Solange Menschen diesen Planeten bevölkern, kommen Drogen unterschiedlicher Art zum Einsatz. Die Kulturgeschichte legt an vielen Stellen mehr oder weniger geschwätzig Zeugnis davon ab: Met und Bier, Hanf und Opium, Peyote und Meskalin, Tabak, Myrrhe, Weihrauch, Kaffee, Tee, Betel, Khat, Kräuter- oder Kokablätter – um nur einige zu nennen – faszinieren die Menschen, seit diese irgendeinem Konzept von Genuss anhängen. Mal sind Drogen ein heiliges Medium religiöser Erweckung, mal Mittel einer karnevalesken Umwertung aller Werte. Mal liefern sie eine kollektiv-ekstatische Sinnstiftung, mal dienen sie dazu, die Mühen des Alltags erträglicher zu machen: Stoffe, die mehr tun als Hunger stillen und Durst vertreiben, sind fest verbaut im kulturellen Erbe der Menschheit.
Heute wird diese Vielheit an Mitteln und Motiven des Konsums jedoch häufig reduziert und stattdessen vor allem eine Verknüpfung zwischen Drogenkonsum und Gefahr nahegelegt. Die politische Problematisierung psychotroper Substanzen begann in der Frühen Neuzeit: Anfang des 17. Jahrhunderts war es dem osmanischen Sultan Murad IV. unerträglich, dass die Tabak- und Kaffeehäuser nicht nur Orte des entsprechenden Konsums, sondern zugleich Zentren öffentlicher Diskussion und mithin Orte der Kritik und Opposition geworden waren. Daher ließ er 1633 alle Tabakhäuser niederreißen und belegte das Tabakrauchen mit der Todesstrafe. Bei der Fahndung bediente er sich moderner Methoden, etwa der verdeckten Ermittlung und des Scheinkaufs. Das Vermögen der Hingerichteten fiel an den Sultan.
Bis ins 19. Jahrhundert waren Trink- oder Rauchverbote jedoch selten. Seither allerdings rückten Droge und Gefahr immer näher aneinander, vermittelt etwa von der Vorstellung, alle Drogen führten unweigerlich zur Sucht und damit in den Ruin. Wann immer gegenwärtig von Drogen oder gar von "Rauschgiften" gesprochen wird, scheint die Gefahr also nicht weit. Die wissenschaftlich schwer haltbare, aber langlebige Rede von den Einstiegsdrogen ist Beleg dafür – tatsächlich gibt es keine belastbare Empirie, die zeigen würde, dass der Konsum der einen Droge häufig zur nächsten und damit tiefer hinein ins Drogenproblem führt. Wer so argumentiert, hat die schiefe Bahn im Blick, den Absturz, der – für alle, die einmal angefangen haben – nur mit viel Aufwand oder gar nicht zu vermeiden ist. Die Drogenaufklärung in Schulen mag bisweilen neue, sinnvolle Wege eingeschlagen haben. Der eigentliche und vordringliche Grund ihrer Notwendigkeit bleibt dennoch meist zentral: die Gefahr.
Die Geschichte des Drogenkonsums ist jedoch vielfältig, und seine breit gestreuten Praktiken haben nur vermittelt, sequenziell oder teilweise mit Sucht und sozialem Abstieg zu tun. Hinzu kommt: Wann immer Menschen aus der sozialen Ordnung fallen, waren Drogen schlimmstenfalls ein Katalysator, selten bis nie aber der eigentliche Grund. Der renitente Verweis auf Drogen als Ursache sozialer Schieflagen hat daher eher den Charakter eines griffigen und lange geübten Ablenkungsmanövers: Wer Drogen zur Verantwortung zieht, muss über strukturelle gesellschaftliche Schieflagen nicht reden.
Daher wird es möglicherweise Zeit, den Blick umzukehren und nach den vielen und weit gestreuten Motiven für Drogenkonsum zu schauen. Schließlich ist die Sache mit den Drogen eine Art unendliche Geschichte, trotz aller Kreuzzüge und horrenden Aufwands im sogenannten war on drugs. Die folgenden Zeilen versammeln – selbstredend ohne Anspruch auf Vollständigkeit – eine Reihe unterschiedlicher Gründe, warum Menschen zu Drogen greifen oder gegriffen haben. Dabei entfaltet sich ein Kaleidoskop unterschiedlicher Episoden, deren Sammlung allein verdeutlichen könnte, wie verkürzt die unmittelbare Kopplung von Drogen, Sucht und Gefahr in ihrer zeitgenössischen Ausprägung ist. Aus dieser Richtung besehen, also losgelöst von der vieles überlagernden Problemwahrnehmung, zeigt sich womöglich ein anderer Zusammenhang oder mindestens ein Anfangsverdacht: Welche Drogen Mode sind und wie Staaten und Gesellschaften mit ihnen umgehen, könnte Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse sein.
Das soll freilich nicht heißen, dass Drogen keine Abgründe reißen können, dass bestimme Konsummuster bisweilen zu Gewohnheiten führen und mittel- bis langfristig der Gesundheit zusetzen. Das allerdings ist nur ein Weg unter vielen, nur ein mögliches Muster, das zudem beständig mit sozialen und ökonomischen Ausgrenzungen und politischer Repression von Jugendkulturen zu tun hat. Die Droge ist nur ein Faktor. Der fast ausschließliche Blick auf die Praxis der Sucht und die Sozialfigur des Junkies hat jedoch das ganze Themenfeld Drogen und Rausch in Verruf gebracht und für eine teils bizarre Prohibitionspraxis gesorgt.
Zum Wohle!
Die illustre Reise durch das Dickicht verschiedener Drogenkonsumgründe hat unzählige mögliche Anfänge und Stationen. Die folgenden Passagen berauschter Überschreitung stehen zugleich für nichts repräsentativ, sie zeigen nur, dass unterschiedliche Deutungen möglich sind. Einen beliebigen, aber interessanten Startpunkt liefert ein Rundschreiben der Pariser Theologischen Fakultät aus dem Jahr 1444, das eine von heute besehen irritierende Motivation für gelegentliches, aber reichliches Trinken liefert. Dort heißt es, dass "Torheit" die angeborene "zweite Natur" des Menschen sei, und "Weinfässer platzen, wenn man nicht von Zeit zu Zeit den Deckel öffnet und Luft hineinlässt. Wir, die Menschen, sind schlecht gefertigte Weinfässer, die vom Wein der Weisheit platzen, wenn dieser in ununterbrochener Gärung von Andacht und Gottesfurcht gelassen wird. Deshalb lassen wir an bestimmten Tagen die Torheit (Narrheit) in uns zu, dass wir danach mit umso größerem Eifer zum Gottesdienst zurückkehren."
Die regelmäßigen Trinkgelage waren demnach also gleich doppelt notwendig: Sie entsprachen zum einen der menschlichen Natur und waren zum anderen unerlässlich, um gottgerecht leben und der Weisheit nachjagen zu können. Das trunkene Fest, das alle Kontemplation und Gottesfurcht konterkariert, gehörte hier somit der religiösen Ordnung an. Die kulturgeschichtlich bedeutsame Tradition des Fests, also einer "Zeit zwischen den Zeiten", hat seine letzten Ausläufer im heutigen Karneval. Allerdings spricht wenig dafür, dass noch viel übrig ist von der Radikalität der Umwertung, vom Charakter der substanziellen Auszeit.
Etwas mehr als ein Jahrhundert später dürfte der Hofmarschall Hans von Schweinichen, von dem Tagebuchaufzeichnungen überliefert sind, ähnlich besoffen gewesen sein, allerdings aus ganz anderen Gründen. Auch er war den "Tränen Gottes" (Lacrimae Christi)
Zu den Motiven von Schweinichens lässt sich freilich nur spekulieren. Nach einer Notwendigkeit der Natur, einer ritualisierten Festlichkeit oder gar nach einer Bedingung für religiöse Weisheit klingt es kaum. Vielmehr dominiert eine Art sportiver Konkurrenz ohne tiefere Bedeutung, so wie sie auch heute noch vielfach anzutreffen ist.
"Ohne allen Schaden"
Während von Schweinichen ein soziales Gefüge beschrieb, das seine Adaption an den Alkohol anscheinend verlangte, sind ähnliche Prozesse auch im Hinblick auf Gesundheitsaspekte überliefert. Zedlers Universallexikon etwa, eine Art Wissensspeicher des 18. Jahrhunderts, verriet, dass man "Opium in zieml. Menge ohne allen Schaden mit grossem Vortheil" nutzen könne. Dass Opiumkonsumenten "nicht davon haben können abstehen", dass sie es also nicht lassen können und, nach moderner Diktion, süchtig werden, ist bekannt. Allerdings sei das kein Problem, genau umgekehrt: "Denn wenn man giftiger Dinge lange Zeit gewohnet, so tun sie der Natur keinen Schaden."
An diesem Punkt verschwimmt freilich die Grenze zwischen Medikament und Droge. Genau genommen konturiert sich diese Grenze so oder so nur anhand unterschiedlicher Konsummotive. Fast alle Drogen waren oder sind auch Medikamente – es hängt also vom Einsatzgebiet und dem Grund der Einnahme ab. Opiate etwa, zu denen bekanntlich auch Heroin zählt, sind sehr lange schon und heute immer noch wichtige Stoffe in der Medizin.
Wie historisch unterschiedlich Motive, Praktiken und ihre Einordnung als (Drogen-)Problem sind, zeigt auch ein Leserbrief, den eine ältere Frau 1888 an die Fachzeitschrift "The Chemist and Druggist" schickte. Darin heißt es: "Seit 30 Jahren nutze ich Morphium regelmäßig. (…) Diese in den meisten Fällen so schädliche Medizin hat meiner Vitalität ganz und gar nicht geschadet. Noch hat es in irgendeinem Maß meine Lebhaftigkeit reduziert, die sehr ähnlich zu jungen Frauen ist, obwohl ich mittlerweile 67 Jahre alt bin. Meine Lebensfreude ist ausgezeichnet, ich bin weder so ausgezehrt noch abgemagert wie die meisten anderen, die diese Behandlung erfahren haben. (…) Das einzige Übel, das vermutlich von dieser Medizin herrührt, ist, dass ich konstant an Körperfett zulege. Ich wäre äußerst dankbar, wenn einer Ihrer Experten so nett wäre, mich darüber zu informieren, ob meine Zunahme an Fettgewebe eine natürliche Folge des Morphiumkonsums ist."
Aus medizinischen Gründen war die Autorin dieser Zeilen in eine Opiumgewohnheit hineingeraten, die heute das Etikett schwerstabhängig bekäme. Zugleich deutet einiges darauf hin, dass das Bild der typischen Süchtigen ("weder so ausgezehrt noch abgemagert wie die meisten anderen") eher ein mediales Schreckgespenst denn eine reale Erfahrung oder Beobachtung war (und ist). Worauf die Frau rekurriert, ist letztlich nicht aufzuklären. Aber die am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Suchtdebatte war getragen von Stereotypen und überzeichneten Figuren,
Der Leserbrief zeigt zwei Dinge recht anschaulich: Einerseits wird erkennbar, wie sich eine moderne Suchterzählung einschleicht und beginnt, die Dinge umzuwerten. Die Autorin war noch ganz im viktorianischen England verhaftet, das wenig Berührungsängste kannte, was Opium angeht. Zugleich nahm sie aber schon die neuen Zeiten einer ausufernden Problematisierung von Drogen zur Kenntnis – schon um sich davon abzugrenzen. Andererseits zeigt die Quelle auch, dass Suchtdebatten mit ihrer typischen Pauschalität und ihrem Fokus auf den Zwangscharakter des Konsums für die Motive gewissermaßen blind oder zumindest weniger empfänglich werden. Die gleiche Konsumpraxis, also regelmäßig und hochdosiert, kann viele unterschiedliche Gründe haben.
Zwischen Erleuchtung und Rebellion
Ein anderes Spektrum an Motiven für den Drogenkonsum entfaltet sich um Versuche, der Erkenntnis mit psychotropen Substanzen auf die Beine zu helfen. Während im mittelalterlichen Rundschreiben betont wurde, dass die weinselige Torheit nur den Ausgleich liefert, um zu allen anderen Zeiten nach Weisheit zu streben, hat die unmittelbare Verknüpfung von Drogen und Erkenntnis eine lange Geschichte. Das altgriechische Symposion (lateinisch: Symposium) steht für ein geselliges Trinken in Gemeinschaft, in dessen Folge tiefsinnige und vielleicht philosophische Gespräche mit Erkenntnisgewinn entstehen. Der Begriff hat sich in der Welt der Wissenschaft erhalten, auch wenn heutige Ausgaben eher mit Nüchternheit glänzen. Dass es immer wieder "Symposien" zur Alkoholsucht gibt, ist vermutlich eine ungewollte Pointe.
Neuere Versionen der Verknüpfung von Droge und Erkenntnis stellen weniger auf gesellige Situationen denn auf individuelle Erfahrungen ab. Zu einem guten Teil haben wir dies der romantischen Eroberung der Drogen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verdanken.
Seither gibt es viele Varianten tiefsinniger, umfassender, absoluter, paradiesischer und beständig weltbewegender Einsichten im Rausch. Der Schriftsteller Charles Baudelaire trat restlos aus der nur subjektiven Position heraus und wurde zur Pfeife, die ihn raucht, nur um anschließend das falsche Paradies kennenzulernen.
Weiter geht die Reise über den Lebensphilosophen Ludwig Klages,
Manchmal sollten der Erkenntnis auch Taten folgen. Einige, die "die Wahrheit" gesehen hatten oder glaubten, sie gesehen zu haben, wollten diese revolutionär nutzen und mithilfe von Stoffen eine andere Gesellschaft wachküssen. Leary etwa war der Auffassung, die kybernetisch-biologische Evidenz, also die unvermittelte Wahrheit der DNS, die das LSD angeblich unweigerlich und unbestreitbar ins Bewusstsein rufe, müsse zwingend dazu führen, dass die Menschen die lächerliche Maske namens Subjekt abstreifen und den Kapitalismus zwangsläufig überwinden würden. "Turn on, tune in, drop out" war der entsprechende Leitspruch der psychedelischen Revolution – die jedoch ausblieb. Und der Dichter Allen Ginsberg, ein Beat – also Hipster – der ersten Stunde, erklärte seinem Beat-Kollegen Jack Kerouac am Telefon: "Ich bin high und nackt, und ich bin der König des Universums", um anschließend den psychedelischen Umsturz anzetteln zu wollen.
Nicht immer ging der bedröhnten Rebellion die totale Einsicht voraus. Bisweilen war und ist Drogenkonsum auch ohne tiefere Schicht eine mehr oder weniger rebellische Absage an die Normen der Gesellschaft, an den Status quo, verbunden mit dem Versuch, Freiheitsspielräume auszudehnen. Der Schriftsteller William S. Burroughs und die erwähnten Beats etwa nutzten Drogen als Provokation, als Antithese und Mittel, die puritanische Zwangsjacke der homophoben McCarthy-Ära der 1950er Jahre zu sprengen. Und nach der berauschten Euphorie der 1960er Jahre trat das Motiv der Erleuchtung ohnehin in den Hintergrund. Punk wurde zur neuen Antithese: eine Rebellion ohne Revolution – aber mit Drogen. Drogenkonsum kann also auch schlicht davon motiviert sein, sich von der Elterngeneration abzugrenzen und das eigene Nein! zur Langeweile des Spießerlebens mit einer dicken Tüte zu unterstreichen. Selbst die Rave- und Technobewegung der 1990er Jahre hatte solche Elemente des Aufbegehrens, schon weil ältere Semester nicht verstehen wollten, was diese "endlos wummernde Musik" soll. Erneut machte sich eine Jugendkultur breit, die den Eltern ein Schnippchen schlagen und anders sein wollte, Drogenkonsum inklusive.
Optimiert Euch!
Berauschte Erkenntnisse hatten Konjunktur – gegenwärtig haben sie sich eher in versprengte Esoterikzirkel zurückgezogen. Und seit der "neue Geist des Kapitalismus" die Rebellion zum Modus der Akkumulation, also die kreative Klasse zur Triebkraft des Kapitals gemacht hat,
In der Spätmoderne zeichnete sich für Drogenkonsum ein anderer Ort beziehungsweise eine andere, funktionale Kontur ab, die gleichwohl beständig umstritten blieb. Bereits seit den 1990er Jahren "entwickeln sich avantgardistische Perspektiven, die sich mit ganz neuen Arten und Dynamiken von kontrollierter Lusterzeugung und funktionalem Genießen beschäftigen".
Subjekt, Substanz, Gesellschaft
Das hier gezeichnete, vielgestaltige Bild von Motiven oder Gründen für Drogenkonsum ist wahrlich nicht vollständig. Weitere Themen wären: Drogen zum Zweck der kriegerischen Enthemmung – etwa Pervitin, ein Metamphetamin, das im Zweiten Weltkrieg massenhaft von Wehrmachtssoldaten genutzt wurde, um Angstgefühle zu mindern und die Leistungsfähigkeit zu steigern –, Drogen zum Verdrängen sozialpsychologischen Ballasts, Drogen zur Beschleunigung, um das Tempo der Gegenwart und des Beats halten zu können, oder Drogen gegen die Langeweile des schnöden Alltags. Bei genauerer Betrachtung verschwimmen die unterschiedlichen Kategorien: Freizeit und Arbeit, kontrollierter Konsum und Abhängigkeit, harte und weiche Drogen oder Medikament und Droge. Keines dieser Paare bleibt auf Dauer ein echter Gegensatz.
Das Dreieck aus Subjekt, Substanz und Gesellschaft, mit dessen Hilfe der Schweizer Historiker Jakob Tanner die Wissensgeschichte des Suchtkonzepts im 20. Jahrhundert einzufangen und aus den Fängen medizinischer Selbstgewissheiten herauszulösen versucht,
Ohne Zweifel mischen sich Motive häufig, die Wirklichkeit des Drogenkonsums lässt es kaum zu, die Dinge sauber zu entziffern. Und oft genug wissen Konsument:innen selbst nicht ganz genau, warum sie was nehmen. Und dennoch sollte deutlich geworden sein, dass die Verkettung von Drogen, Gefahr und Sucht einem historischen Blick nicht standhält. Der starke Fokus auf das Problem der Drogen hinterlässt bisweilen den Eindruck eines Ablenkungs- oder Ausweichmanövers. Hin und wieder wurden Drogen der allgemeinen Ordnung durchaus gefährlich, beispielsweise im Kontext der Counterculture der 1960er Jahre. Das führte jeweils zu einem heftigen Schwall reißerischer Antidrogenpropaganda, die mit aller Macht die Gefahren in den Vordergrund schob und keine Hemmungen hatte, Lügen zu verbreiten (etwa was angebliche Chromosomenschäden durch LSD angeht).
Eine Art Phänomenologie unterschiedlicher Motive und Praktiken ist daher eine wichtige Sache. Besonders dann, wenn die Rolle der Gesellschaft im Dreieck mit Subjekt und Substanz Beachtung findet. Das ganze Themenfeld Drogen und Drogenkonsum könnte schließlich als eine Art Seismograf für unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse dienen. Einem etwas abgegriffenen Sprichwort nach hat jede Gesellschaft die Modedroge, die sie verdient. Diese Blickrichtung könnte ein ganzes Panorama an Deutungen bereithalten. Während üblicherweise nach dem Einfluss von Drogen auf die Gesellschaft gefahndet wird (etwa: "Was macht Crystal Meth mit den Leuten?"), wäre es spannend zu fragen, welchen Einfluss die Gesellschaft auf Drogen nimmt, welche Drogen also wann gehäuft, zu welchem Zweck und aus welchen sozialen oder politischen Gründen zum Einsatz kommen. Die viel diskutierte Opioidkrise in den USA erscheint dann vielleicht als Ausdruck einer heftig deprimierenden Zeit, die sich besser mit Sedativa ertragen lässt. Schnelles Koks für Topleistungen oder Gras für mehr Kreativität sind dann nicht mehr die Mittel der Wahl, sondern das schmerzstillende Opioid Oxycodon oder das angsthemmende Benzodiazepin Xanax, um den Irrsinn des Spätkapitalismus oder wenigstens die allenthalben spürbaren Transformationsschmerzen einer im Übergang begriffenen Gesellschaft zu ertragen.
Dieser Text ist eine umgearbeitete und ergänzte Fassung des Artikels "Erinnern, vergessen, anpassen, ausbrechen: Drogenkonsum und seine Motive", der im Suchtmagazin 3/2020 erschien (Externer Link: www.suchtmagazin.ch).