Privilegien haben eine lange Geschichte und sind im Sprachgebrauch allgegenwärtig. Im lateinischen Wortursprung (privilegium) bezeichnen sie das Sonderrecht beziehungsweise Ausnahmegesetz und waren historisch bestimmten Gruppen qua Geburt und sozialem Status vorbehalten; die Summe der Privilegien bildete die Grundlage der ständisch verfassten gesellschaftlichen Ordnungen der Frühen Neuzeit. Dass die feudale Privilegienstruktur seit der Aufklärung und im Zuge der kapitalistischen Modernisierung sukzessive aufgebrochen wurde, dass Gleichheitsnormen und Leistungsprinzipien in die Begründung und Legitimierung sozialer, politischer und ökonomischer Ordnungen Einzug hielten, ist vielfach beschrieben worden. Privilegien als unverdiente, häufig ererbte Vorteile wurden zunehmend erklärungs- und legitimationsbedürftig.
Diese Entwicklung ist nicht damit zu verwechseln, dass Privilegien verschwanden – sie veränderten vielmehr ihren Charakter. Sexistische und rassistische Ungleichheitstheorien erlebten einen Aufschwung, um das neue Gleichheitsideal mit der real existierenden Ungleichheit in Übereinstimmung zu bringen; zugleich gewann mit dem aufkommenden Industriekapitalismus ein Privileg an Bedeutung, das bis heute selten als solches benannt wird: das Privateigentum.
Normalisierung und Verdienst
Es hat sich eine doppelte Dynamik der Unsichtbarmachung von Privilegien etabliert, die auf gegenläufigen Prinzipien beruht, die gerade in ihrem Zusammenspiel die Beharrungskraft von Privilegien in postfeudalen Verhältnissen bedingen: Dies ist zum einen die Normalisierung von Privilegien, die gerade nicht als etwas Besonderes – als „Sonderrecht“ im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung –, sondern als Normalität begriffen werden, von der alles Abweichende als Besonderes, abgewertetes Anderes unterschieden wird. Lange bevor soziale Bewegungen dafür eingetreten sind, nicht nur die Diskriminierung der „Anderen“, sondern auch die Privilegien derjenigen zu thematisieren, die alltäglich davon profitieren, die „Eigentlichen“ zu sein, haben Autor:innen wie W.E.B. Du Bois und Simone de Beauvoir bereits die Privilegien des Weißseins und Mannseins analysiert.
Neben diese „Normalisierung“ des Mann- und Weißseins trat zum anderen das Prinzip der „Besonderung“, das heißt die Betonung von (besonderer) Leistung als Legitimationsgrundlage der ungleichen Verteilung von Macht und Ressourcen. Das Privileg als unverdienter Vorteil wird hier übersetzt in das Privileg als Verdienst. Da im Sinne der Normalisierung vor allem die Leistungen derjenigen Anerkennung fanden, die der Norm entsprachen, profitierten insbesondere bürgerliche weiße Männer in den Ökonomien des globalen Nordens von den un- und unterbezahlten Beiträgen der vielen anderen. Die Arbeit der Vielen, ihre Sorge, ihr Wissen und ihre Ideen nährten und mehrten den als individuelle Leistung gewürdigten Verdienst derjenigen, die als die eigentlichen Subjekte moderner Gesellschaften galten. Privilegien sind im Lichte dessen als „unsichtbarer, gewichtsloser Rucksack voll mit speziellem Proviant, Karten, Pässen, Codebüchern, Visa, Klamotten, Werkzeugen und Blankoschecks“
Diese Konstellation wird seit den 1970er Jahren zunehmend herausgefordert: Soziale Bewegungen, progressive Parteien und kritische Intellektuelle haben wesentlich dazu beigetragen, die Normalisierung des Vorteils herauszufordern – insbesondere weiße und männliche Privilegien, aber auch die von Heterosexuellen oder Menschen ohne Behinderung. Die Beharrungskräfte diskriminierender Verhältnisse erweisen sich jedoch als beträchtlich; zugleich zeigt sich, dass jeder Erfolg im Kampf gegen Diskriminierung Gegenbewegungen mobilisiert. Gleichwohl ist es ein Fakt, dass sich der Vorteil derjenigen, deren Privilegien lange als normal wahrgenommen wurden, nicht mehr geräuschlos durchsetzt. Das zweite „Standbein“ von Privilegien – das Leistungsprinzip – erfreut sich zwar auch weiterhin großer Zustimmung,
Zugleich wurde der politische Klassenkompromiss, von dem insbesondere die einheimische Arbeiterklasse in den kapitalistischen Zentren profitiert hatte, durch Privatisierungen, Sozialabbau und die Deregulierungen von Arbeitsmärkten und sozialen Rechten „von oben“ aufgekündigt. Der Soziologe Klaus Dörre hat mit seiner Diagnose einer „demobilisierten Klassengesellschaft“ die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Skandalisierung von Ausbeutungsverhältnissen keinen mit der Skandalisierung von Diskriminierung vergleichbaren Aufschwung erlebt hat.
Die andere Umverteilung
Infolge der jahrzehntelangen De-Thematisierung von Eigentumsverhältnissen dominiert ein einseitiges Verständnis von (Um-)Verteilung: Umverteilung gilt weithin – und entgegen jeder empirischen Evidenz – als Synonym für eine Sozialpolitik zugunsten einkommensärmerer Bevölkerungsschichten und damit als Synonym für eine Verteilung von „oben“ nach „unten“. Tatsächlich aber wird vor allem in die entgegengesetzte Richtung umverteilt, nämlich von „unten“ nach „oben“. Und diese Dynamik hat einen Namen: Privateigentum. Privateigentum, verstanden als regulierte Verfügungsmacht über potenziell profit- und rentengenerierende Ressourcen, ist empirisch ebenso real, wie es eine wirkmächtige Fiktion ist: eine rechtlich, institutionell und alltagskulturell verankerte Fiktion, die auch dort individuellen Verdienst unterstellt, wo tatsächlich sehr viele Menschen beigetragen haben. Der kollektive Beitrag vieler Menschen, auch vorheriger Generationen, wird im Privateigentum unsichtbar gemacht – eine Dynamik, die Karl Marx und Friedrich Engels als Diskrepanz von gesellschaftlicher (Re-)Produktion und privater Aneignung beschrieben haben: „[D]as moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen (Mehrheit) durch die anderen (Minderheit) beruht.“
Tatsächlich geht es aber bei der privaten Aneignung nicht nur um die Ausbeutung von Lohnarbeit, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen verschärft, sondern auch um unter- oder unbezahlte Arbeit im Haushalt, in der Nachbarschaft und in der Zivilgesellschaft. Feministische Autor:innen haben seit den 1970er Jahren auf die „Sorglosigkeit“ des Kapitalismus hingewiesen, der auf soziale Ressourcen und Tätigkeiten angewiesen ist, die er nicht selbst zu erzeugen vermag. Kein Kind der Welt könnte allein nach Kriterien der Rentabilität zu einem lebensfähigen Menschen heranwachsen: „Es muss ein dieser Ökonomie Äußeres geben, das als unsichtbar Abgespaltenes kostenlos angeeignet werden kann.“
Der Beitrag der Vielen ist aber noch reichhaltiger: Er umfasst auch die Inwertsetzung ihres Wissens, ihrer Kommunikation und ihrer Daten, zumal in der digitalen Ökonomie. Ein kollektiver Anteil findet sich auch in der privaten Eigentumswohnung im trendigen Stadtteil, wo alltäglich viele dazu beitragen, dass die Umgebung attraktiv ist, während der Eigentümer von steigenden Mieten profitiert. Kollektiv sind auch die Beiträge, die die Patentierung von Saatgut und genetischen Ressourcen ermöglichen, wenn deren Entdeckung und Anwendung auf das Wissen lokaler, oft indigener Bevölkerungen zurückgeht. Und wenn Staaten mit Steuergeldern private Banken und Unternehmen „retten“, sozialisieren sie das unternehmerische Risiko, nicht jedoch die kollektiv erarbeiteten Profite. Dieser einseitige staatliche Interventionismus, der nicht nur bei der Bankenkrise ab 2008, sondern auch bei der Bearbeitung der Folgen der Corona-Pandemie eine zentrale Rolle gespielt hat, ist de facto eine Enteignung von Steuerzahler:innen. Die Beispiele zeigen: Es geht hier nicht um das individuelle Eigentum, das selbst genutzt wird, nicht um das heiß geliebte Rennrad, auch nicht um das Häuschen am Stadtrand oder die wertvolle Plattensammlung. Es geht um Privateigentum, das als Kapital verwertet wird, mit dem also Profite (zum Beispiel Unternehmensgewinne) und Renten (zum Beispiel Mieten und Renditen) abgeschöpft und soziale Kosten externalisiert werden – und zwar zulasten Dritter.
Privateigentum als Verschuldung an der Gesellschaft
Im Lichte dieser Dynamiken entpuppt sich das Privateigentum nicht nur als Privileg Weniger, sondern als Fiktion des individuellen Verdienstes. So konstatiert etwa der Ökonom Thomas Piketty: „Die Idee, es gebe strikt privates Eigentum, hält keiner Analyse stand. Akkumulation von Gütern ist stets Frucht eines sozialen Prozesses. Sie zehrt insbesondere von öffentlichen Infrastrukturen (…), von sozialer Arbeitsteilung und von Erkenntnissen, die von der Menschheit in Jahrhunderten gesammelt wurden.“
Privateigentümer:innen sind Schuldner:innen der Gesellschaft – wenn auch in historisch, kontextspezifisch und individuell unterschiedlicher Weise. Der Verschuldungsbegriff sensibilisiert im Sinne der dreifachen Wortbedeutung von Schulden
Natürlich zahlen Eigentümer:innen Steuern, und ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es eine Frage von Kräfteverhältnissen ist, wie (stark) sie zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen werden. Seit den 1980er Jahren sind in den meisten Ländern des globalen Nordens – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – Unternehmen-, Erbschaft-, Vermögen- und Kapitalertragsteuern substanziell gesenkt oder sogar ganz abgeschafft oder ausgesetzt worden; die Vermögensteuer in Deutschland etwa 1997.
Solidarismus: Vom Privateigentum zum Sozialeigentum
Um nicht nur die im Privateigentum wurzelnde Verschuldung zu begreifen, sondern auch nach ihrer Begleichung zu fragen, ist ein in Deutschland weitgehend unbeachtetes sozialtheoretisches Erbe inspirierend: Der französische Solidarismus erlebte seine Hochphase um die Wende zum 20. Jahrhundert und verfolgte das Ziel, einen dritten Weg zwischen orthodoxem Wirtschaftsliberalismus und marxistischem Sozialismus zu finden.
Zum bekanntesten Vertreter des Solidarismus avancierte der Jurist Léon Bourgeois, Leitfigur des 1901 gegründeten Parti républicain, radical et radicalsocialiste („Republikanische, radikale und radikal-sozialistische Partei“). Mit seiner Schrift „Solidarité“ verlieh er dem Solidarismus politische Kontur: Er griff das Motiv der sozialen Schuld auf und machte es zur Grundlage einer solidaristischen Gerechtigkeitstheorie, mit der sozialpolitische Leerstellen der marxistischen Theorie ausgeleuchtet wurden. Wörtlich heißt es: „Der Mensch wird als Schuldner der menschlichen Assoziation geboren.“
Wiederholt wies Bourgeois darauf hin, dass es unmöglich sei, die Höhe der Schuld individuell zu ermitteln, weshalb seine Antwort auf die ungleiche Verschuldung keine privat-, sondern eine sozialrechtliche ist. Der Solidarismus bietet damit eine starke normative Theorie zur Begründung sozialer Rechte und wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Besteuerung und Umverteilung von Ressourcen sind vor diesem Hintergrund nicht in erster Linie Gaben der „Starken“ an die „Schwachen“, die oftmals – wie die Geschichte der Sozialpolitik zeigt – mit einer Moralisierung von Bedürftigkeit einhergehen. Sie sind vielmehr rechtmäßig zu verlangende Rückzahlungen, da Bedürftigkeit und Vulnerabilität das Ergebnis der „Hinterziehung“ des kollektiven Anteils sind.
Vom privaten Privileg zur Institutionalisierung des kollektiven Anteils
Wie ließe sich für die Größenordnung dieser „Hinterziehung“ sensibilisieren? Zu Recht hat Thomas Piketty in seinem Weltbestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ konstatiert: „Von den Zahlen nichts wissen zu wollen, dient selten der Sache der Ärmsten.“
Ungeachtet der Versuche, die Höhe der sozialen Schuld begreifbar zu machen, ist und bleibt es der Wesenskern des Kapitalismus, von un(ter)bezahlten Beiträgen zu zehren, weshalb diese unter kapitalistischen Verhältnissen auch nicht annähernd kompensierbar sind. Hier liegt die Limitation des Solidarismus: Das Privateigentum wird in seinem hybriden Charakter zwar instruktiv problematisiert, der strukturellen Systematik der „Hinterziehung“ im Kapitalismus aber zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Daten zum kollektiven Anteil haben im Lichte dessen paradoxerweise die Funktion, die im finanziellen und übertragenen Sinne Unbezahlbarkeit des Kollektiven zu unterstreichen, ein diffuses Gefühl der Ungerechtigkeit mit Zahlen zu untermauern und damit Anhaltspunkte für Klassenauseinandersetzungen zu geben. Denn nicht nur die Höhe der Kompensation in Gestalt von „Sozialeigentum“ ist – wie die Geschichte zeigt – eine Frage der Kräfteverhältnisse; von diesen Kräfteverhältnissen hängt auch ab, ob eine Kritik, die das Privateigentum als Privileg Weniger problematisiert, gesellschaftlich (wieder) hörbar wird.
Eine solche Kritik würde nicht nur im Sinne einer Entschädigung fragen, wie sich ein Teil der Schulden rückwirkend begleichen lässt. Sie würde auch die Frage aufwerfen, wie das Privileg der nicht ausgewiesenen privaten Verschuldung an der Gesellschaft aufgebrochen und damit der Antrieb der Verschuldung gestoppt oder zumindest verlangsamt werden kann. Ein Ansatzpunkt ist es, jene gesellschaftlichen Bereiche auszuweiten, in denen nicht das Privateigentum und die Aneignung des Kollektiven durch Wenige, sondern das Prinzip des Bedarfs der Vielen leitend ist. Oder, knapper formuliert: Eine Antwort ist es, kollektive Formen für kollektive Anteile zu finden und diese sukzessive auszubauen. Ein wichtiger Hebel hierfür sind universelle, öffentliche und kollektive Infrastrukturen, etwa in den Bereichen Wasser- und Energieversorgung, Mobilität, Kommunikation, Gesundheit, Wohnen, Bildung und Kultur.
Die Charakterisierung „universell“ zielt auf die allgemeine Zugänglichkeit, unabhängig von individuellen Beiträgen und Vorleistungen; „öffentlich“ adressiert die zentrale Rolle von Staaten und Kommunen bei der Erbringung, Regulierung und Gewährleistung; „kollektiv“ benennt das nicht nur in der Nutzung Geteilte, sondern das gemeinsam Gestaltete – und zielt damit auf konsequente Demokratisierung. Universelle, öffentliche und kollektive Infrastrukturen haben das Potenzial, die Expansion des Privateigentums auszubremsen, den unsichtbar gemachten kollektiven Anteilen eine adäquate kollektive Form zu geben und fundamentale gesellschaftliche Bereiche nicht an Profit und Wettbewerb, sondern an Bedarf und Teilhabe auszurichten.