Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Privateigentum als Privileg | Privilegien | bpb.de

Privilegien Editorial Neustart der Privilegienkritik. Ein Plädoyer Privilege Studies. Einführung und Überblick Gerechtigkeit durch Ungleichbehandlung? Eine rechtshistorische Betrachtung des Privilegs White Privilege. Das gute Leben auf den Schultern der Anderen Privateigentum als Privileg Erscheinung und Gegenstand: Privilegien im Bildungsbereich Vom Nutzen und Schaden eines Begriffs. Kleine Diskursgeschichte des „Privilegs“

Privateigentum als Privileg

Silke van Dyk

/ 15 Minuten zu lesen

Privateigentum unterstellt individuellen Verdienst, wo tatsächlich viele beigetragen haben. Es ist das Privileg permanenter Verschuldung an der Gesellschaft, ohne die Schuld je begleichen zu müssen. Ein Hebel dagegen sind mehr öffentliche Infrastrukturen.

Privilegien haben eine lange Geschichte und sind im Sprachgebrauch allgegenwärtig. Im lateinischen Wortursprung (privilegium) bezeichnen sie das Sonderrecht beziehungsweise Ausnahmegesetz und waren historisch bestimmten Gruppen qua Geburt und sozialem Status vorbehalten; die Summe der Privilegien bildete die Grundlage der ständisch verfassten gesellschaftlichen Ordnungen der Frühen Neuzeit. Dass die feudale Privilegienstruktur seit der Aufklärung und im Zuge der kapitalistischen Modernisierung sukzessive aufgebrochen wurde, dass Gleichheitsnormen und Leistungsprinzipien in die Begründung und Legitimierung sozialer, politischer und ökonomischer Ordnungen Einzug hielten, ist vielfach beschrieben worden. Privilegien als unverdiente, häufig ererbte Vorteile wurden zunehmend erklärungs- und legitimationsbedürftig.

Diese Entwicklung ist nicht damit zu verwechseln, dass Privilegien verschwanden – sie veränderten vielmehr ihren Charakter. Sexistische und rassistische Ungleichheitstheorien erlebten einen Aufschwung, um das neue Gleichheitsideal mit der real existierenden Ungleichheit in Übereinstimmung zu bringen; zugleich gewann mit dem aufkommenden Industriekapitalismus ein Privileg an Bedeutung, das bis heute selten als solches benannt wird: das Privateigentum.

Normalisierung und Verdienst

Es hat sich eine doppelte Dynamik der Unsichtbarmachung von Privilegien etabliert, die auf gegenläufigen Prinzipien beruht, die gerade in ihrem Zusammenspiel die Beharrungskraft von Privilegien in postfeudalen Verhältnissen bedingen: Dies ist zum einen die Normalisierung von Privilegien, die gerade nicht als etwas Besonderes – als „Sonderrecht“ im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung –, sondern als Normalität begriffen werden, von der alles Abweichende als Besonderes, abgewertetes Anderes unterschieden wird. Lange bevor soziale Bewegungen dafür eingetreten sind, nicht nur die Diskriminierung der „Anderen“, sondern auch die Privilegien derjenigen zu thematisieren, die alltäglich davon profitieren, die „Eigentlichen“ zu sein, haben Autor:innen wie W.E.B. Du Bois und Simone de Beauvoir bereits die Privilegien des Weißseins und Mannseins analysiert.

Neben diese „Normalisierung“ des Mann- und Weißseins trat zum anderen das Prinzip der „Besonderung“, das heißt die Betonung von (besonderer) Leistung als Legitimationsgrundlage der ungleichen Verteilung von Macht und Ressourcen. Das Privileg als unverdienter Vorteil wird hier übersetzt in das Privileg als Verdienst. Da im Sinne der Normalisierung vor allem die Leistungen derjenigen Anerkennung fanden, die der Norm entsprachen, profitierten insbesondere bürgerliche weiße Männer in den Ökonomien des globalen Nordens von den un- und unterbezahlten Beiträgen der vielen anderen. Die Arbeit der Vielen, ihre Sorge, ihr Wissen und ihre Ideen nährten und mehrten den als individuelle Leistung gewürdigten Verdienst derjenigen, die als die eigentlichen Subjekte moderner Gesellschaften galten. Privilegien sind im Lichte dessen als „unsichtbarer, gewichtsloser Rucksack voll mit speziellem Proviant, Karten, Pässen, Codebüchern, Visa, Klamotten, Werkzeugen und Blankoschecks“ oder auch als Rückenwind beschrieben worden, der von allen, die ihn gewohnt sind, kaum wahrgenommen wird und auch von Dritten zumeist unbemerkt bleibt. Dabei sind Privilegien aber nicht einfach unsichtbar, sondern sie werden alltäglich entweder unsichtbar gemacht oder legitimiert. Durch die Normalisierung des Vorteils einerseits und seine Legitimation qua Leistung andererseits sind sie gewissermaßen doppelt geschützt.

Diese Konstellation wird seit den 1970er Jahren zunehmend herausgefordert: Soziale Bewegungen, progressive Parteien und kritische Intellektuelle haben wesentlich dazu beigetragen, die Normalisierung des Vorteils herauszufordern – insbesondere weiße und männliche Privilegien, aber auch die von Heterosexuellen oder Menschen ohne Behinderung. Die Beharrungskräfte diskriminierender Verhältnisse erweisen sich jedoch als beträchtlich; zugleich zeigt sich, dass jeder Erfolg im Kampf gegen Diskriminierung Gegenbewegungen mobilisiert. Gleichwohl ist es ein Fakt, dass sich der Vorteil derjenigen, deren Privilegien lange als normal wahrgenommen wurden, nicht mehr geräuschlos durchsetzt. Das zweite „Standbein“ von Privilegien – das Leistungsprinzip – erfreut sich zwar auch weiterhin großer Zustimmung, zugleich ist aber eine Entwicklung zu beobachten, die der Soziologe Sighard Neckel als „Refeudalisierung des modernen Kapitalismus“ beschrieben hat: Status und Besitz gewinnen als vorrangige Quellen von Reichtum, Anerkennung und Macht (wieder) an Bedeutung.

Zugleich wurde der politische Klassenkompromiss, von dem insbesondere die einheimische Arbeiterklasse in den kapitalistischen Zentren profitiert hatte, durch Privatisierungen, Sozialabbau und die Deregulierungen von Arbeitsmärkten und sozialen Rechten „von oben“ aufgekündigt. Der Soziologe Klaus Dörre hat mit seiner Diagnose einer „demobilisierten Klassengesellschaft“ die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Skandalisierung von Ausbeutungsverhältnissen keinen mit der Skandalisierung von Diskriminierung vergleichbaren Aufschwung erlebt hat. Wenn von Klasse die Rede ist, dann vor allem im Kontext von Klassismus als wichtiger Dimension klassenspezifischer Diskriminierung, die aber oft die ökonomische Ausbeutung vernachlässigt. Und wenn die Ungleichverteilung ökonomischer Ressourcen zum Thema wird, geht es meistens um die Verteilung von Erwerbs- und Transfereinkommen, während die extreme Konzentration von Eigentum und Vermögen politisch, medial und im Alltag unterbelichtet bleibt. Hier kommt eine Eigentumsvergessenheit zum Tragen, die ein Privileg par excellence verschleiert: das Privateigentum als unverdienter Vorteil und institutionalisiertes Klassenprivileg.

Die andere Umverteilung

Infolge der jahrzehntelangen De-Thematisierung von Eigentumsverhältnissen dominiert ein einseitiges Verständnis von (Um-)Verteilung: Umverteilung gilt weithin – und entgegen jeder empirischen Evidenz – als Synonym für eine Sozialpolitik zugunsten einkommensärmerer Bevölkerungsschichten und damit als Synonym für eine Verteilung von „oben“ nach „unten“. Tatsächlich aber wird vor allem in die entgegengesetzte Richtung umverteilt, nämlich von „unten“ nach „oben“. Und diese Dynamik hat einen Namen: Privateigentum. Privateigentum, verstanden als regulierte Verfügungsmacht über potenziell profit- und rentengenerierende Ressourcen, ist empirisch ebenso real, wie es eine wirkmächtige Fiktion ist: eine rechtlich, institutionell und alltagskulturell verankerte Fiktion, die auch dort individuellen Verdienst unterstellt, wo tatsächlich sehr viele Menschen beigetragen haben. Der kollektive Beitrag vieler Menschen, auch vorheriger Generationen, wird im Privateigentum unsichtbar gemacht – eine Dynamik, die Karl Marx und Friedrich Engels als Diskrepanz von gesellschaftlicher (Re-)Produktion und privater Aneignung beschrieben haben: „[D]as moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen (Mehrheit) durch die anderen (Minderheit) beruht.“

Tatsächlich geht es aber bei der privaten Aneignung nicht nur um die Ausbeutung von Lohnarbeit, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen verschärft, sondern auch um unter- oder unbezahlte Arbeit im Haushalt, in der Nachbarschaft und in der Zivilgesellschaft. Feministische Autor:innen haben seit den 1970er Jahren auf die „Sorglosigkeit“ des Kapitalismus hingewiesen, der auf soziale Ressourcen und Tätigkeiten angewiesen ist, die er nicht selbst zu erzeugen vermag. Kein Kind der Welt könnte allein nach Kriterien der Rentabilität zu einem lebensfähigen Menschen heranwachsen: „Es muss ein dieser Ökonomie Äußeres geben, das als unsichtbar Abgespaltenes kostenlos angeeignet werden kann.“ Was hier so abstrakt das „unsichtbar Abgespaltene“ heißt, sind im realen Leben Menschen, die alltäglich Sorge tragen, sich um andere kümmern und unter Bedingungen arbeiten, die mit einem regulären Erwerbsverhältnis wenig gemeinsam haben. Die Sozialphilosophin Nancy Fraser nennt sie „die Enteigneten“, und es zeigt sich, wie eng rassistische und sexistische Privilegien mit dieser Enteignung verwoben sind.

Der Beitrag der Vielen ist aber noch reichhaltiger: Er umfasst auch die Inwertsetzung ihres Wissens, ihrer Kommunikation und ihrer Daten, zumal in der digitalen Ökonomie. Ein kollektiver Anteil findet sich auch in der privaten Eigentumswohnung im trendigen Stadtteil, wo alltäglich viele dazu beitragen, dass die Umgebung attraktiv ist, während der Eigentümer von steigenden Mieten profitiert. Kollektiv sind auch die Beiträge, die die Patentierung von Saatgut und genetischen Ressourcen ermöglichen, wenn deren Entdeckung und Anwendung auf das Wissen lokaler, oft indigener Bevölkerungen zurückgeht. Und wenn Staaten mit Steuergeldern private Banken und Unternehmen „retten“, sozialisieren sie das unternehmerische Risiko, nicht jedoch die kollektiv erarbeiteten Profite. Dieser einseitige staatliche Interventionismus, der nicht nur bei der Bankenkrise ab 2008, sondern auch bei der Bearbeitung der Folgen der Corona-Pandemie eine zentrale Rolle gespielt hat, ist de facto eine Enteignung von Steuerzahler:innen. Die Beispiele zeigen: Es geht hier nicht um das individuelle Eigentum, das selbst genutzt wird, nicht um das heiß geliebte Rennrad, auch nicht um das Häuschen am Stadtrand oder die wertvolle Plattensammlung. Es geht um Privateigentum, das als Kapital verwertet wird, mit dem also Profite (zum Beispiel Unternehmensgewinne) und Renten (zum Beispiel Mieten und Renditen) abgeschöpft und soziale Kosten externalisiert werden – und zwar zulasten Dritter.

Privateigentum als Verschuldung an der Gesellschaft

Im Lichte dieser Dynamiken entpuppt sich das Privateigentum nicht nur als Privileg Weniger, sondern als Fiktion des individuellen Verdienstes. So konstatiert etwa der Ökonom Thomas Piketty: „Die Idee, es gebe strikt privates Eigentum, hält keiner Analyse stand. Akkumulation von Gütern ist stets Frucht eines sozialen Prozesses. Sie zehrt insbesondere von öffentlichen Infrastrukturen (…), von sozialer Arbeitsteilung und von Erkenntnissen, die von der Menschheit in Jahrhunderten gesammelt wurden.“ Dass die Fiktion des rein privaten Eigentum so wirkmächtig ist, hat viel mit der erfolgreichen Unsichtbarmachung des Anteils der vielen Nichteigentümer:innen zu tun. Viele produktive Aktivitäten sind im (post-)kolonialen Gefüge jenseits der kapitalistischen Zentren und außerhalb des eurozentrischen Aufmerksamkeitsfokus erzwungen oder aber erfolgreich als „Nichtarbeit“ gerahmt worden. Feminist:innen haben die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass unbezahlte weibliche Sorgearbeit als „Liebesdienst“ naturalisiert wird. Auch Aktivitäten in sozialen Netzwerken und auf digitalen Plattformen werden vorzugsweise als Hobby, Spiel, Engagement, Partizipation, Sharing oder Kommunikation gerahmt – nur dass genau damit wenige sehr reich werden können.

Privateigentümer:innen sind Schuldner:innen der Gesellschaft – wenn auch in historisch, kontextspezifisch und individuell unterschiedlicher Weise. Der Verschuldungsbegriff sensibilisiert im Sinne der dreifachen Wortbedeutung von Schulden erstens für den kausalen Zusammenhang, dass die Eigentumslosigkeit der Vielen ursächlich mit der privaten Aneignung durch wenige zusammenhängt; zweitens für die moralische Dimension der Schuld im Sinne der (fehlenden) Rechtfertigung der Aneignung; sowie drittens für die Verschuldung im finanziellen Sinne, der ein noch nicht realisierter Gläubigeranspruch gegenübersteht. Damit richtet sich der Blick nicht nur auf den Zusammenhang und das Spannungsverhältnis von gesellschaftlicher (Re-)Produktion und privater Aneignung, sondern auch auf ihren illegitimen, herrschaftsförmigen Charakter und ihre finanziellen Implikationen, die in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung schlicht fehlen. Hier wird der Gläubigeranspruch der vielen Menschen, die beigetragen haben, nicht nur nicht realisiert; die materiellen Ströme, die diesen Anspruch begründen würden, werden erst gar nicht erfasst. Privateigentum ist das Privileg permanenter Verschuldung an der Gesellschaft, ohne je zur vollständigen Rückzahlung aufgefordert zu sein.

Natürlich zahlen Eigentümer:innen Steuern, und ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es eine Frage von Kräfteverhältnissen ist, wie (stark) sie zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen werden. Seit den 1980er Jahren sind in den meisten Ländern des globalen Nordens – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – Unternehmen-, Erbschaft-, Vermögen- und Kapitalertragsteuern substanziell gesenkt oder sogar ganz abgeschafft oder ausgesetzt worden; die Vermögensteuer in Deutschland etwa 1997. Es ist aber nicht nur eine steuerliche Entlastung von Kapitaleigner:innen und Vermögenden zu konstatieren, sondern zudem eine Tendenz vom Steuerstaat zum Schuldenstaat: Der Ausfall privater Steuergelder für die Finanzierung öffentlicher Leistungen ist partiell durch öffentliche Verschuldung kompensiert worden. Und während die Problematisierung von Staatsschulden zu einem zentralen Argument gegen den Ausbau öffentlicher Infrastrukturen geworden ist, wird der Umstand, dass hinter jeder Schuld ein Vermögen steht, kaum thematisiert. Damit gerät aus dem Blick, dass der „Schuldenstaat“ Privateigentümer:innen (in der Regel) mit Zinsen bezahlt, statt ihr Vermögen über Steuern anteilig zu sozialisieren. Die De-Thematisierung der durch die Verschuldung genährten privaten Vermögen leitet das gängige Framing, dass der Staat über seine Verhältnisse lebe, während tatsächlich das Privateigentum auf Kosten der gesellschaftlichen Wohlfahrt wächst. Folge dieser Entwicklungen ist, dass immer größere Teile der Welt immer weniger Menschen gehören, wie der World Inequality Report belegt: 10 Prozent der Weltbevölkerung besitzen heute je nach Weltregion und Land zwischen 60 und 80 Prozent der Vermögenswerte; nirgendwo besitzt die untere Hälfte der Bevölkerung einen Anteil von mehr als 5 Prozent. Viele tragen zwar bei, haben aber keinen Anteil.

Solidarismus: Vom Privateigentum zum Sozialeigentum

Um nicht nur die im Privateigentum wurzelnde Verschuldung zu begreifen, sondern auch nach ihrer Begleichung zu fragen, ist ein in Deutschland weitgehend unbeachtetes sozialtheoretisches Erbe inspirierend: Der französische Solidarismus erlebte seine Hochphase um die Wende zum 20. Jahrhundert und verfolgte das Ziel, einen dritten Weg zwischen orthodoxem Wirtschaftsliberalismus und marxistischem Sozialismus zu finden. Die Theoriegeschichte des Solidarismus beginnt in den 1870er Jahren mit den Arbeiten des Sozialphilosophen Alfred Fouillée, der den hybriden Charakter von Eigentum stark machte: „Die einen sprechen dem Eigentum einen absolut individuellen, die anderen einen absolut sozialen Charakter zu. Für uns enthält das Eigentum, theoretisch betrachtet, zugleich einen individuellen und einen sozialen Teil, da jedes Produkt das gemeinsame Werk des Individuums und der Gesellschaft ist.“ Die Privateigentümer:innen haben sich Fouillée zufolge den ihnen nicht zustehenden sozialen Anteil (richesse collective) angeeignet und profitieren überproportional von den Erfindungen und Beiträgen anderer, insbesondere auch vorheriger Generationen. Um dem hybriden Charakter des Eigentums gerecht zu werden, entwickelte Fouillée das Konzept des Sozialeigentums, welches das individuelle Eigentum nicht ablösen, sondern ihm zur Seite gestellt werden sollte. Richtig bekannt wurde diese Idee jedoch erst ein Jahrhundert später durch die Rezeption des Soziologen Robert Castel. Seiner Zeit voraus, identifizierte Fouillée drei Formen des sozialen Eigentums, auf die alle Menschen als Anteil ihres kollektiven Erbes einen Anspruch haben sollten: Teilhabe an öffentlichen Diensten, Teilhabe an Bildung sowie Teilhabe an politischer Macht.

Zum bekanntesten Vertreter des Solidarismus avancierte der Jurist Léon Bourgeois, Leitfigur des 1901 gegründeten Parti républicain, radical et radicalsocialiste („Republikanische, radikale und radikal-sozialistische Partei“). Mit seiner Schrift „Solidarité“ verlieh er dem Solidarismus politische Kontur: Er griff das Motiv der sozialen Schuld auf und machte es zur Grundlage einer solidaristischen Gerechtigkeitstheorie, mit der sozialpolitische Leerstellen der marxistischen Theorie ausgeleuchtet wurden. Wörtlich heißt es: „Der Mensch wird als Schuldner der menschlichen Assoziation geboren.“ In Abgrenzung zu Theorien, die die soziale Schuld als conditio humana des Menschen begreifen, ging Bourgeois den entscheidenden Schritt von der moralischen zur rechtlichen Verpflichtung und stellte mit der Figur des Gläubigers die Verteilungsfrage: Wer profitiert in welcher Weise von dem, was andere hervorgebracht haben, und wie sind die Kapazitäten verteilt, das kollektive Erbe tatsächlich zu nutzen? In diesem Sinne sei es an der Zeit, eine soziale Rechnung aufzumachen: „Auf der einen Seite diejenigen, die im Besitz einer sehr großen Summe sozialer Vorteile sind und die davon profitieren, ohne wirklich ihre Schuld gegenüber allen bezahlt zu haben – und die dabei ihren Teil so verteidigen, als wäre es ihr Recht; sie begehen damit eine Hinterziehung.“ Diesen Privilegierten stünden auf der anderen Seite diejenigen gegenüber, „die um den größten Teil der sozialen Vorteile beraubt sind und das Gefühl haben, dessen Gläubiger zu sein – sie leiden, sie fühlen sich betrogen, sie beanspruchen ihren Anteil, aber sie können nicht genau das Ausmaß des Schadens ermessen, der ihnen zugefügt wurde, oder die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs kalkulieren“.

Wiederholt wies Bourgeois darauf hin, dass es unmöglich sei, die Höhe der Schuld individuell zu ermitteln, weshalb seine Antwort auf die ungleiche Verschuldung keine privat-, sondern eine sozialrechtliche ist. Der Solidarismus bietet damit eine starke normative Theorie zur Begründung sozialer Rechte und wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Besteuerung und Umverteilung von Ressourcen sind vor diesem Hintergrund nicht in erster Linie Gaben der „Starken“ an die „Schwachen“, die oftmals – wie die Geschichte der Sozialpolitik zeigt – mit einer Moralisierung von Bedürftigkeit einhergehen. Sie sind vielmehr rechtmäßig zu verlangende Rückzahlungen, da Bedürftigkeit und Vulnerabilität das Ergebnis der „Hinterziehung“ des kollektiven Anteils sind.

Vom privaten Privileg zur Institutionalisierung des kollektiven Anteils

Wie ließe sich für die Größenordnung dieser „Hinterziehung“ sensibilisieren? Zu Recht hat Thomas Piketty in seinem Weltbestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ konstatiert: „Von den Zahlen nichts wissen zu wollen, dient selten der Sache der Ärmsten.“ Eine Bezifferung von Schulden für vergangene Enteignung wird bislang vor allem für die (Nach-)Geschichte der Sklaverei diskutiert. Auch wenn diese extreme Form des Unrechts und der Enteignung nicht einfach mit den hier beschriebenen Dynamiken zu vergleichen ist, ist doch von den in diesem Kontext diskutierten (alternativen) Berechnungsmethoden einiges zu lernen. So ist es ein Unterschied, ob entgangene Lohnzahlungen und der Wert zerstörter Besitztümer kalkuliert oder ob mittels indirekter Indikatoren wie der Vermögensungleichheit die langfristigen Auswirkungen der Enteignung erfasst werden.

Ungeachtet der Versuche, die Höhe der sozialen Schuld begreifbar zu machen, ist und bleibt es der Wesenskern des Kapitalismus, von un(ter)bezahlten Beiträgen zu zehren, weshalb diese unter kapitalistischen Verhältnissen auch nicht annähernd kompensierbar sind. Hier liegt die Limitation des Solidarismus: Das Privateigentum wird in seinem hybriden Charakter zwar instruktiv problematisiert, der strukturellen Systematik der „Hinterziehung“ im Kapitalismus aber zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Daten zum kollektiven Anteil haben im Lichte dessen paradoxerweise die Funktion, die im finanziellen und übertragenen Sinne Unbezahlbarkeit des Kollektiven zu unterstreichen, ein diffuses Gefühl der Ungerechtigkeit mit Zahlen zu untermauern und damit Anhaltspunkte für Klassenauseinandersetzungen zu geben. Denn nicht nur die Höhe der Kompensation in Gestalt von „Sozialeigentum“ ist – wie die Geschichte zeigt – eine Frage der Kräfteverhältnisse; von diesen Kräfteverhältnissen hängt auch ab, ob eine Kritik, die das Privateigentum als Privileg Weniger problematisiert, gesellschaftlich (wieder) hörbar wird.

Eine solche Kritik würde nicht nur im Sinne einer Entschädigung fragen, wie sich ein Teil der Schulden rückwirkend begleichen lässt. Sie würde auch die Frage aufwerfen, wie das Privileg der nicht ausgewiesenen privaten Verschuldung an der Gesellschaft aufgebrochen und damit der Antrieb der Verschuldung gestoppt oder zumindest verlangsamt werden kann. Ein Ansatzpunkt ist es, jene gesellschaftlichen Bereiche auszuweiten, in denen nicht das Privateigentum und die Aneignung des Kollektiven durch Wenige, sondern das Prinzip des Bedarfs der Vielen leitend ist. Oder, knapper formuliert: Eine Antwort ist es, kollektive Formen für kollektive Anteile zu finden und diese sukzessive auszubauen. Ein wichtiger Hebel hierfür sind universelle, öffentliche und kollektive Infrastrukturen, etwa in den Bereichen Wasser- und Energieversorgung, Mobilität, Kommunikation, Gesundheit, Wohnen, Bildung und Kultur. Zu finanzieren sind sie über die Erhöhung beziehungsweise (Wieder-)Einführung von Vermögen-, Erbschaft-, Kapitalertrag- und Unternehmensteuern – verstanden als öffentliche Abschöpfung des privatisierten kollektiven Anteils.

Die Charakterisierung „universell“ zielt auf die allgemeine Zugänglichkeit, unabhängig von individuellen Beiträgen und Vorleistungen; „öffentlich“ adressiert die zentrale Rolle von Staaten und Kommunen bei der Erbringung, Regulierung und Gewährleistung; „kollektiv“ benennt das nicht nur in der Nutzung Geteilte, sondern das gemeinsam Gestaltete – und zielt damit auf konsequente Demokratisierung. Universelle, öffentliche und kollektive Infrastrukturen haben das Potenzial, die Expansion des Privateigentums auszubremsen, den unsichtbar gemachten kollektiven Anteilen eine adäquate kollektive Form zu geben und fundamentale gesellschaftliche Bereiche nicht an Profit und Wettbewerb, sondern an Bedarf und Teilhabe auszurichten. Sie setzen dabei nicht nur an den Treibern der Verschuldung an und bauen materielle wie gestaltende Privilegien ab, sondern sind zudem manifester Ausdruck des Anteils der Vielen und damit ein wesentliches Instrument zur Sichtbarmachung der gesellschaftlichen Wertschöpfung. Ansetzen kann hier auch eine Reformulierung der Maxime der Leistungsgerechtigkeit, die nicht nur die Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften leitet, sondern sich auch im Alltag großer Beliebtheit erfreut. Dabei ginge es nicht um eine Affirmation der Fiktion allein individueller Leistungsfähigkeit, sondern darum, den Leistungsfokus entindividualisierend gegen den Strich zu bürsten, die großen leistungslosen Anteile im Privateigentum und die korrespondierenden enteigneten Anteile der Vielen sichtbar und zur Legitimationsbasis eines kollektiven gesellschaftlichen Fundaments zu machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. W.E.B. Du Bois, Black Reconstruction in America, New York 1935; Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Hamburg 1951.

  2. Peggy McIntosh, White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack, in: Peace and Freedom Magazine, Juli/August 1989, S. 10ff.

  3. Vgl. Michael S. Kimmel, Introduction: Toward a Sociology of the Superordinate, in: ders. (Hrsg.), Privilege: A Reader, London 2018, S. 1–12.

  4. Vgl. Julia Baarck et al., Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland, Gütersloh 2022.

  5. Vgl. Sighard Neckel, Die Refeudalisierung des modernen Kapitalismus, in: Heinz Bude/Philipp Staab (Hrsg.), Kapitalismus und Ungleichheit, Frankfurt/M.–New York 2016, S. 157–174.

  6. Vgl. Klaus Dörre, Die demobilisierte Klassengesellschaft, Frankfurt/M.–New York 2024.

  7. Vgl. Andreas Kemper/Heike Weinbach, Klassismus. Eine Einführung, Münster 2009.

  8. Vgl. Silke van Dyk/Tilman Reitz/Hartmut Rosa, Nach dem Privateigentum? Güter, Infrastrukturen und Weltverhältnisse im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M.–New York 2024 (i.E.).

  9. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei [1848], Berlin 1989, S. 61.

  10. Adelheid Biesecker, Tätigsein in den Commons – Jenseits von Lohnarbeit und Geschlechterhierarchie, 18.10.2012, Externer Link: https://commonsblog.wordpress.com/wp-content/uploads/2008/04/biesecker-arbeit-geschlechtergerecht-denken-input.pdf.

  11. Vgl. Nancy Fraser, Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin 2024.

  12. Thomas Piketty, Eigentum auf Zeit. Elemente eines partizipativen Sozialismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2020, S. 113–120, hier S. 119.

  13. Vgl. Gisela Bock/Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hrsg.), Frauen und Wissenschaft, Berlin 1977, S. 118–199.

  14. Vgl. Thomas Macho, Bonds: Fesseln der Zeit, in: ders. (Hrsg.), Bonds – Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten, München 2014, S. 11–26.

  15. Hinzu kommen die hinterzogenen Steuern sowie die legale Steuerumgehung, die etwa in den USA dazu führen, dass Wohlhabende und Reiche signifikant weniger Steuern zahlen als die Mehrheit der Bevölkerung. Vgl. Emmanuel Saez/Gabriel Zucman, Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert, Berlin 2021, S. 74ff.

  16. Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013, S. 121ff.

  17. Lucas Chancel et al. (Hrsg.), World Inequality Report 2022, Cambridge 2022, S. 38.

  18. Für einen Überblick über das Werk zentraler Vertreter des Solidarismus vgl. Hermann-Josef Große Kracht, Solidarität und Solidarismus. Postliberale Suchbewegungen zur normativen Selbstverständigung moderner Gesellschaften, Bielefeld 2017.

  19. Alfred Fouillée, La propriété sociale et la démocratie, Paris 1884, hier: S. V, Übersetzung von Große Kracht (Anm. 18), S. 178.

  20. Vgl. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2008.

  21. Léon Bourgeois, Solidarität. Von den Grundlagen dauerhaften Friedens [1896], Berlin 2020, S. 41.

  22. Ders., Rapport au Congrès d’Éducation Sociale en 1900, in: ders., Solidarité, Lormont 2008, S. 104–120, hier S. 114.

  23. Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 793.

  24. Vgl. Ta-Nehisi Coates, The Case for Reparations, in: The Atlantic, Juni 2014; William Darity/A. Kirsten Mullen/Marvin Slaughter, The Cumulative Costs of Racism and the Bill for Black Reparations, in: Journal of Economic Perspectives 2/2022, S. 99–122.

  25. Ausführlich zu diesem Argument vgl. Silke van Dyk, Das Kollektive im Privaten, in: dies./Reitz/Rosa (Anm. 8).

  26. Vgl. Foundational Economy Collective, Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin 2019.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Silke van Dyk für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.