Auf dem Fußballfeld einer englischen Schule stehen mehrere Kinder in Schuluniform, die meisten von ihnen sind People of Color, einige sind Schwarz. Die Sonne scheint, und alle sehen glücklich aus. Eine Sportlehrerin bereitet ihre Klasse auf ein Rennen vor, was sichtlich für Vorfreude sorgt. Allerdings, so erklärt die Lehrerin, habe dieses Rennen eine andere Logik, andere Regeln: Sie werde ihnen zunächst ein paar Fragen stellen, um die Startpositionen zu bestimmen. Wer eine Frage bejahen kann, darf einen großen Schritt nach vorne gehen. „Das muss ein Scherz sein!“, murmelt ein weißes Kind. Es folgen Fragen zu Lebenserfahrungen und familiären Hintergründen, etwa: „Wenn Englisch die Muttersprache deiner Eltern ist, geh einen Schritt vor“ oder „Wenn du noch nie gefragt wurdest, wo du herkommst, geh einen Schritt vor“ und so weiter. Es sind vor allem die weißen Kinder, die aufgrund ihrer Antworten immer weiter nach vorne gehen dürfen. Sie erkennen, wie einfach das Rennen für sie werden wird – und alle Kinder sind sich einig, dass dieses Rennen nicht fair ist.
Diese Szene aus einer britischen Fernsehdokumentation über eine antirassistisch engagierte Schule zeigt anschaulich, wie weiße Privilegien gesellschaftlich wirken.
Das weiße Privileg ist jedoch nicht nur in solchen vorhersehbaren Situationen erkennbar. Es bestimmt auch alltägliche Situationen, die aufgrund ihrer Banalität nicht unbedingt als rassistische Ungleichheit wahrgenommen werden. Zu solch banalen Situationen gehört etwa, dass Weiße sich sicher sein können, im Laden um die Ecke ein Heftpflaster zu finden, das gut zu ihrer Hautfarbe passt. Solche Situationen verdeutlichen, wie die Gesellschaft bestimmten Personen schleichend Privilegien zuweist, während sie andere als anders markiert und ausschließt.
Unsichtbar und unbewusst?
McIntosh wählte für das weiße Privileg die Metapher des unsichtbaren Rucksacks – was insofern ein merkwürdiges Bild ist, als ein Rucksack eigentlich für eine Belastung steht. Der Rucksack, von dem McIntosh schreibt, ist indes ein Vorteil: Er ist unsichtbar, weil weißen Menschen oftmals gar nicht bewusst ist, dass sie ihn tragen und ihr Leben dadurch einfacher wird. Werden sie damit konfrontiert, denken sie, dass es sich nur um einen Scherz handeln kann, es also nicht der Realität entspricht – genauso, wie es das Kind in dem Film sagt. Viele denken, dass das weiße Privileg ausschließlich mit sichtbaren Diskriminierungen zu tun habe. Das Konzept bezieht sich jedoch vielmehr darauf, dass weiße Menschen nicht den alltäglich benachteiligenden Auswirkungen von Rassismus ausgesetzt sind.
In öffentlichen Äußerungen betont McIntosh häufig, dass der Hinweis auf das weiße Privileg nicht als Beschuldigung zu verstehen sei – handele es sich doch um Situationen, die unbewusst entstehen. Daher sei es auch nicht korrekt, weiße Menschen dafür verantwortlich zu machen. Doch sind weiße Menschen tatsächlich nur „unschuldige Unbeteiligte“ in diesem Prozess? Tragen sie nicht auf individueller und institutioneller Ebene zum Erhalt des weißen Privilegs bei? Dies ist eine der Fragen, die der Erziehungswissenschaftler Zeus Leonardo in den frühen 2000er Jahren aufwarf.
Auch in der deutschen Gesellschaft finden sich zahlreiche Beispiele für Ungleichheiten, die mit aktiven Handlungen und Entscheidungen weißer Deutscher verknüpft sind. Wenn man kein weißer Deutscher ist, kann man in Deutschland beim Einschalten des Fernsehers, beim Durchblättern von Schulbüchern, beim Studieren an der Universität, bei der Jobsuche oder beim Besuch einer Behörde das Gefühl bekommen, die gesamte Gesellschaft sei so gestaltet, als ob man gar nicht existierte. Kultur, Institutionen und Politik spiegeln die Diversität des Landes nicht hinreichend wider, sondern basieren auf der Aufrechterhaltung weißer und männlicher Privilegien. Obwohl deutsche Unternehmer*innen sich über den Fachkräftemangel beschweren, bleiben Jahr für Jahr Menschen mit Migrationshintergrund ohne Ausbildungsplatz. Schüler*innen mit türkischen Namen haben auch bei gleichen Ausgangsvoraussetzungen schlechtere Aussichten, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden.
Leonardo zufolge ist die gesellschaftliche Struktur so gestaltet, weil viele Weiße sie sich so wünschten. Er betont daher, dass das weiße Privileg nicht allein auf Ausschlussmechanismen basiere, sondern ebenso auf Beschlagnahmungen. Die Erfahrung, die Schwarze und People of Color machen, sei so, als ziehe man ihnen auf der Straße das Geld aus der Tasche – um nochmals auf seine Metapher zurückzukommen. Leonardo bezieht sich dabei zwar auf den US-amerikanischen Kontext, aber auch der Wohlstand in Deutschland und Europa, von dem vor allem Weiße profitieren, ist nicht losgelöst von Ausbeutungen und Beschlagnahmungen zu verstehen.
Das gute Leben, das vielen weißen Deutschen heute möglich ist, basiert unter anderem auf dem Erbe kolonialer Ausbeutung, auf Verbrechen im Zweiten Weltkrieg sowie auf billiger und oft prekärer Arbeit, die Migrant*innen seit Mitte der 1950er Jahre als „Gastarbeiter“ geleistet haben. Das Geld in den Taschen ist jedoch nicht nur eine Metapher für den materiellen, sondern auch für den kulturellen Bereich. Hier sei insbesondere an die koloniale Raubkunst erinnert, die stolz in den Museen des Globalen Nordens ausgestellt wird – auch in Deutschland. Wenn wir unseren Fokus vom unsichtbaren Rucksack auf das Geld in den Taschen verlagern, wird deutlich, dass das weiße Privileg durch bewusst vollzogene, alltägliche, institutionelle und politische Handlungen entsteht und aufrechterhalten wird.
Intersektionale Privilegien
Privilegien können sich überlappen, das weiße etwa mit dem männlichen. Aus dieser Beobachtung heraus entwickelte sich mit dem Konzept der Intersektionalität einer der wichtigsten Beiträge des Schwarzen Feminismus. Die Juristin Kimberlé Crenshaw bemühte sich in den frühen 1990er Jahren darum, die spezifischen Diskriminierungserfahrungen Schwarzer Frauen in den USA juristisch fassbar zu machen. Sie beobachtete, dass diese Erfahrungen in Gerichtsverfahren häufig nicht anerkannt wurden.
Die Erfahrungen Schwarzer Frauen auf dem Arbeitsmarkt konnten aber weder ausschließlich als Rassismus noch ausschließlich als Sexismus eingeordnet werden. Viele amerikanische Unternehmen behaupteten in Prozessen, die Schwarze Frauen gegen sie führten, sie hätten bei Einstellungsverfahren nicht rassistisch entschieden und verwiesen darauf, dass ja auch Schwarze Männer an ihren Produktionsbändern arbeiteten. Außerdem behaupteten sie, keine Diskriminierung auf Basis des Geschlechts auszuüben, denn es gebe ja schließlich auch Frauen in ihren Unternehmen. Allerdings waren dies ausschließlich weiße Sekretärinnen. Da es keinen diskursiven Rahmen für die spezifischen Ausschlussmechanismen gegen Schwarze Frauen gab, erkannten die Gerichte die Diskriminierung nicht an. Crenshaw schlug daraufhin das Konzept der Intersektionalität vor – nicht nur als ein wichtiges feministisches Werkzeug, sondern auch als ein juristisches, um die Überlagerung unterschiedlicher Diskriminierungen vor Gericht erkennbar zu machen.
Ähnlich wie andere Konzepte von Diskriminierung beschäftigt sich auch Intersektionalität mit Identität – häufig geht es dabei um die Identität als Schwarze Frau, die Diskriminierung erlebt, einen Job nicht bekommt oder anderweitig ausgeschlossen wird. Das Konzept kann uns aber auch dabei helfen, den Blick auf die Position weißer Männer zu verschieben. Genauso wie sich unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen gegenseitig überlagern und zu einer neuen Form von Diskriminierung führen können, entstehen durch die Überlappung unterschiedlicher Privilegien neue Formen der Vorherrschaft. So kann das weiße Privileg nicht nur mit dem männlichen überlappen, sondern die Liste lässt sich erweitern: um das heterosexuelle Privileg, das Privileg aufgrund des Fehlens einer Behinderung, das Privileg einer bestimmten Klassenzugehörigkeit und weitere mehr. Je mehr Privilegien ein Mensch aufgrund der Überschneidung dieser Merkmale besitzt, desto mehr Respekt genießt er in der Gesellschaft. Mit zunehmenden Privilegien wird er zudem seltener durch Hindernisse ausgebremst.
Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Annahme entsteht das weiße Privileg nicht gänzlich unbewusst, sondern ebenso durch koordinierte Handlungen von Personen, die über dieses Privileg verfügen, sich gegenseitig unterstützen und ihren Wohlstand und ihre Macht mit als anders markierten Menschen nicht zu teilen bereit sind. Sie ziehen eine Linie. Diesen Prozess beschrieb der Soziologe W.E.B. Du Bois bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als color line.
Weiße Emotionen
Wenn weiße Menschen mit ihren Privilegien konfrontiert werden, löst dies oft defensive, abwehrende Reaktionen aus. Auf genau solche intensiven emotionalen Reaktionen verweist das Konzept der weißen Fragilität. Die Erziehungswissenschaftlerin Robin DiAngelo argumentiert, dass diese Fragilität zu starken Schuldgefühlen und Wut führe, was jedoch nicht produktiv sei, da weiße Menschen dadurch letztlich zurückwichen und nicht bereit seien, sich kritisch mit ihrem weißen Privileg auseinanderzusetzen.
Die soziopolitischen Entwicklungen in Europa zeigen jedoch, dass sich die weiße Fragilität immer stärker in Form eines backlash ausdrückt. Dass rechtsradikale Parteien derzeit in vielen europäischen Ländern an Einfluss gewinnen und eine Agenda vorantreiben, die auf Rassismus, einer Ablehnung von Feminismus und Transgender-Rechten sowie einer Nostalgie für das koloniale Zeitalter basiert, kann auch als ein Zeichen dafür gelesen werden, dass das Hinterfragen von Privilegien als Diskurs gesellschaftlich angekommen ist und eben auch unerwünschte politische Reaktionen auslöst. Diejenigen, die heute noch die Diskursmacht innehaben, drohen diese zu verlieren. Sie verwenden nun ihre Positionen und Ressourcen, um die Institutionen und Machtpositionen gegen jene abzuschotten, die es wagen, sie zu kritisieren und ihre Paradigmen zu hinterfragen.
Doch auch Schuldgefühle sind nicht konstruktiv und nicht dazu geeignet, sozialen Wandel voranzutreiben. Zeus Leonardo argumentiert, dass ein weißes Schuldgefühl eine lähmende Wirkung haben kann, was weder Weißen noch People of Color nützt. Es behindere vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen sowie deren Veränderung. Anstatt die Gesellschaft kritisch zu reflektieren, lenke weißes Schuldgefühl die Aufmerksamkeit von Weißen auf eine individuelle Ebene. Sie seien übermäßig besorgt, als rassistisch wahrgenommen werden zu können. Das führe ebenfalls dazu, dass sie sich schließlich zurückzögen. Eine bessere Zukunft könne jedoch nur erreicht werden, wenn auch weiße Menschen den sozialen Wandel aktiv mitgestalten.
Eine bessere Zukunft einfordern
Die Lage ist so komplex, dass es falsch wäre, den Fokus auf die individuelle Ebene zu legen. Erforderlich ist vielmehr kollektives Handeln. Dabei darf es nicht nur darum gehen, bestehende Diskriminierungen zu bekämpfen. Vielmehr müssen auch die weißen (und männlichen) Privilegien dazu genutzt werden, die Gesellschaft zu verändern. Privilegien sollten als Verantwortung gegenüber Menschen verstanden werden, die von strukturellen Ungleichheiten betroffen sind. Wenn weiße Menschen anderen Weißen erklären, welche sozialen und strukturellen Hindernisse People of Color täglich erleben, legen sie bereits den Grundstein für einen möglichen sozialen Wandel. Über Rassismus zu sprechen, ist ebenfalls ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber das allein ist nicht genug.
Der Kampf gegen rassistische Ungleichheit sollte nicht auf der diskursiven Ebene verharren. Die Geschlechterforscherin Sara Ahmed weist beispielsweise darauf hin, dass Institutionen Antirassismus häufig nur als eine Angelegenheit von Gesprächen, Papieren, Dokumenten und Richtlinien verstehen.
Zudem findet der Kampf gegen rassistische Ungleichheit auch auf den Straßen statt: Vor allem weiße Männer können ihre Machtposition einsetzen, wenn People of Color Polizeigewalt erleben oder von Weißen rassistisch angegriffen werden. Sie können laut und zahlreich an antirassistischen Demonstrationen teilnehmen und damit ein Zeichen setzen – auch das kann etwas bewegen. Wir brauchen außerdem eine Politik, die nicht auf Stärke fokussiert, sondern die gegenseitige und fragile Abhängigkeit zwischen „uns“ und „den Anderen“ hervorhebt. Wie ich gemeinsam mit María do Mar Castro Varela in unserem Buch „Post/pandemisches Leben: Eine neue Theorie der Fragilität“ ausgeführt habe, müssen wir lernen, aus den Peripherien auf die Gesellschaft zu blicken und die Peripherien ins Zentrum zu holen.
Die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak spricht sich dafür aus, den Fokus von Konzepten wie Stimme und Identität hin zu Räumen zu verschieben.
Insofern stimme ich mit Spivak überein: Sich über die Räumlichkeiten bewusst zu sein, ermöglicht eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien. Man kann dann anfangen, neue Fragen zu stellen: Wer befindet sich in diesem bestimmten Raum? Ist diese Person weniger privilegiert als ich? Wer fehlt in diesem Raum? Für wen ist die Tür dieses Raumes geschlossen?
Doch wie können wir eine Gesellschaft ohne Privilegien, Diskriminierungen und Ungleichheiten aufbauen? Dazu müssten wir zunächst unsere Identitäten abstreifen – was tatsächlich aber ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang José Esteban Muñoz’ poetische Schriften in Erinnerung rufen.
Trotzdem ist „das hier und jetzt einfach nicht genug“, wie Muñoz schrieb. Wir müssen utopiefähig werden und dürfen unsere Hoffnungen und Zukunftsvorstellungen von einer gerechten Gesellschaft nicht aufgeben. Denn Utopien ermöglichen – sofern sie nicht von Selbstkritik entkoppelt sind – eine Re-Politisierung und eröffnen dadurch Handlungsmacht.