Es ist keine neue Erkenntnis, dass die deutsche Bildungslandschaft von erheblichen sozialen Ungleichheiten geprägt ist. Die strukturelle Privilegierung bestimmter Gruppen hat bisher jedoch wenig Aufmerksamkeit erhalten. Dabei spielen Privilegien im Bildungsbereich eine bedeutende Rolle – sowohl als Phänomen als auch als Gegenstand diskriminierungskritischer Bildung. Im Folgenden werden Erscheinungsformen von Privilegien im formalen Bildungsbereich beispielhaft als Ausdruck von Diskriminierung beschrieben und die Bedeutung dieser Privilegien für die Reproduktion, aber auch für den Abbau von Diskriminierung diskutiert.
Bevorzugung gehört wie die Benachteiligung zur Diskriminierung. Ein binäres „Privilegiert-oder-benachteiligt-Schema“ hilft bei der Analyse jedoch nicht weiter: Kein Mensch ist nur privilegiert oder nur benachteiligt. Privilegierung und Benachteiligung beziehen sich häufig auf verschiedene Aspekte der Identität, etwa Geschlecht, Klasse, Behinderung, Alter, sexuelle Orientierung oder Rassifizierung. Beispielsweise ist Rassismus mit der Privilegierung Weißer verbunden, Ableismus mit der Besserstellung nichtbehinderter (ableisierter) Menschen und Klassismus mit der Bevorteilung von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht. Je nachdem, welche Diskriminierungsform im Fokus steht, sind verschiedene kollektive Identitäten auch für das individuelle Selbstverständnis relevant. Viele Menschen, die aufgrund eines bestimmten Merkmals als privilegiert beschrieben werden, fühlen sich gesellschaftlich nicht bevorteilt, weil sie aufgrund eines anderen Merkmals möglicherweise selbst Diskriminierung erfahren.
Aus der Perspektive der Kritischen Weißseinsforschung werden Privilegien mit Blick auf White Privilege differenziert thematisiert. Weiße bilden keine homogene Gruppe: Ihre Lebenserfahrungen im Hinblick auf soziale Machtverhältnisse sind komplex; außer Rassismus können sie jede Form von Diskriminierung erleben sowie weiteren dominanten Gruppen angehören. Weiß-Sein bedeutet also eine begrenzte Gemeinsamkeit durch das Nicht-Erleben rassistischer Diskriminierung bei vielfältigen sonstigen Unterschieden.
So besitzen eine weiße Studentin aus einer Arbeiterfamilie und ein weißer Professor gleichermaßen weiße Privilegien in der Hochschule.
Dies zeigt: Ein verkürzter identitätspolitischer Blick ist unzureichend, um komplexe Macht- und Ungleichheitsverhältnisse im Bildungsbereich zu verstehen. Gleichzeitig ist es nicht so, dass wir alle ein bisschen privilegiert und ein bisschen diskriminiert sind. Eine solche Sicht verleugnet bestehende gesellschaftliche Schieflagen. Unbestreitbar gibt es Gruppen, die mehr Privilegien genießen als andere, wie insbesondere wohlhabende weiße ableisierte heterosexuelle Männer im mittleren Alter. Sie sind mehrfach, oder besser, vielfach privilegiert. Die verschiedenen privilegierten Identitätsanteile wirken im Hinblick auf soziale Teilhabechancen verstärkend: Eine mehrfach privilegierte Person hat eine soziale Position, die mit deutlich mehr Teilhabechancen in der Gesellschaft verbunden ist, als sie etwa ein mehrfach diskriminierter Mensch hat. Beispielsweise ist der Weg zur Hochschulreife und zur Professur für mehrfach Privilegierte weniger durch strukturelle Gegebenheiten begrenzt. Auch wenn es die ein oder andere Professorin of Color gibt, sieht die Realität bis heute so aus, dass (nicht nur) im Hochschulbereich wichtige Machtpositionen vor allem von weißen Männern besetzt sind und der Schwarze Professor aus dem genannten Beispiel eher die Ausnahme ist.
Privilegien als Ausdruck von Diskriminierung
Privilegien im Bildungsbereich zeigen sich auf vielfältige Weise auf verschiedenen Ebenen, etwa in pädagogischen Interaktionen und institutionellen Strukturen. Sie beeinflussen die Erfahrungen ihrer Träger*innen weitreichend. Für diejenigen, die sie besitzen, sind sie jedoch oft unsichtbar und selbstverständlich. Die Norm ist, Privilegien nicht zu thematisieren. Die Psychologin Ursula Wachendorfer spricht mit Blick auf Weiß-Sein als privilegierte Position zurecht von einem „Konsens des Beschweigens und Dethematisierens“ in einem „weißen Amnesieraum“.
Zur strukturellen Privilegierung vieler Kinder in der frühkindlichen Betreuung führen beispielsweise bessere Zugangsmöglichkeiten für ableisierte Kinder, für Kinder ohne Migrationsgeschichte oder für Kinder, deren Bezugspersonen über genügend Geld für die Betreuung verfügen. Ein mangelndes Bewusstsein für Diskriminierungen in Kitas führt zum Privileg, dass Kinder, die dominanten Gruppen angehören, im Kitaalltag als „normal“ wahrgenommen werden. Hingegen müssen marginalisierte Kinder immer wieder mit stereotypen Zuschreibungen rechnen und werden aufgrund der Abwesenheit von Privilegien als „anders“ behandelt und konstruiert.
Das Privileg, als Teil dominanter Gruppen als normal betrachtet zu werden, zieht sich durch das gesamte Bildungssystem. Im Kita-, Schul- und Hochschulalltag erfahren Weiße, ableisierte Menschen und Akademikerkinder ein unhinterfragtes Zugehörigkeitsgefühl, eine Art Willkommenskultur, Vertrautheit und Sicherheit. In der Kita sind es etwa Kinderbücher, Lieder und Spielzeug, die die Annahme eines „Normalseins“ von weiß, ableisiert und der Mittelschicht angehörig transportieren können. In der Schule sind es unter anderem Schulbücher, die privilegierten Schüler*innen eine Auswahl an positiv besetzten Identifikationsfiguren anbieten, die wie sie privilegiert sind. In der Hochschule sind es mitunter Studieninhalte, die Wissensbestände repräsentieren, die privilegierte Menschen als Norm darstellen, zentrieren und aufwerten.
Das alles wirkt sich positiv auf die Identifikation privilegierter Personen mit den Bildungseinrichtungen aus. Hinzu kommen weitere positive Identifikationsangebote für sie: So können sich weiße und ableisierte Lernende im mehrheitlich ableisierten weißen Personal repräsentiert sehen. Die ständige Konfrontation mit Privilegien, darunter aufwertende Vorurteile (etwa als begabt oder sozial-emotional kompetent zu gelten), kann die Motivation, die Identifikation mit den Bildungszielen und die Leistung fördern. Zum Beispiel werden Jungen und Männer in naturwissenschaftlichen Fächern privilegiert, wenn sie als fähiger und interessierter als Mädchen und Frauen angesehen werden. Weiße Schüler*innen aus Akademikerfamilien haben es leichter, höhere Bildungsziele zu erreichen, wenn sie als motivierter und begabter angesehen werden als Schüler*innen of Color aus sozial benachteiligten Familien.
Privilegien begünstigen den Bildungsverlauf. Sie machen es Schüler*innen und Studierenden leichter, den Anforderungen in der Schule und im Studium gerecht zu werden und halten für sie mehr Chancen bereit. Einige Privilegien sind direkt mit Leistungsbewertungen verbunden. So ist der schulische Bildungserfolg eng an die soziale Herkunft und den Migrationsstatus gekoppelt: Ein deutsch klingender Name oder eine Herkunft aus der Mittel- oder Oberschicht machen es wahrscheinlicher, dass Lehrkräfte Leistungen besser bewerten. Weiß zu sein und einer höheren Schicht anzugehören, erhöht deutlich die Chancen, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen. Neben höheren Leistungserwartungen und besseren Leistungsbewertungen durch die Lehrenden existieren zahlreiche weitere Privilegien, die weniger bekannt sind. Beispielsweise müssen weiße Schüler*innen in Testsituationen keine Angst haben, dass andere, falls ihre Leistungen schwach ausfallen sollten, ihre rassistischen Stereotype darin bestätigt sehen. Weil sie keine negativen Stereotype über Weiß-Sein verinnerlicht haben, kann sich dies nicht auf ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit auswirken und nicht zu Leistungseinbußen führen. Sie verspüren keinen Druck, sich gegen die rassistischen Vorurteile anderer beweisen zu müssen. Ihre weißen Privilegien helfen ihnen dabei, als Individuen betrachtet zu werden, und Rassismus in der Schule mindert nicht ihre Chancen auf ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl.
Die systematische Bevorteilung geht weiter: Wer aus einer Akademikerfamilie stammt, keine Migrationsgeschichte hat und ohne Behinderung lebt, schafft es auch leichter an die Hochschule. Im Studienverlauf sind ein höherer ökonomischer Status der Eltern und ableisiert zu sein erhebliche Vorteile. Gründe sind unter anderem bessere Finanzierungsmöglichkeiten, eine größere Vertrautheit mit dem System Hochschule und nicht wie andere von fehlender Barrierefreiheit und Beratung sowie unzureichender Nachteilsausgleiche oder bürokratischer Hindernisse betroffen zu sein.
Diskriminierung ist zudem tief in die Hochschule als Ort der Wissensproduktion eingeschrieben. So ist beispielsweise Rassismus Bestandteil der westlichen Wissensproduktion. Der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha weist darauf hin, dass Hochschulen „rassistische Problemzonen“ sind: „Universitäten produzieren und verhandeln gesellschaftlich anerkanntes Wissen. Der Ausschluss von gesellschaftlich diskriminierten Gruppen aus der Wissensproduktion wirft in Folge der gegenseitigen Abhängigkeit von Wissen und Macht epistemologische, wissenschaftstheoretische und letztlich auch demokratische Legitimierungsprobleme auf.“
Weiße Studierende haben das Privileg, dass ihnen ein Wissenschaftsverständnis präsentiert wird, das Menschen, die wie sie weiß sind, unmarkiert höherstellt. Das kann ihre Motivation erhöhen, eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen. Weiße Studierende studieren nach Curricula, bei deren Gestaltung das Werk und die Biografien von Wissenschaftler*innen im Zentrum standen, die wie sie weiß sind. Sie studieren überwiegend Texte, die von Autor*innen stammen, Perspektiven von Menschen wiedergeben und Menschen adressieren, die weiß sind. Außerdem können sie studieren, ohne Stress durch Rassismus ausgesetzt zu sein, ohne dadurch psychische Belastungen zu erleben, die ihre wissenschaftliche Produktivität und ihren Lernerfolg beeinträchtigen können. Ihr Weiß-Sein führt nicht dazu, dass sie nach Lehrveranstaltungen Wut oder Frustration empfinden oder darüber nachdenken, das Studium abzubrechen. Es bewirkt nicht, dass bei Gruppenarbeiten andere ihre Ideen ignorieren oder sie keine Partner*innen für die Zusammenarbeit finden. Aufgrund ihres Weiß-Seins schreiben andere ihnen Intellekt zu, und ihre Leistungen werden deshalb nicht schlechter bewertet. Der Rassismus untergräbt ihr Vertrauen in die Lehrkräfte und den Wissenschaftsbetrieb nicht, er mindert auch nicht ihre Bildungs- und Leistungsmotivation.
Privilegien als Bedingungsfaktor von Diskriminierung
Macht- und Ungleichheitsverhältnisse lassen sich nicht monokausal erklären. Sie sind Ergebnis des komplexen Zusammenwirkens vielfältiger Faktoren. Dabei spielen Privilegien eine entscheidende Rolle. Im Bildungsbereich wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen sind Privilegien nicht nur Ausdruck von Diskriminierung, sondern auch eng mit ihrer Reproduktion verbunden. Die individuelle und die institutionelle Ebene greifen dabei ineinander. Als soziale Phänomene sind Diskriminierungen niemals gänzlich anonym, ihr Fortbestehen liegt immer in der (kollektiven) Verantwortung von Menschen. Und aufgrund hierarchischer gesellschaftlicher Strukturen kommt dabei einigen mehr Verantwortung zu als anderen.
Wachendorfer erklärt, dass es sich bei der Reproduktion der weißprivilegierten Position um eine „weiße Strategie (…), die hegemoniale Machtstrukturen zum Verschwinden bringt“, handelt.
Auch wenn keineswegs alle weißen Menschen rassistische Überzeugungen vertreten, sind Weiße immer weißprivilegiert. Schließlich macht die Privilegierung gegenüber People of Color durch das Nicht-Erleben von rassistischer Benachteiligung Weiß-Sein als soziale Position überhaupt erst aus. Weißen fehlt es also an Erfahrungswissen zu Rassismus. Dies trägt dazu bei, dass es ihnen oftmals schwerfällt, Rassismus zu erkennen. Gerade aus privilegierter Position wird Diskriminierung häufig nicht bewusst wahrgenommen, sodass verinnerlichte diskriminierende Vorurteile leicht das Denken und Handeln prägen können. Wiederum ist eine diskriminierungskritische Position nicht von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe abhängig. Zu behaupten, alle Weißen handelten rassistisch, ist eine verkürzte Generalisierung, die zudem Veränderungen von vornherein ausschließt. Diskriminierungskritisches Handeln ist aus jeder sozialen Position heraus möglich. Allerdings bedingen die unterschiedlichen sozialen Positionen verschiedene Perspektiven auf das Kritisierte und eröffnen unterschiedliche Handlungsspielräume. Genauso, wie es Betroffene gibt, die sich für diskriminierungskritisches Handeln wenig interessieren, gibt es Privilegierte, die sich genau dafür einsetzen, sei es als Erzieher*in, Lehrkraft, Professor*in oder Bildungspolitiker*in. Der wichtige Punkt ist: Es sind noch zu wenige. Denn genauso können wir festhalten: Oft ist diskriminierungskritische Praxis nicht das oberste Anliegen. Sonst wäre das Problem möglicherweise bereits gelöst.
Benachteiligungen abzuschaffen, heißt gleichzeitig, Vorteile aufzugeben – ein Thema, das für Privilegierte unbequem ist. Die Bildungsforschenden Benjamin Edelstein und Simone Grellmann beschreiben das Bildungssystem als „Verteilungsinstanz von Status und sozialen Privilegien“, weshalb jegliche Reformdiskussion um den Abbau von Bildungsungleichheiten mit Verteilungskonflikten einhergehe: „Die Plätze auf dem sprichwörtlichen Sonnendeck der Gesellschaft sind begrenzt und wer oben ist, will es auch bleiben. Die Bildungschancen benachteiligter Gruppen zu verbessern, heißt jedoch unweigerlich, die Konkurrenz zu erhöhen. Und da haben all jene, die gegenwärtig zu den Bessergestellten gehören, durchaus etwas zu verlieren.“
So ist es die Norm, nicht über die Hauptakteur*innen von Diskriminierung und den Beitrag der privilegierten Kollektive zu sprechen. Es erscheint weitgehend uninteressant, von wem Diskriminierungen ausgehen, warum das so ist und welche Rolle Privilegien dabei zukommt. Das Sprechen über Diskriminierung im Alltag wirkt häufig so, als hätte sie nichts mit sozialen, historisch gewachsenen Machtverhältnissen und Interessen zu tun – auch hier werden strukturelle Probleme individualisiert. Hinzu kommt die prominente universalistische Perspektive, dass alle Menschen an der Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse teilhaben und deshalb hierfür verantwortlich seien. Wachendorfer kommentiert: „Eine Binsenweisheit, die gesellschaftliche Strukturen gleichzeitig unsichtbar macht.“
Privilegien im Bildungsbereich versprechen mehr Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe. Ein hohes Bildungsniveau hat positive Auswirkungen auf nahezu alle Lebensbereiche – nicht nur auf Beschäftigungschancen und Karrieremöglichkeiten, sondern unter anderem auch auf Wohnverhältnisse, Gesundheit und Lebenserwartung.
Ebenso sind in vielen Bildungseinrichtungen die machtvollen Positionen mit dem größten Einfluss auf potenzielle diskriminierungskritische Öffnungsprozesse oft mit vielfach privilegierten Menschen besetzt. Ihre Entscheidungen und Handlungen schreiben sich immer wieder in die trägen, aber theoretisch jederzeit veränderbaren organisatorischen Einrichtungsstrukturen ein. Auch deshalb können wir beispielsweise von weißen Strukturen der Schule und Hochschule sprechen. Auch Diversität ist kein Garant für diskriminierungssensible Bildungsräume. Verantwortliche, egal wie sozial positioniert sie sind, verfügen nicht automatisch über diskriminierungskritische Handlungskompetenz. Der Weg hierhin kann jedoch für (vielfach) privilegierte Menschen als vergleichsweise voraussetzungsvoll beschrieben werden. Diversität und Repräsentation sind also wichtig, in strukturellen Veränderungsprozessen jedoch nur ein Baustein von vielen. Ob in einem homogenen oder diversen Umfeld: Privilegierte Führungskräfte sollten sich für das Gelingen des diskriminierungskritischen Öffnungsprozesses besonders verantwortlich fühlen; dazu gehört, sich selbst in diskriminierungskritische Lernprozesse zu begeben.
Die meisten privilegierten Kinder, Schüler*innen und Studierenden lernen in Kita, Schule und Hochschule unbewusst, dass sie ihre Privilegien als selbstverständlich und normal betrachten können. Das prägt und beeinflusst ihre Wahrnehmung anderer Menschen und der Welt, womit Vorurteile und folglich auch diskriminierende Handlungsweisen fortgeschrieben werden. Entgegen der meritokratischen Leitidee der demokratischen Leistungsgesellschaft, nach der allein Fähigkeiten und Fleiß über die berufliche Karriere entscheiden, ist es für privilegierte Lernende zudem wahrscheinlicher, dass sie sich im Arbeitskontext in Schlüsselpositionen wiederfinden, die über institutionelle Verhandlungen von Diskriminierung (mit)entscheiden. Das zeigt einmal mehr: Gerade aufgrund der institutionellen Verankerung von Diskriminierung kommt privilegierten Personen große Verantwortung für diskriminierungskritisches Handeln zu. Der Satz „Diskriminierung geht uns alle an“ ist nicht zuletzt deshalb wahr, weil Privilegierte ihr Verhalten ändern müssen. Privilegien sind vor allem ein Thema für die Privilegierten, das sie zu diskriminierungskritischem Handeln auffordert.
Privilegien in Bildungsprozessen
Die Auseinandersetzung mit Privilegien ist elementarer Bestandteil diskriminierungskritischer Bildungsarbeit. Erst wenn Privilegien erkannt werden, wird Diskriminierung greifbar und lässt sich definieren, was notwendig ist, um ihr zu begegnen. Im Hinblick auf diskriminierungskritische Bildungsprozesse mit dem Ziel der Veränderung komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse zeigt sich abermals, dass das Sprechen über Privilegien mehr braucht als ein simples Schwarz-Weiß-Schema, das der gesellschaftlichen Realität nicht gerecht wird. Diskriminierungskritische Bildungsarbeit schreibt Personen nicht verkürzt ein gesellschaftliches Privilegiertsein zu, sondern befähigt Lernende dazu, die eigenen Erfahrungen unter Diskriminierung einordnen zu können: Wie beeinflussen die verschiedenen Diskriminierungsformen mich? Wo bin ich selbst negativ betroffen, wo privilegiert? Welche Privilegien besitze ich? In welchen Lebensbereichen und Situationen wiegen welche Identitätsanteile wie schwer? Wie beeinflusst meine soziale Position meine Wahrnehmung, meine Gefühle, Denk- und Handlungsweisen? Welchen Anteil haben meine Privilegien daran? Ebenso wichtig ist Wissenserwerb zur Verknüpfung der verschiedenen Diskriminierungsformen auf gesellschaftlicher Ebene. Wie die Soziologin Emma Dabiri fordert, brauchen wir „weniger ein Verständnis von Intersektionalität von Identitäten als vielmehr ein Verständnis von der Intersektionalität von Problemen“.
Das Nachdenken und Hinterfragen von Privilegien zielt auf die Förderung einer selbstreflexiven diskriminierungskritischen Haltung ab, um sich der Bedeutung der eigenen Privilegien für das eigene Denken, Handeln und Fühlen bewusst zu werden. Hierauf kann dann wiederum diskriminierungskritisches Handeln aufbauen. Zu erkennen, dass man von strukturellen Privilegien und der Benachteiligung anderer profitieren kann, obwohl die eigene Lebenslage vielleicht misslich ist, kann unbequem sein. Es widerspricht einem positiven Selbstbild und kann Schuld- und Schamgefühle hervorrufen. Abwehrreaktionen sind häufig beobachtete Begleiterscheinungen des Lernens über Privilegien. Wer nicht offen für selbstreflexive und -kritische Lernprozesse ist, wird sich jedoch kaum tiefergehend mit Privilegien beschäftigen. Im Bildungsprozess ist es daher wichtig, das eigene Interesse an Diskriminierungskritik ehrlich zu hinterfragen.
Die Frage steht im Raum: Was haben Privilegierte davon, sich gegen Diskriminierung zu wenden, die ihnen selbst Vorteile bringt? Diskriminierungskritische Bildungsarbeit kann zum Lernprozess motivieren, indem sie zum Beispiel die Nachteile thematisiert, die aus der Privilegierung auch für Privilegierte erwachsen. Sie kann verdeutlichen, dass es um Zugewinn im eigenen Interesse geht, nicht zuletzt aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit verschiedener gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Machtverhältnisse, die uns alle betreffen.
Reflektierte Privilegien als Chance
Es reicht nicht, die eigenen Privilegien zu (er)kennen. Es geht zusätzlich darum, herauszufinden, wie mit ihnen produktiv umgegangen werden kann, um Machtverhältnisse zu verschieben – und sie somit als Chance zur Veränderung zu begreifen. Diskriminierungskritisches Handeln schließt ein, Privilegien als Ressource zu nutzen. Diskriminierungskritische Bildungsarbeit zeigt dafür Wege auf. Der praxisorientierte Ansatz des Powersharing verweist auf die Notwendigkeit, „sich selbst und die eigenen individuellen und strukturellen Positioniertheiten und Privilegien, die unsichtbaren und gleichzeitig beständig wirkmächtigen Platzanweisungen zu vergegenwärtigen und die sich daraus ergebenden Verantwortungen ernst zu nehmen“.
Die Privilegienreflexion bleibt auf halber Strecke stehen, wenn Menschen auf eine Facette ihrer sozialen Positioniertheit festgeschrieben werden. Nehmen wir White Privilege: Weiße besitzen, unter anderem aufgrund von Geschlechterverhältnissen, sozioökonomischen Ungleichheiten und Generationsverhältnissen, nicht alle den gleichen Zugang zu Macht. Manche verfügen über umfangreichere Ressourcen als andere. So haben Weiße nicht alle die gleichen Handlungsspielräume, wenn es darum geht, Privilegien gegen Diskriminierung zu nutzen. Kommen wir zur konkreten Praxis, wird es also kompliziert. Denn das theoretische Verständnis der Privilegierung eines sozialen Kollektivs bezieht sich weniger auf Individuen als auf die systematische Bevorteilung einer Gruppe. Hinzu kommt, dass auch betroffene Gruppen, wie People of Color, über ein unterschiedliches Ausmaß an Privilegien und Macht verfügen. Es gibt keine einfache Anleitung dafür, wie Privilegien gegen Diskriminierung einzusetzen sind. Was das persönlich bedeuten kann, kann jede*r nur für sich selbst herausfinden. Dies wird von unseren vielschichtigen sozialen Positioniertheiten genauso wie etwa von beruflichen Arbeitsbedingungen festgelegt.
Das Sprechen über Privilegien sollte jedoch nicht in einer individualisierten Perspektive verharren. Stattdessen gilt es, auch die institutionelle Diskriminierung in den Blick zu nehmen, um auch hier Handlungswege ausfindig zu machen. Weil Diskriminierung ein systemisches Problem ist, geht es auch im Bildungsbereich darum, die institutionelle Machtverteilung zu vergegenwärtigen und zu durchbrechen. Den Ausgangspunkt bilden individuelle diskriminierungskritische Bildungsprozesse. Organisationen und bildungspolitische Akteur*innen stehen in der Verantwortung, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen und Mitarbeitenden praktisch wahrnehmbare Reflexions- und Bildungsräume zu eröffnen. Diskriminierungskritisches Handeln gehört zur Professionalität von Lehrenden, die mit ihrem diskriminierungskritischen pädagogischen Auftrag nicht alleingelassen werden dürfen. Ihre Reflexion von Privilegien, Haltung und Praxis ist Voraussetzung für den Abbau von Diskriminierungen im Bildungsbereich.
Fazit
Ausgehend vom bildungspolitischen Ziel, allen Lernenden beste Bildungs- und Teilhabechancen zu ermöglichen, ist es notwendig, verschiedene Erfahrungen sozialer Gruppen im Bildungsbereich zu thematisieren. Privilegien sind dabei explizit zu benennen. Das Sprechen über sie soll und darf das Sprechen über Benachteiligungen nicht ersetzen, sondern muss dieses ergänzen. Privilegien zu thematisieren heißt, über Diskriminierung zu sprechen, ihre Komplexität anzuerkennen und sie begreifbar zu machen. Ohne Frage bedarf der Abbau von Diskriminierung im Bildungsbereich einer politisch-gesellschaftlichen Gesamtstrategie, bei der Bildungsarbeit wiederum ein zentraler Baustein ist. Privilegien sind ein wichtiges Thema für Bildungsforschung, -praxis und -politik, weil sie sowohl für die Reproduktion als auch für den Abbau von Diskriminierung bedeutsam sind.
Privilegierte Menschen tragen im Bildungsbereich Verantwortung dafür, dass sich Diskriminierungen wiederholen. Sie stehen chancenreich ausgestattet in der Verantwortung, Diskriminierungen zu begegnen. Es braucht vermehrt Diskurse, die sich mit dieser Bedeutung von Privilegien im Bildungsbereich auseinandersetzen. Dabei sind die interdependenten Verschränkungen der verschiedenen Formen von Diskriminierung mitzudenken. Nur auf diese Art und Weise lassen sich nachhaltige und wirkungsvolle Strategien gegen Diskriminierung im Bildungsbereich entwickeln.