zeiten von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu einem Thema von Nachrichten, Reportagen und Dokumentationen geworden. Sie war filmisch und literarisch verarbeitet und fast schon zu einem Klischee von Ostdeutschland geronnen. Doch offensichtlich existierte die Erzählung vom rechten Osten nur als Bild eines tumben, rückständigen Täters. Dass der rechte und rassistische Terror im Osten auch Opfer hatte, dass er vor allem dort Menschen traumatisierte, das war hingegen offenkundig kaum angekommen – übrigens auch nicht bei jenen Journalisten und Politikern, die die Verankerung der extremen Rechten und ihrer Diskurse im Osten heute noch als historisch gewachsenen Konservatismus missdeuten.

Gleichzeitig konterkarierten die Baseballschlägerjahre auch das ostdeutsche Gegennarrativ. Seit der Wiedervereinigung hält sich die – vor allem ostdeutsche – Behauptung, die Ostdeutschen sollten durch eine Stigmatisierung als "rechts" erniedrigt werden, es solle letztlich ihre gleichberechtigte Teilhabe an gesamtdeutschen Debatten verhindert werden, indem ihnen eine demokratische Rückständigkeit unterstellt werde. Dieser Verdacht wird inzwischen sogar von manchen ostdeutschen Linksliberalen vorgetragen. So wird die Beobachtung und Thematisierung der extremen Rechten wieder zunehmend politisiert und zum Ausdruck einer linken oder "westdeutschen" Agenda umgedeutet.

Eine Zeitlang, zwischen dem langsamen Verschwinden der Skinhead-Kultur Anfang der 2000er und dem Aufkommen der flüchtlings- und islamfeindlichen Proteste Mitte der 2010er Jahre, konnte man, wenn man nicht genau hinschaute, tatsächlich glauben, die Baseballschlägerjahre seien ein düsteres, aber abgeschlossenes Kapitel der Wiedervereinigung. Heute kann es keinen Zweifel mehr daran geben, dass sich die Zustände mancherorts sogar noch verfinstert haben.

Ja, es gibt ostdeutsche Städte, die es geschafft haben, nicht nur rechte Strukturen in unterschiedlichem Maße zurückzudrängen, sondern auch eine Atmosphäre zu kreieren, in der die gesellschaftliche Mitte gegen Rassismus und rechte Gewalt vorgeht: Leipzig, Jena, Rostock, auch meine Heimatstadt Frankfurt an der Oder und viele andere. An anderen Orten aber brennen wieder die Geflüchtetenunterkünfte und alternativen Jugendzentren. In vielen Mittel- und Kleinstädten und Dörfern bestehen wieder – oder immer noch – Angsträume auf den Straßen. Hinzu kommen heute soziale Netzwerke und Messengerdienste als Hassverstärker. Viele Politiker, die sich gegen rechten Hass wehren, erleben regelmäßig Drohungen und physische Attacken. Journalisten, Alternative, People of Color und Schwarze müssen vor allem bei Demonstrationen gegen Geflüchtete, Corona-Maßnahmen und Russlandsanktionen um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten. Ein Mehrgenerationen-Rechtsextremismus marschiert zusammen mit einer wütenden ostdeutschen Bürgerlichkeit, der es letztlich komplett egal ist, wer da mit ihr zum Sturz des Systems aufruft. Die Baseballschlägerjahre sind nicht vorbei, im Gegenteil. In manchen ländlichen Räumen haben sich mehr oder minder alle Handlungsstränge dieser Zeit verstärkt.

So sind die allermeisten Täter und Mitläufer von damals mittlerweile in ihren Vierzigern und Fünfzigern, weder verschwunden noch bereuen sie. "Die Bomberjacken-Skinheads und 'Reenies' der 1990er-Jahre sind heute fast bieder wirkende Eltern, die im Alltag wenig auffallen, aber ihre Kinder zu asylbewerber:innenfeindlichen Demonstrationen oder 'Spaziergängen' gegen die angebliche 'Corona-Diktatur' mitnehmen – oder in der lokalen Nachbarschaftsgruppe auf Facebook oder auf Instagram mit Shirts von Rechtsrock-Bands posieren, wahlweise Katzenbilder oder rassistische Slogans posten."

Betroffene der Baseballschlägerjahre, die oft auch wegen dieses Terrors ihre Heimat verlassen haben, müssen immer wieder feststellen, dass es an vielen dieser Orte kaum eine Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit gegeben hat. Als hätte es all die Schläge und Schläger nie gegeben. Als sei aus dieser Straßen-Nazikultur nicht auch Terrorismus wie der des NSU entstanden. Was geblieben ist, ist der Unwille vieler Bürgermeister und Landräte, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Auch ich bekomme in meiner Arbeit als Journalist noch heute von manchen ostdeutschen Politikern und Journalisten zu hören, dass ich den Osten schlechtschreiben würde. Doch solange die Mitte diese Traumata nicht sieht und die Mechaniken der Normalisierung ignoriert, wird in diese Regionen auch kein nennenswerter Zuzug entstehen. Solange werden solche Gegenden mit jedem Abiturjahrgang viele ihrer jüngeren, gebildeteren Einwohner verlieren.

Und das hat Folgen. Ob im Erzgebirgskreis, im Eichsfeld, in Mittelsachsen, im sächsischen Dreiländereck oder der Lausitz, ob in Städten wie Eisenach oder Anklam: Extrem rechte Akteure müssen dort mit vergleichsweise wenig Widerstand rechnen. Denn jahrzehntelange Abwanderung hat, verbunden mit Desinteresse und Abwehrdiskursen der Mitte angesichts rechter Einschüchterungspraktiken, diese Gegenden zu sicheren Rückzugsräumen für sie gemacht. In jüngerer Zeit kommt noch hinzu, dass rechtsextreme Akteure aus dem Westen Deutschlands diese Regionen entdecken. Ein rechter Immobilienboom ist im Gang, und damit ein sich selbst verstärkender Kreislauf, der sich eigentlich nur durch ein Zuzugswunder zerschlagen ließe, das gerade viele dünnbesiedelte strukturschwache Räume angesichts des grassierenden Arbeitskräftemangels ohnehin bräuchten.

Die einzige Möglichkeit, eine Verhärtung der ländlichen Räume des Ostens zu Zonen der Unzugänglichkeit zu verhindern, sind Menschen, sehr viele Menschen. Ob die kommen, hängt aber entscheidend damit zusammen, ob Lehren aus den Baseballschlägerjahren gezogen werden. Ob Opfer geschützt, ob Täter verfolgt und isoliert werden, ob Polizei und Justiz, Politik und Medien das Thema ernst nehmen. Im Augenblick sieht es eher danach aus, als würden die Fehler aus den 1990er Jahren einer nach dem anderen wiederholt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hendrik Bolz, "Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf". Jugend im Osten, in: Der Freitag 41/2019, S. 21.

  2. Es gab vor und nach diesem Tweet Menschen, die die ostdeutsche Nachwendezeit und ihre rechten Gewaltexzesse aus der Sicht ihrer Opfer und Betroffenen thematisierten. Es gibt Daniel Schulz und Testo, Manja Präkels, Katharina Warda und viele andere. Es hatte auch zuvor schon Peter Richter, Clemens Meyer und Ingo Hasselbach gegeben. Heute gibt es unzählige andere – und aktuellere – Zeugnisse dieses Lebensgefühls als ostdeutscher Teenager, wie etwa das Buch "Unter Nazis" von Jakob Springfield, der die Präsenz rechter Gewalt im heutigen Zwickau beschreibt. Über all diese Entwicklungen im Westen schrieb Norbert Frei in seinem Buch "Zur rechten Zeit".

  3. Vgl. Friedemann Schwenzer, #baseballschlägerjahre. Ostdeutschland erinnern, Masterarbeit, Universität Potsdam 2021.

  4. Vgl. ebd.

  5. Siehe zum Beispiel das Projekt "MigOst. Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen": Externer Link: http://www.damost.de/projekte/migost/ueber-das-projekt.

  6. Vgl. Schwenzer (Anm. 3).

  7. Axel Salheiser/Matthias Quent, Rechtsextremismus zwischen Normalisierung und Konfrontation: Befunde aus Eisenach, in: Daniel Mullis/Judith Miggelbrink (Hrsg.), Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen, Bielefeld 2022, S. 165–182, hier S. 165. Mit "Reenies", auch "Renees", sind rechte Skinhead-Frauen gemeint (Anm. d. Red.).

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ist Redakteur im Ressort Politik, Wirtschaft, Gesellschaft bei "Zeit Online". 2017 erschien sein Roman "Oder Florida" im Piper-Verlag.
E-Mail Link: christian.bangel@zeit.de